Unmittelbar nach Veröffentlichung des Diskussionspapiers 2023-02 mit dem – ganz bewusst ohne Fragezeichen versehenen – Titel “Kriegspropaganda im Ukraine-Konflikt – Eine ordonomische Diskursanalyse“[1] haben mich mehrere kritische Stellungnahmen erreicht, die von Vertretern des Mehrheits-Narrativs verfasst wurden. Ich bin für dieses Feedback sehr dankbar, weil es mir die Gelegenheit gibt, Missverständnisse auszuräumen und einige Punkte klarzustellen, die bislang vielleicht nicht deutlich genug ausgesprochen wurden. Ich werde im Folgenden versuchen, auf insgesamt vier Fragen Antwort zu geben:
- Was genau ist unter einer Diskursblockade oder einem Diskursversagen zu verstehen?
- Was sind geeignete Maßnahmen gegen Diskursversagen?
- Wo genau versagt der Ukraine-Diskurs?
- Wie lauten – für beide Seiten – einige wichtige der gegenwärtig nicht adressierten Fragen?
1. Diskursversagen durch Denkblockaden, Denkfehler und Denkverbote
Einige Feedback-Meldungen haben folgenden Einwand formuliert: Bloß, weil es einer Minderheit offenbar nicht gelingen will, die Mehrheit eines Besseren zu überzeugen, sollte man nicht von Diskursblockade sprechen. Oder zugespitzt: Wer im Diskurs argumentativ versagt, sollte dies nicht einem Versagen des Diskurses anlasten. Ferner wurde angemerkt, dass eine robuste Meinungsmehrheit möglicherweise darauf schließen lasse, dass der Diskurs nicht schlecht, sondern gut funktioniert.
Das alles ist natürlich richtig. In der Tat gibt es immer die subjektive Versuchung, wenn man im Wettbewerb unterliegt, dies nicht einer eigenen Fehlleistung oder einer überlegenen Leistung der Wettbewerbsgewinner, sondern unfairen Wettbewerbsbedingungen bzw. einem Wettbewerbsversagen zuzuschreiben. Von daher stellt sich die Frage, ob es objektive Kriterien für ein Wettbewerbsversagen gibt – hier: objektive Kriterien für ein Diskursversagen (= ein Versagen des Wettbewerbs der Ideen und Argumente), die über die rein subjektive Befindlichkeit hinausgehen, dass man die eigene Meinung von anderen nicht hinreichend gewürdigt findet. Wenn man mit seinen Ideen und Argumenten auf hartnäckigen Widerspruch stößt, wie lässt sich dann verlässlich unterscheiden, ob dies auf einen funktionalen oder auf einen dysfunktionalen (= blockierten) Diskurs zurückzuführen ist?
Aus ordonomischer Sicht ist der Diskurs – wie andere Wettbewerbe auch – als Prozess zu betrachten. Hier ist die Analogie zum wirtschaftlichen Wettbewerb auf Märkten vielleicht ganz hilfreich: Ob ein Markt funktioniert oder in einer wichtigen Leistungsdimension funktional versagt, lässt sich beispielsweise daran ablesen, ob es im Zeitablauf zu einer tendenziellen Renditenormalisierung kommt: ob Pioniergewinne abschmelzen und schließlich zu Nullgewinnen erodieren, weil von Konkurrenten Preise durchgesetzt werden, die sich den Grenzkosten der Produktion annähern. Hier kommt es nicht darauf an, wer (mit konkret welchem Produkt) den Wettbewerb gewinnt, sondern vielmehr darauf, ob der Wettbewerb als Prozess bestimmte Eigenschaften aufweist.
Übertragen auf Diskurse heißt das: Das objektive Kriterium besteht nicht darin, ob sich die (vermeintlich) “richtige” Meinung durchsetzt, sondern vielmehr darin, ob es im Diskurs eine Tendenz zur Konsensbildung gibt: ob sich Erkenntnisfortschritt einstellt, weil man sich bemüht, Missverständnisse auszuräumen und gemeinsam auszuloten, wer unter welchen Bedingungen die überzeugenderen Ansichten hat. Die Prüfkriterien lauten: Geht man argumentativ aufeinander zu? Findet kollektives Lernen statt? Gibt es Einigungstendenzen?
Wichtige Hinweise für ein mögliches Diskursversagen sind: hoher Emotionalisierungsgrad, Lagerdenken, Polarisierung, personalisierende Diskreditierungsstrategien, Ausgrenzungsversuche. Diskursblockaden sind oft die Folge einer rhetorischen Diskursverweigerung. Sie kommen aber auch schon dann zustande, wenn Rechthaberei (= Gewinnenwollen) dominiert, anstatt mit einem ergebnisoffenen Mindset ein gemeinsames Interesse an Erkenntnisfortschritt zu verfolgen.
Aus ordonomischer Sicht hat es sich bewährt, noch spezifischer drei Quellen für Diskursversagen zu unterscheiden: Denkblockaden, Denkfehler und Denkverbote. Alle drei Quellen sind im aktuellen Diskurs um den Ukraine-Konflikt kräftig am Sprudeln.
- Die wichtigste Denkblockade besteht im Tradeoff-Denken, das sich als binäres (= “dichotom(an)isches”) Freund-Feind-Schema manifestiert – und als Unvermögen offenbart, innerhalb eines Konflikts simultan auch gemeinsame Interessen identifizieren zu können. Rhetorisch äußert sich dies z.B. in fatalistischen Gedankenlosigkeiten. In diese Kategorie fallen Formulierungen wie etwa die, dass der Westen mit Putins Russland “nie wieder” handeln oder gar verhandeln könne und dass europäische Sicherheit künftig nicht mehr mit, sondern nur noch gegen Russland zu organisieren sei. Historischen Erfahrungen entspricht dies nicht.
- Zu den wichtigsten Denkfehlern gehören intentionalistische und normativistische Fehlschlüsse. Ein intentionalistischer Fehlschluss liegt vor, wo Interaktionsergebnisse als Aktionsergebnisse interpretiert und dann den Präferenzen des (vermeintlich allein ausschlaggebenden) Akteurs zugerechnet werden. Die Meinung, dass es sich beim nunmehr militärisch ausgetragenen Ukraine-Konflikt um “Putins Krieg” handele sowie die Dämonisierung seiner Person, der psychologisierend monströse Böswilligkeit zugeschrieben wird, fallen in diese Kategorie. Ein normativistischer Fehlschluss liegt vor, wo reines Wunschdenken – ohne Berücksichtigung realer Möglichkeiten – die Diskussion bestimmt, so dass eine nüchterne und sachliche Analyse der absehbaren Konsequenzen verweigert wird. Wenn faktischen Hinweisen auf die militärische Stärke Russlands mit Äußerungen begegnet wird wie etwa jenen, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren “darf” und dass sie diesen Krieg sogar gewinnen “muss” – bis hin zur Rückeroberung der Krim -, dann fällt das in diese Kategorie. Hier hat man es mit einem Muster der Realitätsverweigerung im Sinne normativer Verblendung zu tun, nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.
- Denkverbote schließen das Overton-Fenster. Sie verengen das Spektrum öffentlich akzeptierter Meinungsverschiedenheiten. Bestimmten Argumenten wird dann nicht mehr mit Gegenargumenten begegnet, sondern mit Tabus. Der beliebte Einwand, mit dem kritische Minderheitsvoten ausgegrenzt werden, dass man nicht Putins Narrativ verbreiten dürfe, gehört in diese Kategorie. Hier wird so getan, als sei Beifall von der falschen Seite ein (Un-)Wahrheitsindikator. Die eigentlich nur kognitive Empathie markierende Bezeichnung “Putinversteher” wird dann zum Schimpfwort, obwohl sie eigentlich ein Ehrentitel für strategisches Denken sein müsste. Insofern verweist die als Vorwurf verwendete Ausgrenzungsformel “Putinist” auf einen performativen Selbstwiderspruch all jener, die als Teilnehmer an einer außen-, sicherheits- und militärpolitischen Debatte ernstgenommen werden wollen. Hier hat man es mit einer eklatanten Verletzung elementarer Seriositätsstandards zu tun, die als solche offen angesprochen werden muss. Denn es gehört zu den Grundvoraussetzungen – und sogar ganz spezifisch zu den Erfolgsbedingungen – einer solchen Debatte, zwischen kognitiver und emotionaler Empathie unterscheiden zu können: Die Gegenseite muss einem nicht unbedingt sympathisch sein, um sich dennoch – im Modus klugen Eigeninteresses – in ihre Sichtweise der Situation hineindenken zu können. Es ist so wie bei einem Schachspiel: Wer sich nicht in sein Gegenüber hineinzuversetzen und wenigstens einige Spielzüge im Spiel vorauszudenken vermag, hat wenig Aussicht, in diesem Spiel auch nur ein Remis zu erreichen – und sollte vielleicht besser die Finger ganz davon lassen, den erhofften Spielerfolg mit existenziellen Risiken zu verknüpfen. Und analog gilt: Wer soziale Prozesse nicht von ihren Endgleichgewichten her – per Rückwärtsinduktion – zu durchdenken vermag, sollte sich in öffentlichen Kriegs-Diskursen, in denen es letztlich für viele direkt betroffene Menschen um Leben und Tod geht, eher mit Tabuforderungen zurückhalten, die andere Diskursteilnehmer vom strategischen Denken abhalten (sollen).
2. Therapie gegen Diskursversagen: Steelmanning statt Strawmanning
Wie kann man einem Diskursversagen – sei es ex-ante prophylaktisch, sei es ex-post therapeutisch – wirksam begegnen? Zur Beantwortung dieser Frage bietet es sich an, wiederum zuerst allgemein an Wettbewerbsprozesse in der Wirtschaft oder im Sport zu denken.
