Einleitung
Es gibt Autorinnen und Autoren, die ein Leben lang um eine einzige Frage kreisen – und am Ende eine Antwort finden, die in ihrer Schlichtheit wie in ihrer Tiefe überzeugt. Wolfgang Nethöfel gehört zu dieser Kategorie. Seine große Trilogie Zwischen Kreativität und Schöpfung sowie der ergänzende Roman EUNET bilden ein Werk, das sich kaum einer gängigen Kategorie unterordnen lässt.
Hier spricht kein reiner Theologe, auch kein bloßer Kulturwissenschaftler, Philosoph oder Techniker. Hier schreibt ein Denker, der die Verflechtung all dieser Perspektiven ernst nimmt. Innovation, Regulierung, was Nethöfel selbst “Tiefe Innovation” nennt – eine Innovation, die aus den Tiefenstrukturen des Schöpferischen hervorgeht – und schließlich die literarische Übersetzung in ein Netzroman-Format: all das zeigt einen Menschen, der das Neue nicht nur beschreibt, sondern existenziell durcharbeitet.
Es ist eine Tetralogie, die sowohl wissenschaftliche als auch literarische Formen umfasst. Sie bietet ein intellektuelles Fundament für das Verständnis unserer Gegenwart – und ein spirituelles Kompendium für das Handeln in einer Welt des Umbruchs.
Band I: Innovation. Zwischen Kreativität und Schöpfung I
Der erste Band widmet sich dem Phänomen des Neuen. Nethöfel definiert Innovation als einen integralen Prozess, der Kreativität, Organisation, Verantwortung und Kultur miteinander verbindet. Das Modell des “Zauberwürfels” zeigt: Innovation ist multidimensional. Produkt, Organisation, Kultur und Verantwortung greifen ineinander. Innovation ist kein singuläres Ereignis, sondern eine orchestrierte Bewegung.
Nethöfel betont: Innovation ist ein anthropologisches Grundmuster. Von mythischen Erzählungen bis zu modernen Nanotechnologien spannt er den Bogen. Innovation ist nicht nur ein ökonomisches oder technisches Phänomen, sondern Ausdruck menschlicher Weltgestaltung. Zentral ist die ethische Verankerung: Wirtschaft ist “nur innovativ, wenn sie Wirtschaft für Andere” ist. Innovation ohne Verantwortung bleibt leer. Diese Haltung zieht sich leitmotivisch durch das gesamte Werk.
Band II: Regulierung. Zwischen Kreativität und Schöpfung II
Im zweiten Band richtet sich der Blick auf die Ordnung des Neuen. Regulierung wird nicht als Bremse, sondern als schöpferische Praxis verstanden. Regeln sind Knotenpunkte in Netzwerken aus Macht, Legitimation und Kooperation. Sie entstehen in Kommunikationsprozessen, tragen Verantwortung und Risiko und werden von Beobachtern bewertet. Regulierung eröffnet Räume, in denen Innovation Bestand haben kann.
Besonders prägnant ist Nethöfels Diagnose des Staates: Der Nationalstaat – ein Neuzeitgebilde – wirkt im Anthropozän, dem Zeitalter global vernetzten Einwirkens der Menschheit auf ihre Umwelt, eigentlich überholt. Er bleibt Wächter, wird zugleich aber vorlaufender Netzakteur. Regulierung ist multipolar: Staaten, Märkte, NGOs, Unternehmen und Plattformen teilen sich die Verantwortung.
Regulierung wird als Ausdruck menschlicher Freiheit und Verantwortung gedeutet. In biblischer Perspektive ist sie eng mit Gerechtigkeit verbunden. Nachhaltige Regulierung fragt nicht nur nach Ordnung, sondern auch nach Zukunftsfähigkeit und Überleben.
