Interview mit Dr. Alexandra Hildebrandt
Frau Dr. Hildebrandt, Kleinstunternehmen und digitale Transformationsprozesse: Gehen sie eher aneinander vorbei oder ineinander über?
Begriffsbildungen mit dem Wort “digital”, die heute Konjunktur haben, scheinen nahezulegen, dass digitale Technologie der Treiber von alldem sei. Das aber wäre zu kurz gegriffen. Der Wandel geht tiefer: Die digitale Welt ist nicht nur ein technologisches Phänomen, sondern vor allem der Ausdruck eines übergreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, der alle Bereiche der Gesellschaft umfasst. Digitale Transformation bedeutet Abschiednehmen vom Konzept eines statischen Geschäftsmodells, das über längere Zeit lediglich optimiert wird. Lineare Modelle greifen heute nicht mehr. All dies hat auch eine massive Auswirkung darauf, wie (Kleinst-)Unternehmen Wertschöpfung generieren und wie sie Innovation gestalten.
Welche Formen und Ausmaße sehen Sie für eine “digitale CSR” in Kleinstunternehmen?
Die Digitalisierung verändert nicht nur unsere Lebensbereiche, sondern auch die Art, wie wir denken, zusammenleben und arbeiten. Niemand kann sie aufhalten, doch haben wir die Möglichkeit, sie nachhaltig zu gestalten. Voraussetzung dafür ist, unsere Macherqualitäten zu stärken und die Trennung zwischen Theorie und Praxis aufzuheben. Die Digitalisierung gibt uns zahlreiche Instrumente an die Hand, um zu Machern zu werden. Wer die digitale Transformation selbst mitprägen will, muss verstehen, wie sie funktioniert und darf keine Angst vor dem digitalen Wandel haben.
Welche Kernaussagen über Kleinstunternehmen treffen Autorinnen und Autoren in Ihrem mit dem Unternehmer Werner Landhäußer herausgegebenen Fachbuch “CSR und Digitalisierung”?1
Die wichtigste Kernaussage lautet: Wer sich mit dem Megatrend Digitalisierung auseinandersetzt, kommt nicht umhin, auch sein Denken zu erneuern. Spezialkenntnisse können im Komplexitätszeitalter sehr schnell veralten. Je weiter die vernetzte Produktion fortschreitet, desto stärker wird die Nachfrage nach Mitarbeitern mit Kenntnissen in IT, Automatisierungstechnik und Robotik sein, die imstande sind, eine Helikopterperspektive einzunehmen, die es erlaubt, sich dem Detail zu widmen, ohne das Ganze aus dem Blick zu verlieren. Interdisziplinäre Probleme können nur mit einem breiten Horizont bewältigt werden. Allgemeinbildung ist kein Qualifikationsmangel, wie von Spezialisten oft behauptet wird, sondern eine Grundvoraussetzung im digitalen Zeitalter, Komplexität richtig zu meistern.
Wir brauchen heute ein neues Denken, das in der Lage ist, viele Facetten und Perspektiven zu sehen, das große Ganze zu erfassen, aber auch ins Detail zu gehen und sich von alten Gewohnheiten und geistigem Ballast zu verabschieden. Denn wer nicht trennen kann, ist auch nicht urteilsfähig. Dazu braucht es Phasen der Distanz und Reflexion. Nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, dass wir uns weder von Euphorie noch Panik und Kulturpessimismus beherrschen lassen und richtig mit Komplexität umgehen können. Das ist eine Grundvoraussetzung für das Erwerben digitaler Kompetenzen und die Anwendung digitaler Arbeitsmethoden. Allen Autoren gemeinsam ist die Lust, eigene Ideen umzusetzen, digitale Medien einzusetzen und etwas in ihrem Umfeld zu bewirken.
Sie selbst sind als Leiterin der Gesellschaftspolitik eines Konzerns in die Selbständigkeit gewechselt. Wie gestalten Sie Ihr heutiges Geschäftsmodell als Kleinstunternehmen digital und analog?
Beides geht fließend ineinander über. Internet und Social Media sind aus meinem Alltag nicht mehr wegzudenken. Nachhaltig bloggen bedeutet für mich, die Welt jetzt zu gestalten, stetig das Denken zu trainieren, die eigene Urteilsfähigkeit zu schärfen, Informationen zu teilen, und die digitalen Plattformen als Erweiterung des eigenen Geistes zu nutzen. Denn Übung macht auch den Meister der Digitalisierung.
Vor einigen Jahren bin ich für meine Überzeugung, dass Bloggen zukunftsweisend in der Medienlandschaft ist, noch belächelt worden – auch für mein tägliches Pensum in meinem Blog in der Huffington Post. Viele Leitmedien betrachteten Blogs damals als Zweite-Klasse-Journalismus. Heute ist es selbstverständlich, dass Artikel aus der Huffington Post, aus Spiegel Online oder aus ZEIT-online parallel zu den Meinungen guter Blogger gelesen werden.