Wie begegnet man dem Problem, wenn im Sport Taktiken des Foulspiels Überhand nehmen oder wenn wirtschaftliche Sektoren in einen Korruptionssumpf geraten oder statt Wertschöpfung Wertvernichtung betreiben, weil nicht alle Kosten internalisiert sind?
Die ordonomische Antwort lautet: Appelle an die einzelnen Wettbewerbsspieler, individuell von Fehlverhalten auf Wohlverhalten umzuschalten, nutzen im Allgemeinen recht wenig, wenn sie gerade diejenigen, die sich an solche Appelle halten, in Nachteil bringen. Hier empfiehlt die Ordonomik einen Perspektivwechsel von der Individualethik zur Institutionenethik. Damit verbunden ist eine grundlegend andere Konzeptualisierung des zu lösenden Problems, ein intellektuelles Re-Framing, demzufolge es darum geht, nicht nur individuelles Verhalten im Einzelfall zu verändern, sondern kollektive Verhaltensmuster, also nicht einzelne Aktionen, sondern Interaktionsgleichgewichte. Hierfür benötigt man eine verbesserte Governance. Deshalb lautet das ordonomische Motto: Unter Wettbewerbsbedingungen avanciert die institutionelle Rahmenordnung zum systematischen Ort der Moral. Denn von ihr hängt es ab, welche Verhaltensanreize gesetzt sind und welche Verhaltensgleichgewichte zustande kommen.
So wie man im Sport klare Spielregeln und Schiedsrichter benötigt sowie in der Wirtschaft eine differenzierte Ordnung für leistungswettbewerbliche Anreize und einen Wettbewerbsschiedsrichter (= Kartellamt), der die Einhaltung der Ordnungsregeln überwacht und durchsetzt, verhält es sich im Prinzip auch in der Arena gesellschaftlicher – und insbesondere gesellschaftspolitischer – Diskurse. Auch hier benötigt man klare Spielregeln sowie eine institutionalisierte Sanktionsstruktur, um individuellem Fehlverhalten entgegenzuwirken. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch bei der Rollenzuweisung an staatliche Akteure, die man – aus guten Gründen – nicht in die Lage versetzen möchte, Zensur auszuüben. Folglich ist man für funktionale Diskurse auf eine etwas andere Governance-Struktur angewiesen, die sehr viel stärker auf eine bottom-up erfolgende Selbstregulierung setzt als auf eine top-down erfolgende staatliche Fremdregulierung.
In diesem Kontext ist vor allem auf zwei Punkte aufmerksam zu machen: (a) auf die innere Einstellung zum Diskurs und die damit verbundene Erwartungshaltung sowie (b) auf eine argumentationsfreundliche Diskursheuristik. Beide Punkte können – je nach Einhaltung bzw. Nicht-Einhaltung funktionaler Standards – Gegenstand positiver bzw. negativer Sanktionierung sein, so dass sich das kollektiv erwünschte Verhaltensmuster als Gleichgewicht aufgrund informaler Anreize bottom-up stabilisiert und idealerweise sogar institutionalisiert.
Zunächst zu Punkt (a): Diskurseinstellung.
Im mit Zwangsgebühren finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird man lange suchen müssen, um eine Talkshow zu finden, die von ihrem Format her systematisch darauf ausgerichtet wäre, eine auf Erkenntnisgewinn zielende Sachdiskussion zu fördern. Stattdessen betreibt man zumeist Infotainment: Man lässt unterschiedliche Positionen so gegeneinander antreten, dass rhetorische Finten gratifiziert werden, mit denen man das Gegenüber austrickst oder am besten mundtot macht. Es geht um publikumswirksame Effekthascherei, nicht jedoch um eine Diskussion, bei der man sich wechselseitig zu Wort kommen lässt, genau zuhört und argumentativ aufeinander eingeht. Hinzu kommt, dass Politikern gegenüber zunehmend Interviewtaktiken angewendet werden, die diese unter Stress setzen und so dazu veranlassen sollen, wider Willen Formulierungen zu gebrauchen, die sich skandalisieren lassen, so dass auf diese Weise für Quote gesorgt wird. Das dient der medialen Autopoiesis, nicht aber der Kultivierung eines politisch konstruktiven Diskurses.
Oft hat man den Eindruck, dass es den Teilnehmern an solchen Fernsehdiskussionen lediglich darum geht, eine Auseinandersetzung zu gewinnen. Dabei ist das die falsche Einstellung. Sie führt dazu, Diskurse rechthaberisch zu blockieren. Die richtige Einstellung hingegen nutzt den Diskurs als Lernplattform: als sozialen Lernprozess, auf den man sich ergebnisoffen einlässt, um am Ende klüger zu sein als zuvor. Abweichenden Meinungen wird dann nicht mit Empörung, sondern mit Neugier begegnet, und auf Gegenargumente reagiert man dann nicht mit rhetorischen Tricks, um sich gegen Kritik zu immunisieren, sondern mit dem Bemühen, zur Kritik einzuladen, die Kritik zu verstehen und sie dann – so weit möglich – sachlich zu entkräften.
Um es mit einer Metapher zu sagen, die von Julia Galef ins Spiel gebracht wurde: Es geht hier um den Unterschied zwischen der Verteidigungshaltung eines Soldaten und der fakteninteressierten Haltung eines Pfadfinders. Für das “Soldier Mindset” gilt: “Reasoning is like defensive combat.” “Finding out you’re wrong means suffering defeat.” Und als Maßgabe gilt, den subjektiven Hang zum “confirmation bias” auszuleben: “Seek out evidence to fortify and defend your beliefs.” – Ganz anders verhält es sich beim “Scout Mindset”. Hier gilt: “Reasoning is like mapmaking.” “Finding out you’re wrong means revising [and improving!, I.P.] your map.” Und im Hinblick auf den subjektiven Hang zum “confirmation bias” gilt hier die Maßgabe, achtsam zu sein und gegenzusteuern: “Seek out evidence that will make your map more accurate.”[2]
Die falsche Einstellung mündet in eine Tradeoff-Haltung (Win-Lose), die richtige in ein gemeinsames Ringen um wechselseitiges Verstehen und wechselseitige Fehlerkorrektur (Win-Win). Die falsche Einstellung vertieft die Gräben. Die richtige Einstellung baut tragfähige Brücken. Die falsche Einstellung blockiert den Diskurs; die richtige kultiviert ihn als Medium für Erkenntnisfortschritt.
Nun zu Punkt (b): Diskursheuristik.
Wir alle unterliegen dem subjektiven Hang, die uns entgegentretende Kritik nicht so stark, sondern so schwach wie möglich zu machen. Metaphorisch ausgedrückt neigen wir zum “strawmanning”, nicht zum “steelmanning” der Gegenposition. Unser naturaffines “Soldier Mindset” lädt uns dazu ein.
Das “Scout Mindset” jedoch hält dagegen und wählt sich nicht die schwächsten, sondern die stärksten Gegenevidenzen und Gegenargumente für eine ernsthafte Auseinandersetzung, mit der Folge, dass “steelmanning” ganz bewusst an die Stelle von “strawmanning” gesetzt wird.
Ein bewährtes Mittel dafür besteht darin, zunächst die Gegenposition in eigenen Worten so klar und so überzeugend wie möglich zu formulieren – und sich von ihren Vertretern Zustimmung für diese Charakterisierung einzuholen -, bevor man daran geht, die Gegenposition zu kritisieren.
Um es mit einer Metapher zu sagen, die von Bryan Caplan geprägt wurde: Hier geht es um einen “Ideologischen Turing-Test”. Dessen Kriterium besteht darin, ob es einer Person im Diskurs gelingt, jene inhaltliche Position, die sie selbst kritisieren will, zuvor so klar auszudrücken, dass sie sich nicht von jener Version unterscheidet, die ihre (intellektuell stärksten!) Anhänger vertreten würden.[3] Im Klartext heißt das: Eine Person, die andere kritisieren will, muss sich zunächst selbst auf den Prüfstand stellen und belegen, dass sie weiß, wovon sie spricht. Auf diese Weise vermeidet man nicht nur Donquichotterien und die damit verbundenen intellektuellen Peinlichkeiten, sondern stiftet auch den Zusatznutzen, die Verständigungsbasis zu verbreitern und zu befestigen, auf der dann ein Streit der Argumente sachdienlich (= ergebnisoffen und erkenntnisorientiert) geführt werden kann. Hier ist die Reihenfolge wichtig: Das Bemühen um ein korrektes Verständnis der Gegenposition muss ihrer Kritik vorangehen.
3. Wo genau versagt der Ukraine-Diskurs?
((1)) Ich wiederhole hier noch einmal das mit Aussagen von Marie-Agnes Strack-Zimmermann empirisch belegte Mehrheits-Narrativ.[4] Es besteht aus fünf Punkten:
- Putin führt einen unprovozierten Eroberungskrieg.
- Die Ukraine kann diesen Krieg gewinnen, wenn wir im Westen sie stark genug unterstützen.
- Russland muss durch eine militärische Niederlage zum Frieden gezwungen werden. Deshalb wären vorzeitige Verhandlungen aus Sicht der Ukraine (und des Westens) kontraproduktiv.
- Es liegt im westlichen Interesse präventiver Notwehr, Russland militärisch und wirtschaft-lich auf Dauer zu schwächen und als Paria-Staat zu behandeln.
- Die Ukraine hat sich eine westliche Anbindung verdient. Sie sollte Mitglied der NATO (und der EU) werden.
Diesem Mehrheits-Narrativ steht ein Minderheits-Narrativ gegenüber, das zu allen fünf Punkten eine abweichende Meinung vertritt.[5] Es lautet wie folgt:
- Der militärisch ausgetragene Ukraine-Konflikt hat ein viele Jahre zurückreichendes Vorspiel und ist das Ergebnis kausaler Wechsel Es handelt sich nicht um ein Aktions-Ergebnis, sondern um ein Interaktions-Ergebnis.
- Die Ukraine kann diesen Krieg gegen Russland nicht gewinnen.
