Beiträge aus der Forum Wirtschaftsethik Jahresschrift 2016

Timo Meynhardt

Die Klage, dass es an Solidarität mangele, ist schnell erhoben – sei es unterlassene Hilfeleistung bei einem Überfall in der U-Bahn, fehlende Unterstützung der Opfer einer Naturkatastrophe oder von Flüchtlingen aus einem Kriegsgebiet. Solidarisch unterstützendes Verhalten ist eben oft keine Selbstverständlichkeit. Es geht dabei immer um menschliche Verhaltensweisen, die auf gegenseitige Unterstützung, Zusammengehörigkeit in Gruppen und auf das Gefühl zielen, sich aufeinander verlassen zu können.

Solidarität hat also etwas mit gegenseitiger Abhängigkeit, Verbundenheit und Zusammenhalt zu tun. Der Solidaritätsbegriff beschreibt letztlich einen wichtigen Teilaspekt in sozialen Beziehungen: die Qualität der gegenseitigen Bindung, die auf Mitgefühl und Anteilnahme beruht. Er dient damit offenkundig an ganz unterschiedlichen Orten als Chiffre für ein breites Spektrum helfenden Verhaltens. Er ist im Grunde auch ein Krisenbegriff, weil er immer dann wieder aktuell wird, wenn zwischenmenschliche Beziehungen im Kleinen wie im Großen hinterfragt werden und aus Sicht der Beteiligten das Zusammenleben leidet.

 

Eine Beobachtung

Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist der erste GemeinwohlAtlas Deutschland 2015 (www.gemeinwohlatlas.de). Der Atlas zielt darauf, die Beiträge zum Gemeinwohl einzelner Unternehmen und Organisationen sichtbar zu machen. Der Beitrag zum Gemeinwohl bezeichnet dabei den Wertbeitrag und Nutzen, den eine Organisation für ein Gemeinwesen erbringt.

In der aktuellen Forschung wird diese Art von gesellschaftlicher Wertschöpfung als Public Value gefasst. Ein solcher “wird erst dann geschaffen oder zerstört, wenn das individuelle Erleben und Verhalten von Personen und Gruppen so beeinflusst wird, dass dies stabilisierend oder destabilisierend auf Bewertungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, das Gemeinschaftserleben und die Selbstbestimmung des Einzelnen im gesellschaftlichen Umfeld wirkt” (Meynhardt 2008, S. 462).

Die Diskussion um Gemeinwohlbeiträge, gemessen als Public Value, berührt auch die Frage nach solidarischem Verhalten als wichtiger Facette des Zusammenhalts. Dem lateinischen Stamm des Wortes ‘solidus’ folgend zielt solidarisches Verhalten immer auf eine Verfestigung im Sinne eines Zusammenhalts. Oder sehr vereinfacht: mehr Solidarität = mehr Zusammenhalt.

Die Studie fragt zwar nicht direkt nach solidarischem Verhalten, aber in der Dimension “Zusammenhalt” kommt dieser Aspekt dennoch ganz wesentlich zur Geltung. Insgesamt wurden für den GemeinwohlAtlas bevölkerungsrepräsentativ fast 8000 Personen zum Gemeinwohlbeitrag von 127 bundesweit bekannten Institutionen befragt. Einbezogen wurden u. a. DAX-Unternehmen, NGOs, Familienunternehmen, Medien, große Fußballklubs und auch öffentliche Einrichtungen beziehungsweise staatliche Institutionen. Der Gemeinwohlbeitrag wurde in den Bereichen “Aufgabenerfüllung” (“leistet im Kerngeschäft gute Arbeit”), “Zusammenhalt” (“trägt zum Zusammenhalt in Deutschland bei”), “Lebensqualität” (“trägt zur Lebensqualität in Deutschland bei”) und “Moral” (“verhält sich anständig”) eingeschätzt.

