Wie schaffen wir den Bürokratieumbau? Im WZGE-Dialog hatten wir dazu u.a. mit Thomas de Maizière diskutiert. Jetzt hat die von ihm mitbegründete Initiative “Handlungsfähiger Staat” ihre Empfehlungen präsentiert. Bessere Regeln verlangen demnach nicht nur effektivere Prozesse in Politik und Verwaltung. Sie erfordern auch einen Mentalitätswandel in der Gesellschaft. Denn: So bequem es ist, das Bürokratieproblem auf Parteien und Behörden abzuwälzen – das “Überangebot” an Regeln hat auch etwas mit der “Nachfrage” zu tun. Was wir selbst ändern müssen, damit wir handlungs- und fortschrittsfähig bleiben.
Es wird derzeit viel gestritten in Deutschland. Aber bei einem Thema besteht Einigkeit – unsere Bürokratie braucht dringend Reformen. Zu viel Regulierung, zu hohe Kosten, zu wenig Effizienz: Der Umfang der Bundesgesetzgebung ist seit 2010 um 60 Prozent angewachsen (auf 39.536 Normseiten). Die jährlichen Bürokratiekosten liegen bei knapp 150 Mrd. Euro (etwa 3,5% des Bruttoinlandsprodukts). Und im internationalen Wettbewerbsranking belegt Deutschland bei der Bürokratie Platz 46 von 67 (hinter Ländern wie China, Botswana und Nigeria).
Ging es 2006 noch um das “Erste Bürokratieabbaugesetz”, bemühen Bürokratiekritiker heute Analogien zur “Kettensäge” oder “Abrissbirne”. Für eine wirksame Bürokratiewende stellt sich jenseits rhetorischer Überbietungen die Frage: Wenn das Problem seit über 20 Jahren erkannt ist – woran scheitert eigentlich die Lösung? Warum besteht nach sechs (!) Bürokratieabbau- und Bürokratieentlastungsgesetzen unter fünf (!) Regierungen unverändert Handlungsbedarf?
Die Initiative “Handlungsfähiger Staat” weist auf einen tiefgreifenden Widerspruch hin: In Deutschland haben Erwartungen an einen kümmernden, vorsorgenden und entlastenden Staat eine lange Tradition. In der Vergangenheit gingen sie einher mit einer grundsätzlichen Akzeptanz staatlicher Autorität als ordnende Kraft. Dieses Gleichgewicht kippt zunehmend:
Einerseits nehmen die Erwartungen an staatliche Fürsorge und Risikoabsicherung weiter zu. Der Staat soll (1) mehr Menschen mehr Rechte einräumen: für Junge, Alte, Beschäftigte, Unbeschäftigte, Inländer, Ausländer, Mehrheiten, Minderheiten, alte und neue Industrien etc. Er soll (2) Rechte immer präziser klären und besser absichern. Und er soll gleichzeitig (3) Rechte bei wahrgenommenen Bedrohungen konsequenter beschneiden, Stichworte Migration und innere Sicherheit, Privatsphäre und Datenschutz oder Meinungsfreiheit und Desinformation. Das führt zu Konflikten: Bürokratie wird akzeptiert, solange sie anderen etwas zur Sicherung eigener Rechte abverlangt. Und sie wird abgelehnt, wo sie mit eigenen Zumutungen zur Gewährleistung der Rechte anderer einhergeht.
In der Folge nimmt andererseits die Akzeptanz staatlicher Institutionen und Handlungen stetig ab. Maßnahmen werden immer weniger als ordnend und stattdessen als übergriffig empfunden – mit der Folge wachsender Widerstände bis hin zu offener Gewalt gegen Repräsentanten und Maßnahmen des Staates.
Zugespitzt formuliert: Der Staat soll Probleme lösen, die er aber nicht ohne Akzeptanz der Menschen lösen kann. Schließlich geht auch Bürokratieumbau nicht ohne Zumutungen: Sonderrechte sollen gestrichen werden, beschleunigte Verfahren erhöhen Risiken, neue Technologien – Stichwort KI – führen zu Verunsicherungen und neuen Konflikten. Und vor allem: Der Umbau muss selbst bürokratisch umgesetzt werden.
Wie schaffen wir trotzdem den Bürokratieumbau? Konkrete Maßnahmenvorschläge für Regierung und Verwaltung sind zwingend notwendig. Allein sind sie aber nicht ausreichend. Ihre Wirksamkeit hängt davon ab, inwieweit Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und andere Akteure mitmachen.
Deshalb unterstreicht die Initiative “Handlungsfähiger Staat” den Wert des Vertrauens: “Ein handlungsfähiger Staat begegnet Bürgerinnen und Bürgern und Unternehmen mit einem Vertrauensvorschuss.” Das klingt gut und angemessen. Faktisch ist der Vertrauensvorschuss aber nicht zum Nulltarif zu haben.
Wer anderen vertraut, macht sich verletzbar – und erwartet, dass diese Verletzbarkeit nicht ausgenutzt wird. Heißt im Klartext: Wer anderen Vertrauen schenkt, mutet ihnen Verantwortung zu. Wer umgekehrt Vertrauen einfordert, muss Verantwortung anbieten. Wenn der Staat also Bürgern und Unternehmen für weniger Bürokratie mit mehr Vertrauen begegnen und weniger regeln soll, dann muss er davon ausgehen können, dass sich Bürger und Unternehmen auch mehr Verantwortung zumuten wollen. Und: Dass sich Bürger, Unternehmen und Dritte auch untereinander mehr Verantwortung zutrauen.
