Seit Beginn der Covid-19 Pandemie wird öffentlich über die Möglichkeit diskutiert, ob sich die Verbreitung des Virus möglicherweise auf einen Laborunfall oder zumindest eine nachlässige Forschungspraxis zurückführen lässt. Parallel zu der ethischen Dimension dieser Spekulationen hat die Pandemie noch eine andere grundlegende und fortlaufende Debatte über die Ethik wissenschaftlicher Forschung ins Rampenlicht geführt. Ein zentraler Akteur dieser Debatte ist die Open-Science-Bewegung, deren Verfechter*innen mehr Transparenz und Rechenschaft von der Wissenschaft fordern, damit sie ihrer Aufgabe gerecht werden kann, verlässliches und nützliches Wissen zu erschaffen.

 

Die Diagnose: Krisenwissenschaft oder Wissenschaft in der Krise?

In vielerlei Hinsicht hat die Covid-19 Pandemie die Effizienz und Flexibilität der Wissenschaft demonstriert. Durch globale Kollaborationen wurden neue Vakzine in nur wenigen Monaten entwickelt. Durch flexible Anpassungen der Begutachtungsprozesse wurde neues Wissen über das Virus in bisher unbekannter Geschwindigkeit verfügbar gemacht. Insgesamt wechselte die akademische Gemeinschaft erfolgreich in einen Modus der “Krisenwissenschaft” (van Dooren & Noordegraaf, 2020), welcher das öffentliche Vertrauen in wissenschaftliche Institutionen stärkte. Nichtsdestotrotz hob diese Entwicklung auch eine Reihe wiederkehrender ethischer Fragen hinsichtlich des wissenschaftlichen Prozesses hervor. Wieso benötigt es eine Pandemie und einen “Krisenmodus” damit solch erfolgsversprechende wissenschaftliche Prozesse erprobt werden? Würde die Gesellschaft nicht davon profitieren, wenn solch schnelle und transparente Prozesse auch im “Normalmodus” erfolgten?

In den letzten Jahren steigt die Anzahl der Autor*innen die bemängeln, dass die Wissenschaft zunehmend hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit, Reproduzierbarkeit und Ethik hinter den Erwartungen von Öffentlichkeit, Politiker*innen und anderen Wissenschaftler*innen zurückbleibe (Breznau, 2021). Als ein Indikator für diese Entwicklung verweisen diese Autor*innen auf die Anzahl jüngster Widerrufsskandale. Solch ein Widerruf (eine sogenannte “retraction”) bedeutet, dass ein in einem wissenschaftlichen Journal publizierter Artikel entlarvt wurde, Daten gefälscht oder falsche Resultate berichtet zu haben. Die entsprechenden Artikel werden anschließend gekennzeichnet und entfernt.

Dies ist alles andere als trivial. Im Januar 2021 zählte Retraction Watch beträchtliche 67 widerrufende Journalartikel zu Covid-19 (inklusive eines Artikels, der behauptete einen Kausalzusammenhang zwischen 5G Smartphones und Covid-19 Symptomen entdeckt zu haben). Wären diese Artikel nicht rigoros gegengeprüft und der Betrug aufgedeckt worden, hätte dies fatale Folgen (wortwörtlich) für die Politikgestaltung haben können. Unter Wissenschaftler*innen werden solch betrügerische Verhaltensweisen daher verdientermaßen als kaum entschuldbare Verfehlung verstanden und bedeuten oftmals erheblichen Schaden für die Reputation und nicht selten das Karriereende der involvierten Autor*innen. Dennoch: für das Versprechen wissenschaftlicher Glorie und hoher Zitationswerte scheinen einige Autor*innen gewillt dieses Risiko einzugehen und die Glaubwürdigkeit der gesamten wissenschaftlichen Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen. In der Tat gaben in einer repräsentativen Umfrage unter Psycholog*innen beinahe 2% an, bereits einmal Daten gefälscht zu haben (John et al., 2012) und andere Disziplinen äußerten ähnliche Bedenken (Banks et al., 2016; Linder & Farahbakhsh, 2020).

Es wäre kurzsichtig diese Entwicklung auf den schlechten Charakter der involvierten Autor*innen abzuwälzen. Wissenschaftler*innen aller Disziplinen verurteilen Datenfälschung und ähnliche Verhaltensweisen. Der Großteil von Artikeln wird nicht widerrufen, sondern bildet einen aufrichtigen Beitrag zum Gemeinwohl. Gleichzeitig verbleiben Wissenschaftler*innen unter enormen Publikationsdruck, da hochkarätige Publikationen als Währung für die wissenschaftliche Karriere und Reputation gelten. Deswegen sollten wir uns, anstatt individuelle Wissenschaftler*innen zu tadeln, fragen wie der wissenschaftliche Kontext und die dazugehörigen Institutionen gestaltet werden könnten, um die “veröffentliche oder gehe unter”-Mentalität zu adressieren, welche das ethische Dilemma zwischen akademischer Rigorosität und individueller Karriereentwicklung erst hervorbringt. Einer der vielversprechendsten Lösungsansätze ist die Ethik der Wissenschaften aus einer Perspektive der Offenheit neu zu denken.