Bemerkenswert ist nun, dass die Bewertungen für den Beitrag zum “Zusammenhalt in Deutschland” – von wenigen Ausnahmen abgesehen – von allen vier Dimensionen am niedrigsten ausfallen. Man könnte diesen empirischen Fakt kleinreden und argumentieren, dass der Zusammenhalt in einer Gesellschaft nicht (allein) über deren Organisationen und Unternehmen vermittelt wird und eher andere Bindungskräfte wirken und für sozialen Zusammenhalt sorgen (sollten). Vielleicht ist es auch zu viel verlangt, wenn man nach dem Beitrag zum Zusammenhalt in Deutschland als Land fragt, wenn eher lokale Wirkungen in Städten und Gemeinden im Vordergrund stehen. Wenn dem so wäre, müsste die Dimension “Beitrag zur Lebensqualität in Deutschland” ebenso weit hinten liegen, was aber so nicht bestätigt werden kann. Hinzu kommt, dass alle untersuchten Organisationen bundesweit bekannt sind und somit auf nationaler Ebene auf das kollektive Bewusstsein einwirken. Der Beitrag zum Zusammenhalt auf Bundesebene ist daher immer auch relevant.

Es könnte aber ebenso sein, dass – aus welchen Gründen auch immer – uns der Sinn für das Verbindende (sensus communis) verlorengegangen ist oder die Rolle der Organisationen und Unternehmen als Reproduktionsmechanismus unseres Gemeinwesens eher unterschätzt wird. Sicher gibt es auch noch andere Erfahrungen als die erlebte gegenseitige Unterstützung, die die Wahrnehmung des Zusammenhalts prägen können (z. B. kollektive Identität, Abwertung anderer Gruppen, gemeinsame Herausforderungen). Allerdings ist solidarisches Verhalten eine wichtige Quelle des sozialen Zusammenhalts, es erhält und fördert diesen. Insofern spiegelt sich in der Dimension “Zusammenhalt” auch gelebte und erlebte Solidarität.

Der GemeinwohlAtlas kann aus methodischen Gründen keine Antworten auf die Motive der Befragten geben. Deren Hintergrundannahmen bleiben bei solchen Erhebungen stets im Dunkeln. Im Folgenden werden daher eher theoretische Zugänge in den Blick genommen, die den Weg zur psychischen Realität bahnen, in der sich die vorgenannten Bewertungen aufbauen und Eingang in das Denken, Fühlen und Handeln finden.

Betrachten wir zunächst, welche Grundbedürfnisse solidarisches und damit Zusammenhalt förderndes Verhalten bewirken können. Darauf aufbauend soll die psychologische Mikroebene in Zusammenhang mit einer soziologischen Makroebene gebracht werden. Daraus ergibt sich insgesamt ein differenzierter Blickwinkel, der auch für die Praxis neue Perspektiven bereithält.

 

Menschliche Grundbedürfnisse als Basis solidarischen Verhaltens

In soziobiologischer und evolutionstheoretischer Sichtweise wird auf eindrückliche Weise argumentiert, dass und wie unterstützendes und selbstaufopferndes Verhalten Überlebensvorteile für die eigene Gruppe (Art) ermöglicht, indem die Reproduktion der entsprechenden Gene gesichert wird (Dawkins 1976/2016; Wilson 1975/2000). Ebenso kraftvoll erweisen sich andererseits Argumente, die helfendes Verhalten sehr viel stärker als Produkt gesellschaftlicher Prägung und kultureller Entwicklung erklären (Campbell 1975; Freud 1930/2013).

Vor dem Hintergrund dieser großen Debatten um evolutionär erworbene und kulturelle geprägte Einflussfaktoren (“Nature vs. Nurture”) werden in der psychologischen Forschung menschliche Grundbedürfnisse angenommen, in denen sich diese Einflussfaktoren in der psychischen Realität des Einzelnen manifestieren und zu “prosozialem Handeln” oder “altruistischem Verhalten” führen können. Dahinter steht die Annahme, dass jedes Handeln explizit oder implizit immer in Zusammenhang mit individuellen Bedürfnisstrukturen steht.

Für unser Anliegen bietet sich insbesondere die “Cognitive-Experiential Self-Theory” von Seymour Epstein an (2003, 1993). Auf Basis einer ausführlichen Analyse der wichtigsten Motivationstheorien des 20. Jahrhunderts werden dort übergreifende Grundbedürfnisse systematisiert, deren Befriedigung für den Einzelnen kein Luxus, sondern funktional wichtig ist (Grawe 1998).

In Tabelle 1 werden auf der linken Seite die vier auch im gegenwärtigen Forschungsstand gut verankerten Grundbedürfnisse benannt. In der mittleren Spalte werden sie in Bezug zu psychologischen Mechanismen der Vermittlung und Aktivierung gesetzt (Meynhardt 2004). In der rechten Spalte werden diese auf grundlegende Wertdimensionen bezogen (Meynhardt 2009, 2015).