- Aus Sicht der Ukraine (und des Westens) wären frühzeitige Friedensverhandlungen wünschenswert (gewesen).
- Es liegt im westlichen Interesse, Russland in eine internationale Ordnung sicherheitspolitischer und wirtschaftspolitischer Kooperation einzubinden, vor allem im Hinblick auf die Erstellung globaler öffentlicher Güter (wie z.B. Rüstungskontrolle oder Klimaschutz).
- Die Ukraine verdient westliche Unterstützung jenseits einer Mitgliedschaft in NATO und EU.
In meiner Diskursanalyse hatte ich darauf hingewiesen, dass die hier kursiv gesetzte zweite Aussage – als empirisch prüfbare Tatsachenaussage – den Dreh- und Angelpunkt der öffentlichen Diskussion bildet und dass die Plausibilität des Mehrheits-Narrativs mit der Annahme steht bzw. fällt, dass die Ukraine militärisch auf der Gewinner- bzw. Verliererseite steht.
((2)) Ein funktionaler Diskurs würde zunächst die Tatsachenfrage klären und von dort aus Schlussfolgerungen ziehen, mit welchen Mitteln welche strategischen Ziele realistisch erreicht werden können.
Demgegenüber ist es ein untrügliches Kennzeichen für einen dysfunktionalen Diskurs, wenn statt dieser Tatsachenfrage die öffentliche Auseinandersetzung auf wertstrittige Fragen gelenkt wird. Auf entsprechende Denkblockaden, Denkfehler und Denkverbote habe ich bereits hingewiesen. Sie sind auf beiden Seiten der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zu finden: Auch Vertreter des Minderheits-Narrativs tragen gelegentlich zur Diskursblockade bei, etwa wenn sie dem Mainstream Kriegstreiberei oder obrigkeitsstaatliche Zensur und Manipulation – à la “Lügenpresse” – vorwerfen.
Aus Platzgründen konzentriere ich mich im Folgenden aber nicht darauf, welche Muster von Fehl-Interpretation zu beobachten sind, wenn die Minderheit die Mehrheits-Position kennzeichnet, sondern gehe – einseitig – nur der umgekehrten Frage nach, welche Muster von Fehl-Interpretation zu beobachten sind, wenn die Mehrheit die Minderheits-Position kennzeichnet. Hierzu ziehe ich ein jüngst erschienenes Interview zu Rate, das der Bonner Völkerrechtler Prof. Dr. Dr. h.c. Matthias Herdegen der WELT gegeben hat.[6]
Hier war u.a. Folgendes zu lesen:
“WELT: Der Hamburger Rechtsphilosoph und Strafrechtler Reinhard Merkel hält es für ein ethisches Gebot der Ukraine, sich Friedensverhandlungen zu öffnen und auf die Rückgewinnung der Ukraine zu verzichten. Wie bewerten Sie das?
Herdegen: Das ist eine kuriose “Moral” der eilfertigen Unterwerfung, die manche professionellen Ethiker aus dem warmen Studierstübchen unseren angegriffenen Nachbarn anempfehlen. Gegen die Ukraine wird ein brutaler Vernichtungsfeldzug ohne jede humanitäre Verantwortung geführt.
Mit seinem Angriff hat Russland das Völkerrecht als Grundlage der internationalen Beziehungen grundsätzlich infrage gestellt. Es ist im Grunde verantwortungslos, der Ukraine nun eine rechtliche und moralische Verpflichtung zum Verhandeln zuzuweisen. Damit wird das Recht des Stärkeren gepredigt.
Peinlich war auch der Appell einiger Intellektueller, Moskau nicht durch die Unterstützung der Ukraine zu “reizen”. Die vorauseilende Kapitulation vor Gewalt wird durch solche Forderungen zur moralischen Maxime, die den Aggressor noch bestärkt. Sie bedient nur die auf Verängstigung gerichtete Strategie der hemmungslosen Kriegsführung des Kremls. Und natürlich bleibt die Krim ukrainisches Territorium.
WELT: Die deutsche Bevölkerung ist allerdings durchaus gespalten. Nur eine knappe Mehrheit befürwortet die Lieferung von Kampfpanzern.
Herdegen: Die Politik hat die Aufgabe zu vermitteln, dass sich die aufwendige Unterstützung und die finanziellen Opfer von unserer Seite lohnen. Dass wir die Risiken einer Eskalation ernst nehmen, aber auch nicht in Überängstlichkeit verfallen. Das Selbstverständnis der westlichen Gemeinschaft steht auf dem Spiel. Es ist unser Nachbarhaus, das brennt. Der Westen darf keinesfalls in einer naiven Beschwichtigungsrhetorik vor dem russischen Aggressor den Kniefall machen.
Erst wenn der Kreml den Preis des fortgesetzten Krieges so hoch findet, dass er sich lieber an den Verhandlungstisch setzt, besteht die Aussicht auf einen Frieden, der diesen Namen verdient. Nur so kann der Krieg enden. Dafür sind Waffenlieferungen und Munitionsnachschub unverzichtbar. Das Gegenteil zu fordern, zeugt von einer unterkomplexen Naivität und Romantik, die mir … Sorgen bereitet.”
((3)) Leider ist nicht ganz zweifelsfrei, was genau mit dem “Appell einiger Intellektueller” gemeint sein könnte. Es hat ja im Verlauf des letzten Jahres eine ganze Reihe offener Briefe gegeben. Es ist aber durchaus möglich – und wohl sogar wahrscheinlich, nur eben nicht absolut sicher -, dass Herdegen hier den Appell der 28 Intellektuellen und Künstler meint, der am 29. April 2022 in der Zeitschrift EMMA veröffentlicht wurde[7] – und mittlerweile (Stand 1.2.2023) von nahezu 500.000 Bürgern unterzeichnet worden ist.[8]
In diesem direkt an Bundeskanzler Scholz gerichteten Brief findet sich folgender Appell: “Wir bitten Sie … dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.”
Diesem Appell folgt ein normatives Bekenntnis: “Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.”
Und dann werden zwei Argumente formuliert, warum das militärische Engagement zugunsten der Ukraine nicht unbegrenzt erfolgen dürfe. Angeführt werden: “Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.”
Dieses zweite Argument wird dann nochmal präzisiert. Die Unterzeichner warnen vor dem “Irrtum”, “dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren “Kosten” an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.” Hier wird also glasklar der Anspruch formuliert, dass die Ende April 2022 von den Unterzeichnern für längst überfällig angesehenen Friedensverhandlungen die beste Option sind, die vitalen Interessen der ukrainischen Bevölkerung zu wahren.
((4)) Sicher hingegen ist, dass sich die Frage der WELT und die Antwort Herdegens auf den FAZ-Artikel von Prof. Dr. Reinhard Merkel bezieht.[9] Dieser war dort am 28. Dezember 2022 erschienen, und zwar interessanterweise unter dem Titel: “Verhandeln heißt nicht kapitulieren”. In diesem Artikel skizziert Merkel auf knappem Raum die Überlegung, dass es für die ukrainische Regierung zwar keine (völker-)rechtliche, wohl aber eine moralische Pflicht (“ex bello”) gebe, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen, um so die von Russland ausgehenden Kriegshandlungen zu beenden.
Merkel flankiert sein Argument mit folgender Klarstellung: “Die Pflicht des Angreifers, seine Aggression zu beenden, versteht sich … von selbst. Aber ihre Verweigerung hebt moralische Bindungen der ukrainischen Regierung nicht auf – weder gegenüber dem Rest der Welt noch und vor allem gegenüber ihrer eigenen Bevölkerung und ihren Soldaten.” Und für sein eigentliches Kernargument wählt Merkel dann folgende Formulierung:
“Wer als Person angegriffen wird und sich wehrt, darf das mit jedem Risiko für sich selbst und bis zum Verlust seines Lebens tun. Aber Regierungen haben Schutzpflichten gegenüber den Bürgern ihrer Länder. Dazu gehört auch die Verteidigung des Staates gegen Aggressoren, aber der Schutz von Leib und Leben und Zukunft seiner Bürger ebenfalls. Jenseits einer Schmerzgrenze, an der die Verwüstung des Landes und der Menschen jede moralische Proportionalität übersteigt, noch immer allein auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen ist nicht tapfer, sondern verwerflich.” Oder kurz und knapp: “Das alles indiziert eine Pflicht der Regierung in Kiew, Verhandlungen ex bello zu akzeptieren und deren konzessionslose Ablehnung zu beenden.”
Im Rahmen dieses Artikels geht Merkel kurz darauf ein, dass die Entwicklung des Völkerrechts “die Legitimation militärischer Gewalt entmoralisiert” habe, und zwar in dem präzisen Sinn, dass die traditionellen Vorstellungen vom gerechten Krieg heute als weitestgehend obsolet gelten, weil das Recht nicht der Gerechtigkeit, sondern dem Frieden – genauer: der Stabilisierung einer Friedensordnung – den Vorrang einräume. In diesem Kontext zieht er eine sicherlich kontroverse, für die aktuelle Diskussion aber extrem wichtige (= diskussionsbedürftige) Schlussfolgerung. Sie lautet:
Seit dem “Anschluss der Krim an Russland 2014 … steht die Krim unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt. Aus der ehedem rechtswidrigen Okkupation ist der stabile Zustand einer befriedeten Ordnung entstanden. Damit gewinnt die Friedensmaxime der UN-Charta, die Grundnorm ihres Gewaltverbots, Dominanz über abweichende Erwägungen zur territorialen Gerechtigkeit. Zugleich endet für die Ukraine die Möglichkeit, eine militärische Rückeroberung der Krim als Selbstverteidigung zu rechtfertigen. Das mag man missbilligen. ‘Der Besitzschutz des Räubers’, schrieb der Völkerrechtler Walter Schätzel schon 1953 über jene Maxime der Charta, ‘ist unerträglich.’ Vielleicht. Aber es geht nicht um Besitz-, sondern um Friedensschutz.”