Das erfordert im Wortsinne Mut zu drei Perspektivwechseln in der deutschen Verantwortungsmentalität:
- “Wie lösen wir das gemeinsam?” statt “Kultur des Zuständigkeitsdenkens”: Von der Klassengemeinschaft in der Schule über die Kommune bis zum Bundeskabinett – wenn wir mit weniger verordneter Bürokratie auskommen wollen, müssen wir mehr Entscheidungen miteinander, vor Ort, in der Diskussion verhandeln, anstatt sie an die nächste Ebene zu delegieren (“Da muss sich die Schule/die Stadt/der Staat mal drum kümmern!”). Das ist unbequemer, kostet Zeit und erfordert Fehlertoleranz. Aber je mehr und je weiter nach oben delegiert wird, umso weniger können bürokratische Lösungen den Bedürfnissen und Bedingungen vor Ort Rechnung tragen – mit der Folge geringerer Effizienz, längerer Prozesse und höherer Kosten.
- Mindeststandards statt Perfektion: Komplexe Verfahren und hohe Dokumentationspflichten sind meist die Folge des Anspruchs nach perfekter Regelung jedes Einzelfalls. Weniger Bürokratie erfordert deshalb mehr Verständigung auf Mindeststandards, die notwendige Grenzen definieren, aber Raum für pragmatische Lösungen lassen. Das setzt allerdings auch mehr Akzeptanz für unterschiedliche Lösungen und Entscheidungen (in vergleichbaren Fällen) voraus – in Schulen, Kommunen, Betrieben etc. Und vor allem: Das Zugeständnis von Entscheidungsspielräumen auch ohne detaillierte Kriterien.
- Bedingte Risikobereitschaft statt unbedingter Abwehr jeglicher Gefahr: Je umfassender und tiefer wir Gefahren präventiv vermeiden wollen, umso mehr Regeln sind dafür notwendig. Weniger Bürokratie verlangt deshalb auch mehr Bereitschaft zum kalkulierten Eingehen von Risiken. Denn: Vertrauen ist qua Definition eine riskante Vorleistung. Es wird immer Akteure geben, die andere vorsätzlich oder fahrlässig schädigen. Wir müssen entscheiden, ob wir ihretwillen möglichst eng kontrollieren und vorsorglich allen höhere Bürokratielasten (und -kosten) aufbürden. Oder, wie von der Initiative vorgeschlagen, auf Basis von Stichproben nachträglich individuell umso härter sanktionieren und “Trittbrettfahrer” in bestimmten Grenzen aushalten.
Ein erfolgreicher Bürokratieumbau ist keine Einbahnstraße: Auf Seiten des Staates erfordert er effektivere Politik- und Verwaltungsansätze. Sie können aber nur mit einem Mentalitätswandel bei den Adressaten greifen. Ohne Bereitschaft zur gegenseitigen Zumutung von, oder besser: gegenseitigem Mut zu mehr Verantwortung, weniger Perfektion und bedingten Risiken greift der Vertrauensvorschuss ins Leere. Umgekehrt gilt aber: Je geringer das Vertrauen, umso höher der Kontrollbedarf. Und solange “Kontrolle” grundsätzlich als beste Option wahrgenommen wird, kann kein Bürokratieumbau gelingen.
Verschiedene Empfehlungen der Initiative “Handlungsfähiger Staat” wurden von der Bundesregierung bereits aufgegriffen. Einen Mentalitätswandel kann die Politik nicht verordnen. Er muss vor Ort anfangen. In der Kommune, im Betrieb, im Verein, der Schule, der Hausgemeinschaft – bei uns.
HINWEIS:
Der Text erschien als aktueller Standpunkt unter:
https://wcge.org/de/veroeffentlichungen/wzge-standpunkt/aktuelles/806-kontrolle-ist-gut-vertrauen-ist-besser
Die Autoren
Dr. Martin von Broock
Dr. Martin von Broock (Jahrgang 1975) studierte Betriebswirtschaft, Politik, Publizistik und öffentliches Recht in Göttingen. Nach seinem Abschluss als Dipl.-Sozialwirt (2001) arbeitete er mehrere Jahre in einer internationalen Kommunikations- und Politikberatung für Unternehmen und Verbände aus den Branchen Finanzen, Immobilien und Energie sowie verschiedene Bundes- und Landesministerien. 2011 schloss er seine Promotion am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL Leipzig Graduate School of Management ab. Seit 2012 ist er Mitglied des Vorstands am Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik (WZGE), seit 2014 dessen Vorsitzender. Für Branchen, Unternehmen und ihre Stakeholder entwickelt er national und international Dialogprozesse und Projekte, die sich mit der moralischen Qualität der Marktwirtschaft, unternehmerischer Verantwortung und werteorientierter Führung befassen.
Prof. Dr. Andreas Suchanek
Prof. Dr. Andreas Suchanek ist Inhaber des Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL-Leipzig Graduate School of Management und Vorstandsmitglied des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik. Er studierte VWL an den Universitäten Kiel und Göttingen. Wichtigste Veröffentlichungen: Ökonomische Ethik, Tübingen 20072, Unternehmensethik. In Vertrauen investieren, Tübingen 2015