 

Grundbedürfnis nach … Mechanismen der Vermittlung und Aktivierung Relevante Wertdimension
… Selbstwerterhalt und -steigerung Streben nach positivem Selbstbild und stimmigem Person-Umweltbezug

Gefühl eines hohen Selbstwertes aufgrund einer Bewertung der eigenen Person anhand individueller und sozialer Vergleichsmaßstäbe

moralisch-ethisch
… Lustgewinn/Unlustvermeidung Streben nach positiven und Vermeiden von negativen Emotionen

Erlebte „Funktionslust“ und Flow-Erfahrungen, durch aktives Handeln erzielte Selbstwirksamkeit

hedonistisch-ästhetisch
… Orientierung und Kontrolle Streben nach Regelhaftigkeiten, „Welterkenntnis“, Vorhersagenmöglichkeiten, d. h. Bedürfnis, etwas besser verstehen zu wollen

Auf Kontrollüberzeugungen beruhende Wahrnehmung, den eigenen Handlungsspielraum erhalten und ausbauen zu können

instrumentell-utilitaristisch
… positiven zwischenmenschlichen Bindungen Streben nach Zugehörigkeit, Nähe und sozialer Akzeptanz

Beziehungserfahrungen, in denen soziale Eingebundenheit und gegenseitige Nähe und Distanz erlebt wird

politisch-sozial

Tabelle 1: Vier menschliche Grundbedürfnisse und Wertdimensionen

 

1. Das Bedürfnis nach Selbstwerterhalt beziehungsweise -steigerung fokussiert auf die Wahrnehmung als Person und damit als Individuum. Diese Wertung wird als moralisch-ethisch bezeichnet, weil sie im sozialen Umfeld den Bewertungsaspekt thematisiert, inwiefern eine Handlung oder Entscheidung zu mehr Gleichheit oder Ungleichheit führt beziehungsweise ob etwas für alle Menschen (in einem selbst definierten Rahmen) gilt oder nicht. Moralisch wertvoll (“anständig”) ist eine Handlung immer dann, wenn das eigene Gerechtigkeitsempfinden nicht verletzt, sondern bestätigt oder gar gestärkt wird. Erlebt jedoch eine Person eine Diskrepanz zu dem, was sie als angemessen, gerecht oder fair betrachtet, wird das emotional-motivational verankerte Empfinden gestört und die Abweichung als “unanständig” oder “unmoralisch” eingestuft. In jedem Fall erfolgt diese Wertung immer mit Bezug auf das Selbstverständnis als Person – also auf Basis des Selbstkonzepts und des Selbstwertgefühls. Auf gesellschaftlich-kollektiver Ebene angesiedelte Werte wie Menschenrechte, Menschenwürde oder Autonomie des Einzelnen sind demnach ganz wesentlich moralisch-ethische Werte. Sie versuchen zu bestimmen, was eine Person als Mensch ausmachen sollte, wenn deren Individualität und Selbstverständnis angesprochen sind. Mit Blick auf unser Thema ergibt sich eine spezifische Motivation, anderen zu helfen: Jemand zeigt sich dann solidarisch, wenn durch den Einsatz für moralisch “richtige” Werte der eigene Selbstwert erhalten oder gar gesteigert werden kann.

2. Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung zielt zunächst ganz allgemein auf die Vermeidung von Schmerz und auf positive Erfahrungen. Dieses evolutionär tief verankerte Bedürfnis ist auf Überleben und Existenzsicherung als Organismus gerichtet, entwickelt sich in der kulturellen Überformung zu Genussbedürfnissen bis hin zum Bedürfnis nach ästhetischen Erfahrungen. Damit zielt dieser grundlegende Wertungsgesichtspunkt auf hedonistisch-ästhetische Werte, zum Beispiel Sicherheit, Schönheit, Spaß, Freude oder ganz allgemein auf Wohlbefinden und Glückserfahrungen, welche auch auf kollektiver Ebene mannigfaltigen Ausdruck finden. In dieser Hinsicht kann solidarisches Verhalten ebenso positive Erfahrungen schaffen, mit einer Funktionslust verbunden sein und Freude machen. Hinzu kommen auch die durch solidarisches Verhalten vermiedenen Bestrafungen, wie zum Beispiel Schuld- und Schamgefühle. Nicht zuletzt ist es auch eine negative Erfahrungen vermeidende Motivation, anderen zu helfen, um selbst einer schwierigen Situation zu entkommen.

3. Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle im eigenen konzeptionellen System drückt in den Worten von Epstein aus, dass Menschen danach streben, ihren Handlungsspielraum zu erhalten beziehungsweise zu vergrössern. Damit einher geht das Bedürfnis, sich in der Umwelt orientieren zu können und diese in ihren Zusammenhängen zu verstehen. Eine Handlung unter diesem Gesichtspunkt zu bewerten, bedeutet dann, ihre Nützlichkeit für die Erreichung eines Zieles einzuschätzen. Gegenstand der Wertung ist eine Zweck-Mittel-Relation. Im Mittelpunkt steht also ein instrumentell-utilitaristischer Wertaspekt. Bezogen auf solidarisches Verhalten heißt das: Wir gewähren anderen Hilfe und Unterstützung, um uns selbst etwas Gutes zu tun oder Schlechtes zu vermeiden. Solche selbstbezogenen Belohnungen reichen von materieller Zuwendung, Ehre und Stolz, aber auch Selbstwertsteigerung, Steigerung des Wohlbefindens bis hin zu Erlösungsversprechen.

4. Das Bedürfnis nach positiven zwischenmenschlichen Bindungen thematisiert die “soziale Natur” des Menschen. Im Vordergrund steht nicht das Bedürfnis nach Anerkennung als Person in seiner moralisch-ethischen Qualität, sondern es bezieht sich auf Wertungen der sozialen Beziehungen. Damit wird der Fokus auf das Erlebnis von Gruppenzugehörigkeit und den damit verbundenen Erfahrungen gerichtet. Der dominante Bewertungsgesichtspunkt ist in dieser Sicht ein politisch-sozialer; er thematisiert Werte wie soziale Unterstützung und Kooperation, aber auch Macht, Statusgefühl und Gruppenidentität.
Solidarisches Verhalten ist dann ein Mittel zur Aufrechterhaltung beziehungsweise Stärkung des individuell bedeutsamen Sozialverbandes (z. B. Ehe, Familie, Team, Unternehmen). Diese Favorisierung der In-Group kann dann auch schnell zur Diskriminierung anderer Gruppen (Out-Group) führen.

Wir halten fest: Solidarisches Verhalten kann ganz unterschiedlich motiviert sein und bewertet werden. Der individuelle “Wert” bemisst sich daran, welche individuellen Bedürfnisse berührt werden. Solidarisches Verhalten erfüllt aus psychologischer Sicht unterscheidbare Funktionen, die als einzelne Solidaritäten gekennzeichnet werden sollen:

  • moralisch-ethische Solidarität
  • hedonistisch-ästhetische Solidarität
  • instrumentell-utilitaristische Solidarität
  • politisch-soziale Solidarität

So kann eine Person sich solidarisch mit Kollegen zeigen, weil “es sich so gehört”, weil es ihr eine Freude ist, weil sie damit noch eine andere Absicht verfolgt oder weil sie das Zusammengehörigkeitsgefühl im Team stärken möchte.

Bezieht man diese psychologischen Differenzierungen auf das Verhalten einer Organisation, ist zu fragen: Für welche Solidaritäten steht eine Organisation? Wird kooperativ-unterstützendes Verhalten zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe als moralisch geboten, politisch opportun und/oder nutzenorientiert bewertet? Wie unterscheiden sich hier Selbst- und Fremdbild? Eine entsprechende Reflexion erscheint sinnvoll, um die Wirkungen eigenen Handelns im sozialen Umfeld besser antizipieren zu können. Genau darum geht es, wenn man letztlich den Beitrag zum Gemeinwohl in der Dimension Zusammenhalt steigern möchte. Auch hier gilt: Entscheidend ist, was ankommt.

Damit verbindet sich dann auch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen der einzelne Bürger beziehungsweise die allgemeine Öffentlichkeit entsprechende Verhaltensweisen einer Organisation überhaupt nachvollziehen kann und in den Kontext von Zusammenhalt und Gemeinwohl stellt. Wenn dies nicht gelingt oder der “Faden reißt”, leidet der Public Value einer Organisation, denn: “Public Value is what the public values.”