((5)) Lässt man den herablassenden Tonfall einmal beiseite und analysiert rein inhaltlich, wie Herdegen zu diesen beiden Minderheits-Voten Stellung nimmt, dann fällt als erstes auf, dass er beide offenbar als “peinlich” empfindet. Als nächstes sticht ins Auge, dass er beiden Voten das Gegenteil von dem unterstellt, was dort tatsächlich als Meinung geäußert wurde. Der Anspruch des Minderheits-Narrativs, gegenüber dem Mehrheits-Narrativ einen im direkten Vergleich besseren Weg vorzuschlagen, die Interessen der ukrainischen Bevölkerung zu vertreten, wird hier schnurstracks ignoriert, also entweder nicht wahrgenommen oder aber nicht ernst genommen. Stattdessen wird einfach behauptet, dass die Überlegungen Merkels einer “eilfertigen Unterwerfung” gleichkämen, obwohl dieser explizit mit dem sogar im Titel ausgewiesenen Anspruch auftritt, verhandeln heiße nicht kapitulieren. Ferner wird es als “verantwortungslos” dargestellt, die Ukraine – genauer müsste es heißen: die ukrainische Regierung – zu Verhandlungen zu drängen, weil dies darauf hinauslaufe, “das Recht des Stärkeren” zu predigen.
All dies ist sichtlich einem Tradeoff-Denken verhaftet, demzufolge es nur Win-Lose-Optionen geben kann, so dass selbst die geringste Konzession an russische Interessen sofort als Verrat der Ukraine gebrandmarkt werden muss. Für einen Völkerrechtler ist dies eine bemerkenswerte intellektuelle Fehlleistung.
Ihr an die Seite gestellt ist eine zweite intellektuelle Fehlleistung. Sie besteht darin, auf Merkels differenzierte Argumentation zum Status der Krim nicht inhaltlich einzugehen, sondern einfach – argumentationsfrei – mit der trutzig-rechthaberischen Aussage zu replizieren: “Und natürlich bleibt die Krim ukrainisches Territorium.” Als Replik auf Merkels Argumentation erfüllt dies den Tatbestand der Diskursverweigerung.
Gegen den Appell der 28 Intellektuellen wird eingewendet, man betreibe dort eine “vorauseilende Kapitulation vor Gewalt”, sei ängstlich oder gar überängstlich und bediene damit letztlich “nur die auf Verängstigung gerichtete Strategie der hemmungslosen Kriegsführung des Kremls”, mache sich also zum nützlichen Idioten der russischen Regierung. Bemerkenswert hieran ist, dass das den Unterzeichnern so wichtige zweite Argument von Herdegen vollends ignoriert wird. Den Unterzeichnern geht es um das Bedenken, dass es moralisch verantwortungslos wäre, die Verletzung des Völkerrechts auf eine Art und Weise zu ahnden, die den Ukrainern unnötig großes Leid aufbürdet – und sie als Kriegsopfer instrumentalisiert, um Russland einen Denkzettel zu verpassen. Hierauf antwortet Herdegen nicht. Stattdessen argumentiert er an diesem Bedenken vorbei.
Dass hier kein Dialog, sondern ein Monolog stattfindet, keine argumentative Auseinandersetzung mit der Gegenposition, kein inhaltliches Aufeinandereingehen oder gar Aufeinanderzugehen, lässt sich auch beim weiteren Verlauf des Interviews nachweisen. Hier wird besonders deutlich, dass Herdegen die zweite Aussage des Mehrheits-Narrativs für sich als unausgesprochene Hintergrundannahme in Anspruch nimmt, so als läge die kursiv gesetzte Gegenaussage des Minderheits-Narrativs für ihn jenseits des realistischen Möglichkeitenraums.
Für Herdegen steht fest, dass sich die militärische Unterstützung lohnt und auszahlt, so dass es lediglich ein Kommunikationsproblem gibt, das die Regierung gefälligst zu lösen habe. Wie es sich aber verhält, wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird gar nicht erst erörtert. Stattdessen wird trutzig bekannt, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf – weil das Selbstverständnis des Westens auf dem Spiel stehe. Hier wechselt Herdegen von einer positiven zu einer normativen Aussage. Ihm geht es nicht um die nüchtern abzuschätzenden Konsequenzen für die ukrainische Bevölkerung, sondern um die Gesichtswahrung ihrer westlichen Unterstützer, die er – wiederum normativ formulierend – davor warnt, “vor dem russischen Aggressor den Kniefall” zu machen. Implizit wird hier vorausgesetzt, dass der Westen und letztlich auch die Ukraine davon profitiert, wenn man Putins Russland militärisch nur energisch genug entgegentritt.
Dies wird vollends deutlich, wenn man sich den vierten Absatz des zitierten Interviews genauer anschaut. Hier denkt Herdegen wiederum im Paradigma eines Tradeoffs, lässt dann aber nur ein einziges Ergebnis als überhaupt denkmöglich zu. Seine These lautet, dass Russland nur durch militärischen Widerstand an den Verhandlungstisch gezwungen werden kann. Hier lautet die zentrale Aussage: “Nur so kann der Krieg enden.”
Dies wirft natürlich die Frage auf, ob der Krieg nicht auch mit einer militärischen Niederlage und mit einer dann unausweichlichen Kapitulation der Ukraine enden könne und ob in diesem Fall nicht genau jener Diktatfrieden zu befürchten sei, den der Westen von Anfang zugunsten ukrainischer Interessen vermeiden wollte. Doch mit dieser Frage setzt sich Herdegen nicht auseinander.
Herdegen verweigert die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Frage, ob es aus Sicht des Westens und vor allem aus Sicht der ukrainischen Bevölkerung vielleicht klug sein könnte, einer militärischen Niederlage zuvorzukommen, indem man sich aktiv um Friedensverhandlungen bemüht. Anstatt zu erörtern, ob die Ukraine den Krieg verliert, begnügt er sich mit dem – durch allerlei Formulierungen zur abqualifizierenden Diskreditierung der Gegenseite garnierten – normativen Bekenntnis, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren dürfe.
Diese Ausweichstrategie ist typisch und mithin exemplarisch für zahlreiche andere Diskursbeiträge, die ebenfalls den Eindruck erwecken (wollen), sich inhaltlich mit dem Minderheits-Narrativ auseinanderzusetzen – und die es dennoch nicht schaffen, von einem seriösen “steelmanning” der Gegenposition auszugehen, weil sie über ein bloßes “strawmanning” nicht hinauskommen.[10] Die Folge: Man streitet nicht miteinander, sondern redet aneinander vorbei.
4. Offene Fragen aus Sicht des Minderheits-Narrativs
Ich will nun versuchen, aus der Beobachterposition einige Punkte zu markieren, die es wert wären, ins Zentrum einer sachlich geführten Debatte gerückt zu werden. Ich nehme zuerst die Perspektive des Minderheits-Narrativs ein und dann im nächsten Abschnitt die Perspektive des Mehrheits-Narrativs.
((1)) Um gleich mit dem schwierigsten Punkt zu beginnen: der Frage nach den Kriegsursachen, die oft mit der Zuweisung von Kriegsschuld beantwortet wird. In jedem Konflikt gibt es die “psycho-logische” Versuchung, sich selbst zu entlasten und die Gegenseite zu belasten. Dieser Versuchung entzieht man sich am besten mit einer “situations-logischen” Rekonstruktion der wechselseitigen Missverständnisse, Enttäuschungen und Erwartungsfehler, die schließlich zu einer Aufeinanderfolge von Aktionen, Reaktionen und Gegenreaktionen geführt haben, welche den Konflikt eskalieren ließen – so dass man sich nicht wechselseitig böse Absichten unterstellen muss, sondern stattdessen vom gemeinsam verursachten Scheitern einer ursprünglich auf Kooperation angelegten (Interaktions-)Beziehung trotz guter Absichten ausgehen kann. Man legt dann den Schwerpunkt nicht auf Schuldzuweisung, sondern auf Kausalzurechnung – und entdeckt unweigerlich eigene Fehler, die man in Zukunft freilich nur zu vermeiden vermag, wenn man sie kennt und sich ihrer bewusst ist. Insofern kann eine Aufarbeitung der Vergangenheit für die Gestaltung der Zukunft eine produktive Wirkung entfalten.
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass nicht nur europäische Politiker, sondern auch wichtige Größen der US-Außenpolitik frühzeitig, eindringlich und sogar mit öffentlich vernehmbarer Lautstärke davor gewarnt haben, dass eine fortschreitende NATO-Osterweiterung, insbesondere die Einbeziehung der Ukraine, unweigerlich zu einem Konflikt und schließlich zu einem Krieg mit Russland führen werde. Statt die öffentlich zugängliche Literatur hierzu umfänglich zu zitieren, will ich an dieser Stelle nur auf eine einzige Quelle hinweisen: die RAND-Studie aus dem Jahr 2019, die mittlerweile – bis in die Kreise von Verschwörungstheoretikern hinein – eine gewisse Berühmtheit erlangt hat.[11]
In dieser Studie werden zahlreiche Überlegungen angestellt, welche Maßnahmen geeignet sein könnten, Russlands Machtposition dauerhaft zu unterminieren. Neben Wirtschaftssanktionen wird unter anderem auch diskutiert, ob man das prekäre Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland strategisch ausnutzen könne. Explizit werden zwei Maßnahmen diskutiert: (a) die offizielle Förderung einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft sowie (b) die Ausrüstung der Ukraine mit Kriegswaffen.