Band III: Tiefe Innovation. Zwischen Kreativität und Schöpfung III
Bevor Nethöfel diesen Begriff entfaltet, lohnt ein kurzer Hinweis: Mit “Tiefe Innovation” bezeichnet er keine bloße Steigerung der Innovationskraft, sondern eine Bewegung, die aus den Tiefenstrukturen des Schöpferischen selbst hervorgeht – also eine Innovation, die nicht nur Neues hervorbringt, sondern den schöpferischen Prozess als solchen reflektiert.
Der dritte Band ist Synthese und Neuansatz. Tiefe Innovation bedeutet: nicht nur Neues zu schaffen oder Regeln zu setzen, sondern sich an den Tiefenstrukturen des schöpferischen Prozesses zu orientieren. Nethöfel entwickelt vier Prinzipien: Matrix, Rückkopplung, Narrativ und Schnittstelle. Innovation ist fraktal, verläuft in Mustern, Wiederholungen, Rückkoppelungen und Geschichten. Digitale Phänomene wie Blockchain, Bitcoin oder NFTs erscheinen als kulturelle Ausdrucksformen, nicht nur als technische Tools.
Der Band folgt der Logik eines Gründungsprozesses: Infektion, Inkubation, Illumination, Implementierung – und Neubeginn auf einer höheren Integrationsebene. Innovation gleicht einem archetypischen Weg – von Märchenfiguren bis zu Startup-Gründern.
Tiefe Innovation ist Teilhabe am schöpferischen Übergang von Potenzialität in Aktualität. Sie ist ambivalent: Sie kann zerstören oder heilen. In ihr spiegelt sich der Ernst menschlicher Freiheit.
Band IV: EUNET. Ein App-Roman
Mit EUNET betritt Nethöfel literarisches Terrain. Der Roman ist App, Märchen und Denkexperiment zugleich. Charaktere wie Zabaione, Max4U, Empathia, Sherifa oder die 4U-Queen bewegen sich durch ein digitales Labyrinth. Kapitel wie “Im Darknet” oder “EUNET-ZIP” spiegeln die fragmentarische Logik der digitalen Welt wider. Der Roman folgt nicht linearer Erzählweise, sondern modularer Logik. Er ist ein Spiegelkabinett, in dem wir Mechanismen des Digitalen erkennen. Wie Alice im Wunderland oder Flächenland ist EUNET ein Experimentierraum für eine veränderte Wahrnehmung.
EUNET ist zugleich Gleichnis. Es zeigt die digitale Matrix als Gefängnis und als Ort der Befreiung. Archetypische Figuren und narrative Schleifen spiegeln die conditio humana im Netz wider. EUNET übersetzt die Theorie der Trilogie in literarische Form. Was zuvor als Prinzip entfaltet wurde, erscheint hier als Figur, Szene oder Spiel. Die Trilogie erhält damit eine poetische Schwester: Die Theorie wird zum Narrativ.
Vielleicht deutet sich hier bereits ein nächster Schritt an: die literarische Integration technischer Reflexion in eine spirituelle Tiefenerzählung, die noch stärker dialogisch angelegt sein könnte.
Übergreifende Leitmotive
In allen vier Werken bleibt Nethöfel Theologe. Doch seine Theologie ist keine Dogmatik, sondern eine Reflexionsform, die andere Disziplinen integriert. Sie öffnet Horizonte, statt sie zu schließen. Innovation und Regulierung erscheinen nicht als Gegensätze, sondern als komplementäre Bewegungen. Tiefe Innovation zeigt ihre verborgene Verbindung, EUNET erzählt sie als literarisches Spiel.
Die Tetralogie ist auch eine Anthropologie. Der Mensch erscheint als Wesen, das Neues hervorbringt, ordnet und in Geschichten verankert. Mythen, Märchen, Technologien und Netzwerke sind Ausdruck desselben Grundmusters.
Nicht jede These Nethöfels wird Zustimmung finden; gerade seine Verbindung theologischer Anthropologie mit technologischer Systemtheorie fordert Leserinnen und Leser heraus – und genau darin liegt ihre produktive Kraft.