 

Solidaritäten in Gemeinschaft und Gesellschaft

Es liegt nahe, dass in familiären Strukturen andere Mechanismen am Werk sind und unterstützendes Verhalten bewirken als in unpersönlichen, abstrakten Beziehungen wie etwa in einer “Versicherungsgesellschaft” oder der “Europäischen Union”. Allerdings ist auch ein Versicherungsunternehmen oder der europäische Staatenbund auf eine funktionierende Solidarität zwischen den Mitgliedern angewiesen, um den Zusammenhalt und damit das Überleben zu sichern.

Eine zentrale Frage betrifft jeweils die Beziehungs- und Bindungsformen zwischen dem Einzelnen und den mehr oder minder nahen Gruppen, Kollektiven beziehungsweise Sozialformen. Ohne eine differenzierte Kenntnis der beteiligten psychologischen Prozesse und Mechanismen sind die Möglichkeiten und vor allem auch Grenzen der Einflussnahme schwer abschätzbar.

Besonders aufschlussreich erweist sich gerade in der heutigen Zeit die Arbeit von Ferdinand Tönnies, einem Wegbereiter der modernen Soziologie. Mit seinem Dualismus von “Gemeinschaft” und “Gesellschaft” stellt er noch immer eines der attraktivsten Theorieangebote bereit, um das spannungsgeladene Nebeneinander zweier grundsätzlich verschiedener “Verbundenheiten” im Sinne beziehungsstiftender Mechanismen zu fassen.1

Tönnies’ zentrale sozialtheoretische Idee ist, dass ein Gemeinwesen sich immer durch zwei komplementäre Mechanismen organisiert, aufrecht erhält und weiter entwickelt. Es wird einmal als “reales und organisches Leben begriffen – dies ist das Wesen der Gemeinschaft, oder als ideelle mechanische Bildung – dies ist der Begriff der Gesellschaft.” (Tönnies 1979/2005, S. 3)

Auch wenn es heute antiquiert klingt: “In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man sich, von Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde” (Tönnies 1979/2005, S. 3). Kürzer und schöner kann man die gegensätzlichen Erfahrungen in unterschiedlichen Sozialformen kaum ausdrücken.

Wichtig für uns ist, dass damit keine Wertung der Bevorzugungswürdigkeit einer “Verbundenheit” verknüpft ist. So wie es einen großen Fortschritt bedeuten kann, sich aus den Bindungen des unmittelbaren Umfelds zu lösen und “die Fremde” nichts Bedrohliches darstellen muss (z. B. “Stadtluft macht frei”), so erzeugen Individualisierungs- und Rationalisierungstendenzen immer auch neue Bindungsbedürfnisse.

Und noch einmal Tönnies selbst: “Die Theorie der Gesellschaft konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind, und während dort verbunden bleibend trotz aller Trennungen, hier getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten” (1979/2005, S. 34).

In der Gemeinschaft entstehen die „Verbundenheiten“ durch die ordnende Kraft, welche in unmittelbaren menschlichen Beziehungen (z. B. Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft) wirkt. Sie sind primär charakterisiert durch einen direkten Erfahrungszusammenhang, in dem rationale und emotionale Gesichtspunkte in einem integrierten Zusammenhang stehen: Gute Sitten, Alltagsvernunft oder auch der „gesunde Menschenverstand“ sind in diesem Sinne ganzheitlich zu verstehen. Dies gilt ebenso für schlechte Sitten, Alltagsunvernunft und den vermeintlichen gesunden Menschenverstand auf „Stammtischniveau“. Wichtig ist in allen Varianten, dass diese Verbundenheiten ihre Bindungskraft auch ganz ohne von außen gesetzte Vorschriften oder Regelungen entfalten. Solidarität als ein Zusammenhalt stiftendes Verhalten ist über gegenseitige Abhängigkeiten regelrecht in die Beziehungsgefüge „einprogrammiert“.

Mit zunehmender Ausdifferenzierung, Reflexivität und neuer Integration entstehen neue Formen der Verbundenheit. Sie lösen sich aus der ursprünglichen instinkthaft-vegetativen, später auch aus der verstandesmäßigen Einheit von Denken und Fühlen. Es schieben sich immer neue komplexere Ebenen der Reflexion und geistige Operationen zwischen die Erscheinungsweisen sinnlich geprägter Natürlichkeit. Die Bildung von “Begriffen”, die Entwicklung von “Absichten”, das Setzen von “Zwecken” usw. sind Ergebnis dieser neuen psychischen Realitäten und erschließen einen weiteren Mechanismus der “Verbundenheit”. Auch die Solidarität wird sozusagen aus der unmittelbaren Erfahrung herausgelöst und zum “Prinzip” erhoben. Mit zunehmender Ausdifferenzierung verhalten sich Individuen nicht mehr nur ihrer Gemeinschaft gegenüber solidarisch, sondern auch der Gesellschaft gegenüber (von in-group Solidarität zu einer Kombination aus in-group und out-group Solidarität).