Zur ersten Maßnahme liest man, dass selbst die auf absehbare Zeit unrealistische Befürwortung einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft Russland schwächen und seine Ressourcen beanspruchen sowie unproduktiv binden könne:
“The United States could … become more vocal in its support for NATO membership for Ukraine. … While NATO’s requirement for unanimity makes it unlikely that Ukraine could gain membership in the foreseeable future, Washington’s pushing this possibility could boost Ukrainian resolve while leading Russia to redouble its efforts to forestall such a development.”[12]
Zur zweiten Maßnahme liest man die überraschend offenherzige Warnung, dass eine militärische Aufrüstung der Ukraine zur russischen “Gegen-Eskalation” (sic!) und sogar zum Krieg führen könne und dass für diesen Fall nicht nur für Russland mit dramatisch negativen Konsequenzen zu rechnen sei, sondern auch für den Westen und insbesondere für die Ukraine. Es werden Flüchtlingsströme, Gebietsverluste und zahlreiche Tote in Aussicht gestellt – einschließlich der Option, dass die Ukraine aus Friedensverhandlungen deutlich geschwächt herauskommen könne. Hierzu liest man:
“An increase in U.S. security assistance to Ukraine would likely lead to a commensurate increase in both Russian aid to the separatists and Russian military forces in Ukraine, thus sustaining the conflict at a somewhat higher level of intensity. … Alternatively, Russia might counter-escalate [sic!], committing more troops and pushing them deeper into Ukraine. Russia might even preempt U.S. action, escalating before any additional U.S. aid arrives. Such escalation might extend Russia; Eastern Ukraine is already a drain. Taking more of Ukraine might only increase the burden, albeit at the expense of the Ukrainian people. However, such a move might also come at a significant cost to Ukraine and to U.S. prestige and credibility. This could produce disproportionately large Ukrainian casualties, territorial losses, and refugee flows. It might even lead Ukraine into a disadvantageous peace.”[13]
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, mit welchen Argumenten man noch länger an der bislang populären Praxis festhalten will, davon zu sprechen, es handele sich um einen “nicht-provozierten” Krieg. Stünde es uns nicht besser zu Gesicht, eine wechselseitige Verursachung anzuerkennen, anstatt – gegen die Faktenlage – auf einer einseitigen Schuldzuweisung zu beharren? Wäre es nicht klug, das Overton-Fenster wieder etwas zu öffnen und ernsthaft darüber zu diskutieren, ob vielleicht nicht nur Russland, sondern auch die Ukraine und – dies vor allem – auch wir im Westen Fehler gemacht haben, die wir in Zukunft lieber nicht noch einmal begehen wollen?
((2)) Der zweite Punkt betrifft die Faktenfrage, wie die militärischen Erfolgsaussichten der Ukraine einzuschätzen sind, wenn man sich nicht der offiziösen Kriegspropaganda mit ihren optimistischen Durchhalteparolen oder gar einem bloßen Wunschdenken anheimgeben will, sondern an einem realistischen Urteil interessiert ist.
Mit öffentlich zugänglichen Informationen stellt sich mir das Bild der militärischen Lage(entwicklung) in groben Umrissen wie folgt dar (Stand 1.2.2023):
- Die ukrainische Armee wurde vor Kriegsbeginn vornehmlich von den USA militärisch aus- und aufgerüstet. Dies hat es ihr ermöglicht, den russischen Angriff – insbesondere die Luftlandeoperation nahe Kiew und die damit verbundenen Umsturzpläne – kurzfristig zu parieren.
- Die ukrainische Armee wurde nach Kriegsbeginn von den USA und von westlichen NATO-Staaten militärisch nachgerüstet, zum einen mit Waffen aus ursprünglich russischer Produktion, zum anderen mit westlichen Waffen. Dies hat es ihr ermöglicht, eine stellenweise erfolgreiche Offensive gegen quantitativ überstrapazierte russische Truppen ins Werk zu setzen.
- Daraufhin hat die russische Regierung radikale Maßnahmen ergriffen. Hierzu gehören die partielle Mobilmachung, die Neustrukturierung der militärischen Leitungsorganisation sowie die Annexion der vier ost-ukrainischen Verwaltungsbezirke Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, die am 30. September 2022 in die Russische Föderation integriert wurden. Damit hat sich die Lage radikal geändert: Für Putin und seine Führungsmannschaft steht ab jetzt die politische Karriere – und vielleicht sogar die physische Existenz – auf dem Spiel. Metaphorisch ausgedrückt hat sein Regime nun alles auf eine einzige Karte gesetzt – und militärisch die für nötig gehaltenen Vorbereitungen getroffen, diese Karte mit harter Entschlossenheit als Trumpf auszuspielen.
- Gegenwärtig wird von den NATO-Partnern angestrebt, der Ukraine mit westlichen Panzern und entsprechender Munition eine dritte Ausrüstung zu Verfügung zu stellen, nachdem die zuvor gelieferten Waffen weitgehend zerstört sind.
- Angesichts einer – vielleicht noch in diesem Winter, spätestens aber im kommenden Frühjahr – bevorstehenden Offensive russischer Truppen mehren sich in letzter Zeit sachkundige Stimmen, die – sei es im Interesse der Ukraine, sei es im Interesse des Westens – davor warnen, die Kriegshandlungen unbeirrt fortzusetzen.
Um nur ein Beispiel zu geben: In der jüngsten RAND-Studie wird der Prolongierung des Krieges eine deutliche Absage erteilt – u.a. deshalb, weil man es für unwahrscheinlich hält, dass die Ukraine jetzt noch weiter bedeutende militärische Erfolge erzielen kann. Hierzu liest man:
“Some analysts make the case that the war is heading toward an outcome that would benefit the United States and Ukraine. Ukraine had battlefield momentum as of December 2022 and could conceivably fight until it succeeds in pushing the Russian military out of the country. Proponents of this view argue that the risks of Russian nuclear use or a war with the North Atlantic Treaty Organization (NATO) will remain manageable. Once it is forced out of Ukraine, a chastened Russia would have little choice but to leave its neighbor in peace – and even pay reparations for the damage it caused. However, studies of past conflicts and a close look at the course of this one suggest that this optimistic scenario is improbable.”[14]
Im Hinblick auf das nationale Interesse der USA werden sodann zahlreiche Überlegungen vorgebracht. Am Ende steht die Schlussfolgerung, dass ein langer Krieg mehr Nachteile als Vorteile verspricht. Hierzu liest man:
“The negative consequences of a long war would be severe. So long as the war is ongoing, escalation risks will remain elevated. Duration and escalation risks are thus directly linked. Additionally, a longer war will continue to cause economic harm to Ukraine as well as to Europe and the global economy. For the United States, a longer war will entail both increased direct costs (such as more budgetary and military support to Ukraine) and increased opportunity costs in terms of pursuing other foreign policy priorities. More Ukrainians will suffer and the upward pressure on food and energy prices will continue while the war is ongoing. There are possible benefits to protracted conflict: a further weakening of Russia and the opportunity for Ukraine to make territorial gains. But the former no longer represents a significant benefit; Russia has already been weakened dramatically. And the latter is uncertain – more time might allow Russia to make gains – and the benefit of further Ukrainian territorial control … is important for the United States but does not outweigh the consequences of a long war.”[15]
Aus Sicht der Autoren ist das wesentliche Kriegsziel der USA also bereits erreicht. Dieses identifizieren sie als Schwächung Russlands. Hier stehen für die USA drei Aspekte im Vordergrund: (a) Russlands enormer Verbrauch militärischer Ressourcen; (b) die Entkopplung Europas von russischer Energieversorgung und (c) eine Stärkung der NATO durch ein größeres militärisches Engagement der europäischen Partner. Zu den letzten beiden Aspekten liest man:
“A long war would also maintain pressure on European governments to continue to reduce energy dependence on Russia and spend more on their defense, possibly lessening the U.S. defense burden in Europe over the long run. Here too, however, it is likely that European countries will maintain these policies regardless of how much longer the war lasts.”[16]
Es gibt auch noch einen vierten Aspekt: die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine in den Grenzen von 1991. Hierzu liest man:
“[I]f Ukraine were to rout the Russian military and retake all of its territory, including Crimea, the risks of nuclear use or a Russia-NATO war would spike.”[17] Und ferner: “[A]voiding a long war is … a higher priority for the United States than facilitating significantly more Ukrainian territorial control.”[18]
Insgesamt mündet die Studie in die Schlussfolgerung, dass es im nationalen Interesse der USA liegt, ab sofort auf einen Friedensschluss hinzuwirken, also nicht länger eine Verlängerung, sondern eine Abkürzung der Kriegshandlungen anzustreben. Hierzu werden folgende Maßnahmen empfohlen, die darauf abzielen, sowohl für Russland als auch für die Ukraine deren jeweilige nationale Kosten-Nutzen-Analyse eines Wechsels von Krieg zu Frieden pazifizierend zu beeinflussen:
- Klärung (und Konditionierung) der US-Militärhilfe für die Ukraine mit dem Ziel, Russland von weiteren Kriegshandlungen zu entmutigen und sanften Druck auf die Ukraine auszuüben, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen
- Sicherheitsgarantien der USA und ihrer westlichen Partner für die Ukraine jenseits einer NATO-Mitgliedschaft
- Erste Konzession an Russland: Neutralitätsgarantien der USA und ihrer westlichen Partner für die Ukraine jenseits einer NATO-Mitgliedschaft
- Zweite Konzession an Russland: Klärung der Bedingungen für eine Aufhebung der gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen
Hierzu liest man abschließend folgende Empfehlung:
“President Biden has said that this war will end at the negotiating table. But the administration has not yet made any moves to push the parties toward talks. Although it is far from certain that a change in U.S. policy can spark negotiations, adopting one or more of the policies described in this Perspective could make talks more likely. We identify reasons why Russia and Ukraine may have mutual optimism about war and pessimism about peace. The literature on war termination suggests that such perceptions can lead to protracted conflict. Therefore, we highlight four options the United States has for shifting these dynamics: clarifying its plans for future support to Ukraine, making commitments to Ukraine’s security, issuing assurances regarding the country’s neutrality, and setting conditions for sanctions relief for Russia.”“[19]”
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum es nicht auch in Deutschland möglich sein sollte, einen – natürlich kontroversen, aber seriöse Positionen nicht ausgrenzenden – Diskurs über solche Fragen zu führen.