E-Books sind für mich beispielsweise ein hervorragender Multiplikator meines Blogs bei der Huffington Post geworden: Viele Beiträge sind inhaltlich verbunden mit dem Blog, der eine Art öffentliches Denk- und Schreibtraining ist. Im Bereich Selfpublishing nutze ich Kindle Direct Publishing (KDP). Es braucht nur wenige Mausklicks, um das Manuskript hochzuladen und das Buch online zu stellen. Autoren und Selbstständige können hier deutlich mehr verdienen als mit eigenen Verlagstiteln. Man kann die Käufe verfolgen und erhält monatlich einen Bericht von Amazon über die verkauften Einheiten. Neue Marktnischen können gleich bedient werden, was bei Verlagen mit ihren langwierigen Planungsprozessen nicht möglich ist. Amazons Empfehlungsalgorithmen und Blogbeiträge über die Werke haben bei den Lesern häufig die Funktion des Qualitätsfilters. Es entsteht eine neue Verbindung zwischen Autor und Leser. Das Interesse der richtigen Zielgruppe kann schneller geweckt und der Nutzen für den Leser greifbarer gemacht werden.
Klassiker und gute Literatur sowie Kunstbücher möchte ich weiterhin anfassen und mit der Hand “begreifen” können. Sachbücher, die ständig aktualisiert werden, sind für mich allerdings eine digitale Bereicherung. In den vergangenen Jahren habe ich auch die Grenzen konventioneller Verlage kennengelernt: Vor allem bei Fachverlagen dauerte der Prozess bis zur Veröffentlichung zu lange – viele Informationen waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon veraltet und konnten im Nachgang nicht korrigiert werden. Bei Herausgeberwerken führte dies sogar dazu, dass Autoren während der Korrekturphase ihre Beiträge zurückgezogen haben. Auch der Satz “Es ist eine Ehre, gedruckt zu werden” – ohne Honorar im Wissenschaftsbereich – funktioniert heute nicht mehr.
Um anzufangen, und sich im Selfpublishing auszuprobieren ist es wichtig, sich vom Perfektionismus zu verabschieden; von der Vorstellung, “vorher” noch mehr wissen zu wollen oder können zu müssen. Selfpublisher begreifen sich in der Doppelrolle als Autor und (Kleinst-)Unternehmer, da beide Seiten der Wertschöpfungskette, Autor und Verlag, bedient werden. Erfolgreiche Unternehmer legen einfach los und motivieren sich selbst. Es nützt nichts, wenn Autoren gute Ideen haben und gut schreiben können, aber ihre Arbeit nicht sichtbar ist. Was nützt es, wenn sie ihre Leistung als besser empfinden, wenn andere sich besser verkaufen? Ein Wissensriese kann nichts bewirken, wenn er gleichzeitig ein Umsetzungszwerg ist.
Welche CSR-Impulse möchten Sie bestehenden Kleinstunternehmen und Neugründern in Bezug auf Digitalisierung weitergeben?
Um die Digitalisierung nachhaltig gestalten zu können und nicht nur auf sie zu reagieren, müssen unsere Macherqualitäten gestärkt und die Trennung zwischen Theorie und Praxis aufgehoben werden. Wer angesichts der aktuellen digitalen Herausforderungen resigniert, kann bestenfalls reagieren; wer selbst nach Auswegen und Lösungen sucht, wird kreativ und agiert. Dazu gehört, Selbstzufriedenheit zu vermeiden und innovativ wie ein Startup zu bleiben, weil Zufriedenheit zu Trägheit führen würde, an der eigenen Vision festzuhalten, aber in der Umsetzung im (Kleinst-)Unternehmen stets flexibel zu sein, ständig zu experimentieren und nicht nur auf die eine große Idee zu setzen. Kein Unternehmen – ob klein oder groß – kann es sich heute leisten, darauf zu warten, dass Entwicklungen an uns vorüberziehen werden, denn wir sind ein Teil davon.
Dankeschön, Frau Dr. Hildebrandt.
Das Interview führte Wolfgang Keck.
Fußnote:
1) Hildebrandt, Alexandra – Landhäußer, Werner (Hg.) :CSR und Digitalisierung. Der digitale Wandel als Chance und Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. 2017 Springer Gabler.
Dr. Alexandra Hildebrandt
ist Publizistin, Nachhaltigkeitsexpertin und Wirtschaftspsychologin. Sie studierte Literaturwissenschaft, Psychologie und Buchwissenschaft. Anschließend war sie viele Jahre in oberen Führungspositionen der Wirtschaft tätig. Bis 2009 arbeitete sie als Leiterin Gesellschaftspolitik und Kommunikation bei der KarstadtQuelle AG (Arcandor). Beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) war sie 2010 bis 2013 Mitglied der DFB-Kommission Nachhaltigkeit. Den Deutschen Industrie- und Handelskammertag unterstützte sie bei der Konzeption und Durchführung des Zertifikatslehrgangs “CSR-Manager (IHK)”. Alexandra Hildebrandt ist Mitinitiatorin der Initiative Gesichter der Nachhaltigkeit.
Im Verlag Springer Gabler gab sie in der Management-Reihe Corporate Social Responsibility die Bände “CSR und Sportmanagement” (2014), “CSR und Energiewirtschaft” (2015) und “CSR und Digitalisierung” (2017) heraus.
drhildebrandt.alexandra590@gmail.com