In der individuellen Entwicklung eines Menschen entstehen so immer neue kognitive Strukturen, mit deren Hilfe er sich die Welt rational-logischer Operationen eröffnet und neue Erkenntnisformen erschließt. Diese geistigen Leistungen sind gleichzeitig Voraussetzung für die Etablierung neuer Sozialformen; sie werden von diesen getragen. Eine damit ermöglichte Formalisierung (Takt, Umgangsformen, Distanz etc.) kennzeichnet das Wesen von Gesellschaft; es erlaubt Berechenbarkeit und Distanz. “Gesellschaft” fasst bei Tönnies die abstrahierte Regelwelt zusammen. Diese nimmt eine eigene, von den Bedürfnissen und Gefühlen des Einzelnen losgelöste, sich davon verselbständigende Gestalt an. Als solche bietet sie immer wieder neue Anknüpfungspunkte, sich rational und gefühlsmäßig mit ihr auseinanderzusetzen, und ermöglicht so auch neue, bisher unbekannte Gemeinschaftsformen.

Die nur in der oberflächlichen Betrachtung schematisch wirkende Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist deshalb fundamental, weil sie eine zentrale Erfahrung zwischenmenschlichen Zusammenlebens in der Moderne in origineller Weise aufgreift. In der psychischen Realität existieren demnach (gewissermaßen als nützliche Fiktion) “die menschlichen Verhältnisse und Verbindungen als lebendige oder hingegen bloße Artefakte” (Tönnies 1979/2005, S. 6). In der Ausgestaltung der Idee thematisiert er dabei – teilweise in Vorwegnahme späterer Erkenntnisse der Psychologie – die oftmals getrennten Sphären von ganzheitlicher Erfahrung und (re)integrationsbedürftigem Wissen. Deren erlebnismäßiges Auseinandertreten und der daraus stets aufs Neue erwachsende Integrationsbedarf werden bei Tönnies in einzigartiger Weise nicht nur als individuelles, sondern als soziales Problem formuliert.

Eines ist für Tönnies dabei sehr klar: Bindungsrelevant sind nicht allein rationale Gesichtspunkte oder logisch bessere Argumente, sondern vor allem auch rational nicht fassbare Emotionen und Motivationen. Diese lassen sich nicht mit Argumenten “überzeugen”. In der damaligen Sprache von Tönnies ist es immer “(…)ein bestimmtes Verhältniß, in welches der empfundene innere Gesammtzustand zu diesen besonderen Empfindungen sich setzt. Denn jener ist das absolute A priori, und er kann nur gedacht werden als die Existenz der gesammten Natur durch allgemeine und dunkle Beziehungen auf sich involvirend, von welchen dann einige durch Entwicklung und Actionen des Gehirnes und der Sinnesorgane, das heißt des verstehenden (davorstehenden) Geistes, allmählich klarer und deutlicher werden” (1979/2005, XVI).

Indem Tönnies den Zusammenhang zwischen entwicklungspsychologischen Mechanismen und sozialen Prozessen herstellt, durchdenkt er die heute fundamentale Frage, wie der Einzelne in einer komplexen Umwelt an unterschiedliche Werte und Normen anknüpft, diese sich zu eigen macht oder gar verändern kann. Eine Person, die sich etwa neues Wissen über einen Sachverhalt aneignet, hat das Problem aber damit noch lange nicht verstanden. Umgekehrt ist das emotional tief durchdrungene Problem damit noch lange nicht kognitiv differenziert erfasst. Beide Bewusstseinsdispositionen ermöglichen eigene Formen der Verbundenheit mit anderen Menschen.

Für unser Anliegen interessant ist die historisch-genetische Begründung jedweder Sozialverhältnisse in psychischen Realitäten. Für die heutige Soziologie „kommt dies der Aufdeckung einer vergessenen Problemsphäre gleich – der Fundierung der Sozialverhältnisse in Bewusstseinsdispositionen, welche als Verkörperung der ‘Gefühle, Triebe, Begierden’ dem vernunftorientierten Handeln nicht nur genetisch vorausgehen, sondern dieses selbst erst aus sich entlassen” (Merz-Benz, 1995, S. 15). Umgekehrt kann die psychologische Forschung von der Verknüpfung psychischer Prozesse und sozialer Phänomene profitieren.