((3)) In der Öffentlichkeit wird sehr viel über den möglichen Einsatz von Nuklearwaffen diskutiert sowie über die Gefahr, dass es zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und er NATO kommen könnte. Es gibt aber noch weitere Worst-Case-Szenarien, die – zumindest in der breiteren Öffentlichkeit – bislang so gut wie keine Aufmerksamkeit erfahren haben.
Ein erstes Szenario besteht darin, dass Russland mit seiner nächsten oder übernächsten Offensive die Ukraine militärisch in die Knie zwingt und bis zu diesem bitteren Ende Verhandlungen strikt ablehnt, aus folgendem Kalkül heraus: Weil das Vertrauen Russlands in etwaige Verträge mit der Ukraine bzw. mit dem Westen nachhaltig zerstört ist – unter anderem aufgrund der mit zahlreichen Wirtschaftssanktionen verbundenen Verletzung russischer Eigentumsrechte -, sucht Russland eine Friedensordnung, in der es ein Wohlverhalten der Ukraine stets erzwingen kann. Metaphorisch ausgedrückt setzt Russland darauf, die Ukraine in einen permanenten Würgegriff zu nehmen. Zu diesem Zweck wird die gesamte Schwarzmeerküste (inklusive Odessa) erobert, so dass die Ukraine die Kontrolle über die für ihre Exporte enorm wichtigen Häfen komplett verliert und permanent darauf angewiesen ist, dass Russland ihr diesen Zugang nicht verweigert. Die Transitrechte wären also ein dosierbares Disziplinierungsinstrument, das Russland anstreben könnte, um die (aus russischer Sicht) mangelhafte Glaubwürdigkeit der Gegenseite im Hinblick auf vertragliche Bindungen zu kompensieren. Die Logik: Governanceprobleme, die ex-post auftreten, schlagen sich per Antizipation im Verhalten ex-ante nieder.
Ein zweites Szenario besteht darin, dass sich das Afghanistan-Debakel wiederholt. Nachdem es lange Zeit offizielle Politik war, die westliche Freiheit am Hindukusch zu verteidigen, haben sich die USA in einer nicht abgestimmten und nicht einmal rechtzeitig kommunizierten Art und Weise im August 2021 aus Afghanistan zurückgezogen – und ihre europäischen Alliierten (sowie deren afghanische Partner) damit nicht nur brüskiert, sondern zudem auch in arge Schwierigkeiten gebracht. Wie würde man damit umgehen, wenn sich eine solche Vorgehensweise – ein hegemonialer Alleingang – in Sachen Ukraine wiederholt? Hier steht vielleicht weniger zu befürchten, dass die USA ihre militärische Unterstützung kurzfristig einstellen. Realistisch zu befürchten ist aber sehr wohl, dass die USA ihre wirtschaftliche Unterstützung mittelfristig massiv zurückfahren werden und es dann den Europäern überlassen, den Wiederaufbau einer weitgehend zerstörten und zudem durch Kriegskredite hochverschuldeten Ukraine zu finanzieren (und auch sonst die Hauptkosten des Konflikts zu tragen). In diese Richtung weist, dass die in den letzten Monaten forcierte Strategie der Regierung Biden, die USA auf eine zunehmend protektionistische Wirtschaftspolitik auszurichten, wenig Rücksicht auf europäische Interessen gezeigt hat, von einer partnerschaftlichen Solidarität mit Europa ganz zu schweigen.
5. Offene Fragen aus Sicht des Mehrheits-Narrativs
Für die ordonomische Diagnose eines durch multiple (Denk-)Blockaden ausgelösten Diskursversagens spricht, dass es nicht nur aus der Perspektive des Minderheits-Narrativs, sondern – dies mag vielleicht überraschen – auch aus der Perspektive des Mehrheits-Narrativs offene Fragen gibt, die wichtig sind, aber kaum in der breiteren Öffentlichkeit adressiert werden. Auch hier will ich mehrere Punkte hervorheben.
((1)) Wenn es tatsächlich darum geht, die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren zu lassen, dann stellt sich die Frage, ob – gemessen an diesem Ziel – die militärische Unterstützung des Westens wirklich effektiv war – oder ob sie nicht das beschämende Etikett verdient, als “too little, too late” (dis-)qualifiziert zu werden. Hier ist insbesondere auf drei Aspekte hinzuweisen, die problematische Folgewirkungen nach sich ziehen:
- Erstens: Die zögerliche Unterstützung des Westens ermutigt Russland zu der Erwartung, dass die Ukraine irgendwann allein im Regen steht.
- Zweitens: In der Ukraine wird die Planungsunsicherheit erhöht. Dies sorgt für unnötige Fehler und für unnötige Frustration – bis hin zu dem unguten Gefühl, verraten (und verheizt) zu werden.
- Drittens: Bei besorgten Bürgern des Westens entsteht der Eindruck einer Salamitaktik, die mit Soldatenhelmen beginnt und am Ende doch bei NATO-Bodentruppen endet.
Fraglich ist also, ob es nicht gravierende Nachteile gibt – die militärischen Erfolgsaussichten betreffend, aber auch den innenpolitischen Widerstand -, die vermeidbar gewesen wären, wenn man sich von vornherein mit mehr Transparenz, vor allem aber auch mit mehr Ressourcen engagiert hätte.
((2)) Der Westen hat sich dazu entschieden, die Ukraine nicht nur militärisch zu unterstützen, sondern auch dadurch, außergewöhnlich harte und umfangreiche wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Einerseits wollte man die auf Importe angewiesene russische Rüstungsindustrie boykottieren. Andererseits wollte man die mit Energieexporten erwirtschafteten finanziellen Ressourcen begrenzen, die Russland zur Kriegsführung zur Verfügung stehen. Auch die Konfiskation von Devisenbeständen, die die russische Zentralbank im Ausland hielt, sollten diesem Zweck dienen. Insgesamt wurden an die diversen Maßnahmenpakete große Hoffnungen geknüpft.
Wie es derzeit aussieht, haben sich viele dieser Hoffnungen nicht erfüllt. In seiner aktuellen Wachstumsprognose schätzt der Internationale Währungsfonds, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2022 um (lediglich!) 2,2 % geschrumpft ist. Für die Jahre 2023 und 2024 werden für Russland sogar positive Wachstumsraten erwartet, nämlich 0,3 % und 2,1 %.[20] Dies dürfte ganz wesentlich darauf zurückzuführen sein, dass es Russland überraschend gut gelungen ist, die Energieexporte von Sanktionsländern zu Nicht-Sanktionsländern umzulenken.
Damit stellen sich drei Fragenkomplexe, die einer ernsthaften Erörterung bedürfen.
- Obwohl die westlichen Wirtschaftssanktionen Russland bislang nicht sonderlich geschadet haben, sind in den Sanktionsländern selbst – vor allem in Europa – durchaus gravierende Wohlstandseinbußen sowie bei indirekt betroffenen Drittländern immense Kollateralschäden zu verzeichnen. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, das Instrument der Wirtschaftssanktionen für zukünftige Anwendungsfälle einer gründliche(re)n Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen.[21]
- Aber auch schon kurz- bis mittelfristig wird man darüber nachdenken müssen, inwiefern die Aufhebung der (Wirtschafts-)Sanktionen dazu eingesetzt werden sollte, Friedensverhandlungen für Russland attraktiver zu machen. Man kann es auch umgekehrt ausdrücken: Wie wollen wir damit umgehen, dass ein prolongierter Versuch, Russland zum international isolierten Paria-Staat zu machen, ebenso wie ein ad infinitum in Aussicht gestellter Verzicht auf russische Gaslieferungen die Anreizwirkung entfaltet, den Krieg zu verlängern und Russland weniger geneigt zu machen, der Ukraine in Verhandlungen mit Konzessionen zu begegnen?
- Um es konkret zu machen: Man wird aufarbeiten müssen, wer die durch die Ostsee von Russland nach Deutschland verlaufenden Gaspipelines gesprengt hat. Und man wird entscheiden müssen, ob sie repariert und wieder in Stand gesetzt werden sollen – und wer dies gegebenenfalls finanziert. Und falls man sich – nach Abwägung von Pro und Contra – dafür entscheidet, wird man nicht umhin können, unter Einschluss strikt sicherheitspolitischer Argumente strategische Überlegungen darüber anzustellen, in welchem Ausmaß russische Gaslieferungen wieder aufgenommen werden sollen. In diesem Zusammenhang muss auch die Frage erörtert werden, ob man sich von westlicher Seite unter klimapolitischen Vorzeichen der Aufgabe annehmen oder lieber verweigern will, Russland bei der Umstellung auf eine Wasserstoff-Infrastruktur hilfreich zur Seite zu stehen. Ohne intime Kenntnis von Für und Wider – und das heißt nun einmal: ohne den Entdeckungsprozess einer kontroversen Diskussion – wird man solch diffizile Probleme nicht verantwortungsvoll lösen können. Man sieht: Hier steht die Wirtschaftspolitik, die Umweltpolitik und die Sicherheitspolitik vor großen Herausforderungen, die sich nur mit einer konsistenten Gesamtstrategie bewältigen lassen. Mit blockierten Diskursen ist die aber nicht zu haben.
((3)) Vor großen Herausforderungen steht aber auch die deutsche Außenpolitik, die, wie es derzeit aussieht, in jüngster Zeit unter dem Stichwort “Werteorientierung” eine grundlegende Neuausrichtung erfahren hat.
Um nur ein Beispiel zu geben: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat vor kurzem eine Grundsatzrede gehalten, in der sie sich dafür einsetzt, das Völkerrecht konstruktiv weiterzuentwickeln.[22] Hierzu propagiert sie drei Maßnahmen.