Persönliche Reflexion
Als jemand, der in den 1980er-Jahren bei Wolfgang Nethöfel Sozialethik studieren durfte, lese ich diese Tetralogie mit tiefer Resonanz. Schon damals lehrte er uns, Theologie nicht als abgeschlossenes System zu begreifen, sondern als offene Praxis im Gespräch mit Gesellschaft, Technik und Kultur. Die vier Werke führen diese Haltung konsequent weiter. Sie verbinden wissenschaftliche Strenge, narrative Sensibilität und spirituelle Tiefe. Für mich ist es eine Freude und ein Geschenk, diesem Lehrer nun in einer literarisch-philosophischen Tetralogie wieder zu begegnen.
Abschließende Würdigung
Wolfgang Nethöfels Tetralogie ist ein intellektuelles Vermächtnis. Sie umfasst die Theorie der Innovation und Regulierung, die Prinzipien für Tiefe Innovation – und sie wagt mit EUNET die literarische Transformation. Es ist ein Werk, das die großen Fragen unserer Zeit stellt: Wie entsteht Neues? Wie wird es geordnet? Welche Tiefenstrukturen bestimmen unser Handeln? Und wie spiegeln sich all diese Prozesse in unseren digitalen, kulturellen und spirituellen Welten wider?
Die Antwort ist ebenso klar wie anspruchsvoll: Innovation ist Teilhabe am Schöpfungsprozess – frei, verantwortlich und gemeinschaftlich. Regulierung ist ihre Schwester, Tiefe Innovation ihr Resonanzraum, EUNET ihre Erzählung.
Damit hat Wolfgang Nethöfel ein Werk geschaffen, das Wissenschaft und Literatur verbindet und darüber hinaus – hoffentlich – unsere Generation inspirieren wird, die Zukunft schöpferisch und verantwortungsvoll zu gestalten.
Literaturangabe
Wolfgang Nethöfel: Innovation (3.Aufl.) (Band 1). Cuvillier, Göttingen 2025. ISBN 978-3-68952-776-1
Wolfgang Nethöfel: Regulierung (Band 2). Cuvillier, Göttingen 2025. ISBN 978-3-68952-778-5
Wolfgang Nethöfel: Tiefe Innovation (Band 3). Cuvillier, Göttingen 2025. ISBN 978-3-68952-780-8
Wolfgang Nethöfel: Eunet (Band 4). Cuvillier, Göttingen 2025. ISBN 978-3-68952-782-2
Über Burkhard Hanke

Burkhard Hanke (geb. 1963) ist evangelischer Theologe, Leadership-Experte und Mitgründer des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik (DNWE). Mit über 30 Jahren internationaler Erfahrung in HR, Leadership und Nachhaltigkeitsmanagement verbindet er ökonomische Perspektiven mit ethischer Verantwortung. Sein Motto: Zuversicht ist die beste Sicht.
Über Wolfgang Nethöfel

Wolfgang Nethöfel (geb. 1946) lehrte nach einem Studium der Theologie, Philosophie, Literatur- und Sprachwissenschaft Sozialethik in Marburg. In Innovations-, Beratungs- und Schulungsprojekten arbeitet er auch als Gestalttherapeut und Mediator. Er lebt in Frankfurt und ist dort engagiert präsent in der Evangelischen Hoffnungsgemeinde, in der „Werkstatt Bahnhofsviertel“ – und als Autor. Sein Lebensthema ist Orientierung im Epochenwechsel.
Zuletzt veröffentlicht:
Innovation (3.Aufl.)
Regulierung
Tiefe Innovation
Eunet. Ein App-Roman
(Zwischen Kreativität und Schöpfung I-IV)
Alle: Göttingen: Cuveillier Verlag 2025
https://cuvillier.de/de/shop/people/65075-wolfgang-nethofel
HINWEIS:
Bitte beachten Sie auch:
Wolfgang Nethöfels Rezension
Knallhart empathisch – Zwischen Haltung und System. Über Burkhard Hankes Ethik der Führung