Mit Blick auf das Solidaritätsthema lässt sich nun besser verstehen, warum es so schwierig sein kann, jemanden zu solidarischem Handeln zu bewegen, wenn es sich um abstrakte Verbundenheiten und damit “bloß” rationale und nicht direkt erlebte Beziehungen handelt. Genau dies ist dann die Herausforderung für die erwähnte Versicherungsgesellschaft beziehungsweise für noch abstraktere Gebilde wie die Europäische Union.

Ich möchte daher den Vorschlag machen, zwischen einer gemeinschaftlichen Solidarität und einer gesellschaftlichen Solidarität zu unterscheiden. Letztere hat keine Chance, bricht immer wieder ein, wenn sie nicht von der Gemeinschaft getragen wird. Jedwede Veränderung auf der gesellschaftlichen Ebene ist irrelevant für die Alltagserfahrung in der Gemeinschaft, solange sie nicht auch dort emotional ankommt. Wo die Re-Integration in die individuelle Erfahrungswelt nicht (mehr) gelingt, kommt es zu Entfremdungsprozessen, die per se nicht durch ein “besseres Erklären” überwunden werden können. Eher geht es dann darum, die kognitive Komplexität durch neue Formen der emotional-motivationalen Ansprache verantwortungsvoll zu übersetzen und den Abstraktionsgrad gering zu halten beziehungsweise wieder einzuschränken. Gesellschaftlicher Solidarität sind daher deutliche Grenzen gesetzt, die sich nicht einfach überwinden lassen. Eine globale Solidarität kann es daher “beim besten Willen” auch nur als gesellschaftliche Solidarität (also in Regeln, Vorschriften, Prinzipien dokumentiert) geben. Gemeinschaftliche Solidarität ist auf gemeinschaftliche Erfahrungen angewiesen. Gesellschaftliche Solidarität braucht die Rückbindung in die unmittelbare Erfahrungswelt, um Akzeptanz und innere Bejahung beanspruchen zu dürfen.

 

Perspektiven für das Management

In der einleitenden Beobachtung aus dem GemeinwohlAtlas wurde festgestellt, dass Unternehmen und Organisationen generell ihren “Schwachpunkt” beim Beitrag zum Zusammenhalt in Deutschland haben. Mit den eingeführten psychologischen und soziologischen Differenzierungen können wir nun den Beitrag einer Institution zum Zusammenhalt (ob nun in der Region, im Land oder darüber hinaus) als Teil des Gemeinwohls genauer reflektieren. Solidarität stellt dabei einen wichtigen Aspekt dar.

Wir haben vier unterschiedlich motivierte Solidaritäten identifiziert, die sich in den unterschiedlichen Sphären von Gemeinschaft und Gesellschaft zeigen können und bewähren müssen. Sofern das Management darauf abzielt, stärker als solidarisch-unterstützend wahrgenommen zu werden, sollten folgende Fragen im Mittelpunkt stehen:

  • Wie können wir unsere Produkte und Dienstleistungen so ausrichten, dass gelebte (oder zu entwickelnde) Verhaltensweisen, die den Zusammenhalt fördern, auch glaubwürdig sind und mit den unterschiedlichen Grundbedürfnissen im Unternehmensumfeld in Einklang gebracht werden? Hierzu könnte gehören, das eigene Kerngeschäft entsprechend neu zu verstehen und dies zu kommunizieren. Beispiel: Wo und wie sprechen heute etwa Versicherungen über die ihrem Geschäftsmodell innewohnende Orientierung am Solidarprinzip?
  • Welche moralisch-ethischen, instrumentell-utilitaristischen, politisch-sozialen und hedonistischen-ästhetischen Bewertungsgesichtspunkte und -konflikte sind mit unserem Beitrag zum Zusammenhalt verbunden? Beispiel: Welche ökonomischen Kalküle in einem international agierenden Konzern stärken/schwächen die solidarische Grundorientierung mit der Region?
  • Welche Möglichkeiten haben wir bisher (nicht) genutzt, um unseren Beitrag zur gesellschaftlichen Solidarität so zu “übersetzen”, dass er nicht allein abstrakt bleibt, sondern konkret erfahrbar wird? Umgekehrt ist gegebenenfalls auch deutlicher zu machen, wo etwa eine Organisation mitwirkt, solidarische Verhaltensweisen auf gemeinschaftlicher Ebene in Regelwerken zu vergesellschaften und damit auf eine rationale Basis zu stellen. Beispiel: Unternehmen setzen sich vielfach dafür ein, unsolidarisches Verhalten durch eigene Standards zu verhindern beziehungsweise abzubauen. Wo wird dies kommuniziert, sodass dies auch für die Bevölkerung erkennbar wird?