Erstens befürwortet sie, die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag auszuweiten:
“Ich möchte … dafür werben, die Beschränkung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshof [sic!] für das Verbrechen der Aggression zu überwinden und sie auf das Maß auszuweiten, das auch für andere Kernverbrechen gilt. Das heißt, dass es für das Verbrechen der Aggression wie im Falle von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ausreichen muss, dass der Opferstaat Vertragspartei ist.”
Hierfür müsste das aus dem Jahr 1998 stammende und zuletzt 2010 geänderte Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nachgebessert werden. Dies würde es erfordern, mindestens die mittlerweile 123 Beitrittsstaaten erneut an den Verhandlungstisch zu bringen. Dass sie hiermit einen Weg einschlägt, der – gelinde gesagt – schwierig und langwierig werden dürfte, ist der deutschen Außenministerin durchaus klar. Sie gibt hierüber folgende Auskunft:
“Mir ist bewusst, dass viele unserer Partner, auch unserer engsten Freunde, das kritisch sehen. Und dass es dabei um viele komplexe Themen geht, etwa um Rückwirkung. Auch das ist außer Frage. Es stellen sich viele Folgefragen. … Deswegen werden wir viele Gespräche führen. Mit unseren Partnern, aber auch mit Expertinnen und Experten …, mit Juristinnen und Juristen auf der ganzen Welt. Wir können jetzt in vielen Fragen zehn Gegenargumente und zehn Pro-Argumente aufführen. Und hinter solchen rechtlichen Debatten, die dann auch noch politisch werden, kann sich jeder Politiker bestens verstecken. Aber im Lichte des Mutes derjenigen, die in der Ukraine für unsere Freiheit und unseren Frieden kämpfen, sollten wir uns in warmen, in friedlichen, in freien Hörsälen und Plenarsälen nicht verstecken, sondern wir sollten dieses juristische Brett jetzt bohren.”
Zweitens setzt sich Annalena Baerbock dafür ein, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag die im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verübten Menschenrechtsverletzungen untersucht. Hierzu schreibt sie:
“Accountability matters. Weil die Täter hier in Europa und in allen anderen Teilen der Welt wissen müssen, dass sie nicht ungeschoren davonkommen. Es geht um Abschreckung. Aber hier geht es entscheidend auch um Gerechtigkeit für die Opfer. Die Menschen, die in Butscha, Charkiw[,] in Mariupol so unermessliches Leid erfahren haben und leider weiter erfahren, die um ihre Brüder und ihre Schwestern und ihre Eltern, um ihre Kinder und ihre Freunde trauern. Die die von russischer Seite begangenen Verbrechen am eigenen Leib erfahren haben müssen. Vergewaltigung, Verschleppung, Gewalt, Folter und Mord. Sie alle brauchen Hoffnung auf Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden. Deswegen ist es so wichtig, dass der Gerichtshof diese Verbrechen untersucht und vor Gericht bringen kann als Kriegsverbrechen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, möglicherweise als Verbrechen des Völkermords. Und dass sich die russische Führung dabei nicht auf Immunität berufen kann.
Deutschland gehört zu den 43 Staaten, die den Internationalen Strafgerichtshof mit diesen Verbrechen in der Ukraine befasst haben. Das haben wir in Solidarität mit den Menschen in der Ukraine getan. Wir haben es aber auch gemacht, weil wir davon überzeugt sind, dass die Verfolgung dieser furchtbaren Verbrechen für die gesamte internationale Gemeinschaft von Bedeutung ist.”
Drittens setzt sich Annalena Baerbock dafür ein, zur Ahndung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – eines Verstoßes gegen Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta – ein internationales Sondertribunal einzurichten. Zum rechtlichen Hintergrund: Im gegenwärtigen Status quo können nur (a) solche Fälle behandelt werden, in denen Kläger und Beklagte Mitglied des Internationalen Gerichtshofs sind, oder nur (b) solche Fälle, die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen überwiesen werden. Nun ist Russland zum einen (ganz analog zu den USA) kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshofs, und zum anderen verfügt es (ganz analog zu den USA) aufgrund seines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat über ein Vetorecht, mit dem es eine Zuweisung von Fällen an das Gericht jederzeit blockieren könnte. Aus diesen Gründen ist unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht damit zu rechnen, dass Mitglieder der russischen Regierung für das Verbrechen eines Angriffskrieges auf die Ukraine verurteilt werden (können).
In ihrer Grundsatzrede skizziert Annalena Baerbock, wie sie dies ändern will:
“Unsere Idee mit einigen Partnern ist daher, dass es eine Möglichkeit gibt, um den Internationalen Strafgerichtshof zu stärken und nicht zu schwächen, dass ein Gericht seine Jurisdiktion aus dem ukrainischen Strafrecht ableitet. Wichtig wäre für mich und ich glaube für viele andere auch, dass das durch eine internationale Komponente ergänzt wird. Natürlich darf es keinen Sonderweg für einen Aggressor geben, sondern das, was wir schaffen, muss von möglichst vielen in der Welt getragen werden. Daher ist es für uns wichtig, dass wir eine internationale Komponente haben, die zum Beispiel mit einem Standort außerhalb der Ukraine mit finanzieller Unterstützung durch Partner und mit internationalen Staatsanwälten und Richtern, die Unparteilichkeit und die Legitimität dieses Gerichtes untermauert.
Ja, das wäre ein neues Format. … Denn es stimmt: Eine Sonderinstitution wäre keine ideale Lösung. Auch nicht für mich. Er ist, was der Name suggeriert: ein Sonderfall. Aber dass wir diese Sonderlösung brauchen, das liegt daran, dass unser Völkerrecht derzeit eine Lücke hat.”
Diese insgesamt drei Maßnahmen bündelnde Initiative zur Stärkung des Völkerrechts ist zweifelsfrei gut gemeint. Dennoch wirft sie Fragen auf, die offen diskutiert werden sollten:
- In ihrer Grundsatzrede betont Annalena Baerbock als ihre innere Überzeugung: “Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen dauerhaften Frieden.” “Gerechtigkeit für individuelle Opfer sind [sic!] der Schlüssel für dauerhaften Frieden.” Und auch im Hinblick auf das Sondertribunal schreibt sie: “Wir können uns Gerechtigkeit nicht herbeiwünschen. Es liegt an uns, sie zu schaffen.” Nun sind manche Aussagen auf eine so verquere Art und Weise falsch, dass auch nicht einfach das Gegenteil richtig wäre. Sicherlich ist es kein Patentrezept für Frieden, auf Ungerechtigkeit zu setzen. Aber auf Gerechtigkeit zu setzen, ist eben auch kein Patentrezept. Von daher stellt sich die grundlegende Frage, ob wir es bei der hier angestrebten Kriminalisierung kriegerischer Aggression wirklich – nicht mit Blick auf sicherlich gute Absichten, sondern auf reale Konsequenzen – mit einer konstruktiven Weiterentwicklung oder stattdessen eher mit einer Rückentwicklung des Völkerrechts zu tun hätten: mit einer weiteren Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen oder stattdessen mit einer Moralisierung historischer (Un-)Gerechtigkeit, die einen in die Zukunft gerichteten Interessenausgleich und Friedensschluss zwischen Kriegsparteien eher erschwert als erleichtert.
- Eine demgegenüber eher pragmatische Frage lautet, ob die Kriminalisierung eines kriegerischen Angriffs wirklich zur Verhinderung von Angriffskriegen führen würde. Vielleicht würden einfach nur mehr Ressourcen investiert, um den Anfang des Krieges zu verschleiern – und um ihn möglichst der Gegenseite zuschreiben zu können, wie im Spiel “Schwarzer Peter”.
- Ist es wirklich eine gute Idee, ein Sondertribunal einrichten zu wollen, während der Ukraine-Konflikt noch militärisch ausgetragen wird? Welche Anreizwirkungen entfaltet dies auf die Kriegsführung der beiden Konfliktparteien?
- Erleichtert oder erschwert, beschleunigt oder verzögert die Idee eines Sondertribunals Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine?
- Wie lässt sich der Eindruck einer intendierten Siegerjustiz vermeiden? Und mit welchen Folgewirkungen ist zu rechnen, wenn sich dieser Eindruck nicht glaubwürdig vermeiden lässt? Es macht ja einen – wie Annalena Baerbock selbst betont – durchaus gewichtigen Unterschied, ob eine Staatsregierung die auf eigenem Territorium begangenen Verbrechen in einem Bürgerkrieg anklagt oder ob Drittstaaten – gleichsam von außen – disziplinarisch ein- und durchgreifen.
- Wichtig ist aber auch, sich gründlich zu überlegen, wie die Idee eines Sondertribunals die ja wohl irgendwann stattfindenden Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland übersteht: Wenn man sich am Verhandlungstisch pragmatisch darauf einigt, kein Sondertribunal durchzuführen, geht dann das Völkerrecht gestärkt oder geschwächt aus diesem Prozess hervor?
- Wie verhalten sich die USA zu der Idee, militärische Aggression zu kriminalisieren? Und welche Auswirkung hat dies auf die Glaubwürdigkeit einer regelbasierten Ordnung und ihrer völkerrechtlich kodifizierten Prinzipien? Kurz: Wie universalisierungsfähig ist Annalena Baerbocks Initiative? Lässt sie sich auch auf andere Konflikte anwenden, bei denen der Westen selbst betroffen ist und am Pranger steht?
- Um eine besonders unangenehme Frage aufzuwerfen: Wie geht man mit jenen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen um, die nicht von der russischen Angriffsarmee, sondern von der ukrainischen Verteidigungsarmee begangen werden? Dies betrifft vor allem die inzwischen gut dokumentierten Misshandlungen bzw. Tötungen gefangener Soldaten. Gilt hier wirklich: Gleiches Recht für alle?[23]
- Letzter Punkt: Wie sieht eine – mit allen relevanten Partnern durchdachte und abgestimmte – Außenpolitik aus, die die von ihr ergriffenen Maßnahmen zur Stärkung des Völkerrechts mit den unter militärpolitischen und wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten getroffenen Entscheidungen zur Unterstützung der Ukraine strategisch so bündelt, dass eine verantwortbare Gesamtstrategie mit klar ausgewiesenen Zielen und Mitteln erkennbar wäre?