 

Zur Beantwortung dieser und angrenzender Fragen wurde die Public Value Scorecard (Meynhardt 2015) entwickelt, um im Abgleich von Selbst- und Fremdbild zu bestimmen, wo die jeweiligen Chancen und Risiken liegen, wenn Organisationen sich mit ihrem Beitrag zum größeren Ganzen beschäftigen. Denn letztlich geht es für diese dann genau darum, sich in ihrer „Social Function“ (Drucker 1973) wahrzunehmen und diese aktiv zu gestalten – einschließlich der Funktion als solidarischer Partner in einem funktionierenden Gemeinwesen. Der GemeinwohlAtlas legt es nahe.

 

Fußnote:

1 Nachfolgender Abschnitt geht auf einen längeren Beitrag über Ferdinand Tönnies‘ Theorie zurück und übernimmt einzelne Passagen wörtlich (cf. Meynhardt 2010)

 

Literatur

Campbell, D. T. (1975): On the conflicts between biological and social evolution and between psychology and moral tradition. American Psychologist, 30(12), S. 1103-1126.

Drucker, P. F. (1973): Management: Tasks, Responsibilities, Practices, New York, NY.

Dawkins, R. (1976/2016): The selfish gene, Oxford.

Epstein, S. (2003): Cognitive-Experiential Self Theory of Personality, in: T. Millon, M. L. Lerner, and I. B. Weiner, (Hrsg.), Handbook of Psychology, Personality and Social Psychology, Vol. 5, New York, S. 159-184.

Epstein, S. (1993): Emotion and Self-Theory, in: M. Lewis und J.M. Haviland-Jones, (Hrsg.), Handbook of Emotions, S. 313-326, New York.

Freud, S. (1930/2013): Das Unbehagen in der Kultur, Hamburg.

Grawe, K. (1998): Psychologische Therapie, Hogrefe.

Meynhardt, T. (2004): Wertwissen. Was Organisationen wirklich bewegt, Münster.

Meynhardt, T. (2008): Public Value: Oder was heißt Wertschöpfung zum Gemeinwohl?, der moderne staat, 2, S. 457-468.

Meynhardt, T. (2009): Public value inside: What is public value creation?, International Journal of Public Administration, 32(3-4), S. 192-219.

Meynhardt, T. (2010): Management zwischen Main Street und Wall Street, in: S. Spoun & T. Meynhardt (Hrsg.) Management – eine gesellschaftliche Aufgabe. Baden-Baden, S. 19-45.

Meynhardt, T. (2015): Public value: Turning a conceptual framework into a scorecard, in: J. M. Bryson, B. C. Crosby & L. Bloomberg (Hrsg.), Public value and public administration, S. 147-169.

Merz-Benz, P. U. (1995): Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt am Main.

Tönnies, F. (1979/2005): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 8. Auflage von 1935, 4. unveränderte Auflage von 1979.

Wilson, E.O. (1975/2000): Sociobiology. The new synthesis, Harvard.

 

Der Autor

Prof. Dr. Timo Meynhardt

ist seit 2015 Professor für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management und Managing Director des Center for Leadership and Values in Society der Uni­versität St. Gallen. Er ist Diplom-Psychologe und studierte in Jena, Oxford und Peking. 2003 wurde  er zum Dr. oec. an der Universität St. Gallen promoviert und habilitierte sich 2013 an ebendieser Universität. Von 1999 bis 2007 arbeitete er als Practice Expert bei McKinsey & Company Inc. in Berlin. In seiner Forschung kombiniert er psychologische und betriebswirtschaftliche Themen miteinander, insbesondere im Bereich Public Value Management, Führung und Kompetenzdiagnostik.

timo.meynhardt@hhl.de

 

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