Zusammenfassung und Ausblick
Ich habe in diesem Artikel abschnittsweise folgende Thesen vertreten:
- Diskursversagen liegt objektiv dann vor, wenn der gesellschaftliche Prozess eines argumentativen Erkenntnisfortschritts blockiert wird. Dies wird typischerweise durch Denkblockaden, Denkfehler und Denkverbote ausgelöst.
- Eine bewährte Therapie, um erfolgreich gegen Diskursversagen vorzugehen, besteht darin, allgemein – bei sich und bei anderen – darauf zu achten, dass “strawmanning” durch “steelmanning” ersetzt wird, also jene Positionen, mit denen man sich kritisch auseinandersetzen möchte, nicht so schwach, sondern so stark wie möglich dargestellt werden. Hilfreich wäre es, diese Form intellektueller Rechtschaffenheit durch informale Anreize – bottom-up – zu unterstützen und allmählich – in Form eines “Ideologischen Turing-Tests” – sogar zu institutionalisieren.
- In den aktuellen Debatten zum Ukraine-Konflikt kommt es oft vor, dass die Vertreter des Mehrheits- und des Minderheits-Narrativs sich mit ihrer jeweiligen Kritik und Gegenkritik argumentativ verfehlen. Sie streiten oft nicht miteinander, sondern reden aneinander vorbei. Genau das macht blockierte Diskurse so unproduktiv.
- Auf beiden Seiten – bei den Vertretern des Minderheits-Narrativs ebenso wie bei den Vertretern des Mehrheits-Narrativs – gibt es derzeit zahlreiche offene Fragen, die wenig diskutiert werden, obwohl man sich nur schwer vorstellen kann, wie sich Demokratien vernünftig orientieren können, wenn sich ihre Bürger und insbesondere ihre diversen Experten nicht frei – vor allem: vorurteilsfrei und ergebnisoffen – zum Diskurs (und dann auch im Diskurs) zusammenfinden können.
Ich möchte diesen Thesen noch kurz – als Ausblick – eine Abschlussüberlegung zur Seite stellen. Sie rekurriert auf die Funktionalität bzw. Dysfunktionalität moralischer Gefühle und verweist – analog zur Differenz zwischen Justiz und Selbstjustiz – auf die Differenz zwischen Gerechtigkeit und Selbstgerechtigkeit. Pointiert zugespitzt, lautet sie wie folgt: Nichts hemmt das Denken und enthemmt das Verhalten so sehr wie Drogen – oder die verführerische Selbstgewissheit eines vermeintlich reinen Gewissens. Deshalb hätte es nicht nur eine kognitive, sondern auch eine moralische Dimension, wenn wir uns in Diskursen (wieder) verstärkt mit epistemischer Demut begegnen würden: Wir alle sind fallibel und deshalb wechselseitig aufeinander angewiesen, auf unser aller Argumente und Gegenargumente, wenn wir im größtmöglichen Umfang politische Vernunft walten lassen wollen.
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Kling, Arnold (2013, 2019): The Three Languages of Politics. Talking Across the Political Divides. 3. Auflage, hrsg. vom Cato Institute, Washington D.C.
Merkel, Reinhard (2022): Verhandeln heißt nicht kapitulieren, Onlineartikel in der FAZ vom 28. Dezember 2022, im Internet unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/gibt-es-fuer-die-ukraine-eine-pflicht-zur-verhandlung-18561825.html (letzter Zugriff am 31.1.2023).
Pies, Ingo (2023): Kriegspropaganda im Ukraine-Konflikt – Eine ordonomische Diskursanalyse, Diskussionspapier Nr. 2023-02 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle. Im Internet unter: https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=64039&elem=3463847 (letzter Zugriff am 2.2.2023).
Statista (2022): Ukraine: Real gross domestic product (GDP) growth rate from 2012 to 2022, im Internet unter: https://www.statista.com/statistics/1258213/gross-domestic-product-gdp-growth-rate-in-ukraine/#:~:text=The%20growth%20of%20the%20real%20gross%20domestic%20product,in%20the%20gross%20domestic%20product%20at%20current%20prices (letzter Zugriff am 2.2.2023).
Wikipedia (2023): Turing-Test, im Internet unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test (letzter Zugriff am 2.2.2023).
Fussnoten
[1] Vgl. Pies (2023).
[2] Zu den Zitaten vgl. Galef (2021; S. 14). Ebenfalls in dieser Hinsicht informativ ist der Konversationsratgeber von Boghossian und Lindsay (2019). Thematisch einschlägig und extrem aufschlussreich ist auch die kleine Studie über politische Diskursschwierigkeiten von Kling (2013, 2019).
[3] Zur Erläuterung. Der originäre Turing-Test geht auf Alan Turing zurück und betrifft die Frage, inwiefern man die Rechenleistung eines Computers von der Denkleistung eines Menschen unterscheiden kann. Bei Wikipedia (2023) liest man hierzu: “Im Zuge dieses Tests führt ein menschlicher Fragesteller, über eine Tastatur und einen Bildschirm, ohne Sicht- und Hörkontakt, eine Unterhaltung mit zwei ihm unbekannten Gesprächspartnern. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere eine Maschine. Kann der Fragesteller nach der intensiven Befragung nicht sagen, welcher von beiden die Maschine ist, hat die Maschine den Turing-Test bestanden und es wird der Maschine ein dem Menschen ebenbürtiges Denkvermögen unterstellt.” – Hierauf aufbauend liest man zum “Ideological Turing-Test” bei Caplan (2011): “If someone can correctly explain a position but continue to disagree with it, that position is less likely to be correct. And if ability to correctly explain a position leads almost automatically to agreement with it, that position is more likely to be correct. (See free trade). It’s not a perfect criterion, of course, especially for highly idiosyncratic views. But the ability to pass ideological Turing tests – to state opposing views as clearly and persuasively as their proponents – is a genuine symptom of objectivity and wisdom.”
[4] Vgl. Pies (2023; S. 5).
[5] Vgl. Pies (2023; S. 6-8).
[6] Vgl. Herdegen (2023)
[7] Vgl. Dresen et al. (2022).
[8] Vgl. hierzu die Zahlenangaben auf https://www.change.org/p/offener-brief-an-bundeskanzler-scholz.
[9] Vgl. Merkel (2022).
[10] Ich habe hier ganz bewusst nicht auf irgendwelche Twitteräußerungen oder auf Beiträge in der Regenbogenpresse abgehoben, sondern ein Beispiel herangezogen, in dem sich ein Wissenschaftler in einem angesehenen Traditionsmedium äußert. Ich wollte die Hürde für empirische Belege des Diskursversagens nicht möglichst niedrig, sondern möglichst hoch setzen. – Das Interview von Herdegen (2023) ist aber auch noch aus anderen Gründen lesenswert. Es enthält nämlich zahlreiche interessante Beobachtungen zu einem Diskursversagen auf anderen Feldern und zu strukturellen Fehlentwicklungen im Verhältnis von Recht und Politik. Verblüffend ist, wie hier intellektuelle Leistungen und Fehlleistungen so unvermittelt (und unreflektiert) direkt nebeneinander stehen (können).
[11] Vgl. Dobbins et al. (2019).
[12] Dobbins et al. (2019; S. 100).
[13] Dobbins et al. (2019; S. 100).
[14] Charap und Priebe (2023; S. 2).
[15] Charap und Priebe (2023; S. 16).
[16] Charap und Priebe (2023; S. 9).
[17] Charap und Priebe (2023; S. 16).
[18] Charap und Priebe (2023; S. 25).
[19] Charap und Priebe (2023; S. 26).
[20] Vgl. IWF (2023). Zum Vergleich: Für 2022 wird geschätzt, dass das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine um 35 % geschrumpft ist. Diese – naturgemäß nur sehr grobe – Schätzung wurde am 2. Dezember 2022 von Statista (2022) veröffentlicht und lässt trotz prekärer Datenlage die Dimension wirtschaftlicher Schwierigkeiten ahnen, mit denen die Ukraine derzeit konfrontiert ist.
[21] Die ökonomische Fachliteratur steht Sanktionen eher skeptisch gegenüber – mit guten Gründen, die auch die politische Funktionslogik mit einbeziehen. Vgl. hierzu etwa Eichenberger und Stadelmann (2022a) sowie (2022b).
[22] Vgl. Baerbock (2023).
[23] Als Warnzeichen für mögliche Diskursblockaden sei nur daran erinnert, mit welchen Vorwürfen die Menschenrechtsorganisation “amnesty international” überzogen wurde, nachdem sie am 4. August 2022 öffentlich darauf hingewiesen hatte, dass die ukrainische Militärtaktik völkerrechtswidrig Zivilisten gefährde, weil Militärstellungen gezielt in der Nähe von Schulen und Krankenhäusern angelegt wurden. Zum Bericht vgl. amnesty international (2022). Zum Vorwurf, mit diesem Bericht russische Propaganda zu betreiben, vgl. z.B. statt vieler den BILD-Artikel von Haberlandt et al. (2022).
HINWEIS:
Erschienen als Diskussionspapier Nr. 2023-03 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hrsg. von Ingo Pies, Halle 2022
https://wcms.itz.uni-halle.de/download.php?down=64111&elem=3465879
Der Autor
Prof. Dr. Ingo Pies
Prof. Dr. Ingo Pies, Jg. 1964, ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dort arbeitet er an einem “ordonomischen” Forschungsprogramm. 2022 sind hierzu im Wissenschaftlichen Verlag Berlin (wvb) zwei Bücher von ihm erschienen: (a) Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne; (b) 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik: Ordonomik im Dialog.