 

Die Behandlung: Hin zu einer “offenen” Wissenschaft

Die Open-Science-Bewegung wurde in den frühen 2000ern von einer kleinen internationalen und interdisziplinären Gruppe an Wissenschaftler*innen gegründet, die fasziniert waren von den Potenzialen neuer digitaler Technologien für wissenschaftliche Kollaboration und das Teilen akademischen Wissens (Heimstädt & Friesike, 2020). In den ersten Tagen der Bewegung sahen sich ihre Befürworter*innen harscher Kritik ausgesetzt. Ihnen wurde vorgeworfen, eine grundlegende Maxime ihrer Profession zu verletzen: Gute Wissenschaft bedeute, dass der “Motorenraum” der Wissenschaft geschlossen bleibt und lediglich eindeutige und “saubere” Resultate der Öffentlichkeit übermittelt werden. Es brauchte mehrere Jahre akademischen Aktivismus der Open-Science-Bewegung, um zu demonstrieren, dass die Forderung nach mehr Offenheit keineswegs die ethischen Prinzipien der Wissenschaft verletzt, sondern – ganz im Gegenteil – dabei helfen kann, dass die Wissenschaft ihren selbstgesteckten Standards gerecht wird. Dies ist am einfachsten verständlich, wenn man zwei zentrale Konzepte der Open-Science-Bewegung betrachtet: “Open Data” und “Open Access”.

Wissenschaftler*innen haben ihre Forschungsdaten traditionell lediglich mit einem kleinen Kreis an Kolleg*innen geteilt, zum Beispiel jenen, die ein Manuskript im Rahmen des wissenschaftlichen Begutachtungsprozesses vor Publikation auf Herz und Nieren prüfen. Verfechter*innen der Open-Science-Bewegung argumentieren dafür, dass die Daten von jedem publizierten Artikel online geteilt werden sollten. Dies würde erlauben, dass eine deutlich breitere Gruppe an Wissenschaftler*innen die Qualität der Forschung prüfen und mögliche Fehler, welche während der Begutachtung übersehen wurden, identifizieren könnte. Das Teilen der Daten könnte so die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft stärken – nicht nur, weil es eine weitere Ebene der Qualitätskontrolle hinzufügt, sondern auch weil dies politischen Entscheidungsträger*innen erlauben würde noch tiefer in die Forschungsergebnisse einzutauchen, welche die Basis für risikoreiche Entscheidungen – wie Entscheidungen im Zuge der Covid-19 Pandemie – bilden sollen.

Eine weitere zentrale Forderung der Open-Science-Bewegung ist, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse jedem interessierten Publikum zugänglich sein sollten. Traditionell waren Forschungsergebnisse durch eine Paywall der wissenschaftlichen Verlage geschützt. Nur Forscher*innen von Institutionen, die ein Abonnement für die entsprechenden Journale gekauft hatten, waren so in der Lage die Publikationen zu lesen. In diesem Modell hatten Nicht-Wissenschaftler*innen als auch jene von Institutionen mit kleinen Budgets große Schwierigkeiten viele Forschungsergebnisse einzusehen. In den letzten zwei Jahrzehnten haben Open-Science-Befürworter*innen Verlage aufgefordert auf ein Open-Access-Geschäftsmodell umzustellen, in dem Autor*innen Im Rahmen der Publikation eines Artikels eine fixe Summe zahlen und der Artikel im Gegenzug für alle Leser*innen frei zugänglich gemacht wird. Während Verlage dieser Bitte für eine lange Zeit nicht nachkamen, hat die Open-Science-Bewegung in den letzten Jahren zunehmend Erfolg gehabt and große Verlage starteten jüngst mit der Umstellung auf Open-Access-Geschäftsmodelle.

 

Die Aussichten: Die Grenzen von Offenheit und der Bedarf nach Authentizität

Trotzdem: Offenheit zu einem zentralen Element ethischer wissenschaftlicher Arbeit zu machen, kann lediglich einen Beitrag zur Lösung von Problemen rund um die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit sein, jedoch keine umfassende Lösung. Der Grund hierfür liegt in den Fragen, die Wissenschaftler*innen in ihrer Rolle als öffentliche Expert*innen beantworten sollen. Wenn Wissenschaftler*innen als öffentliche Expert*innen (z.B. als Politikberater*innen in der Covid-19 Krise) auftreten, sehen sie sich oftmals mit sogenannten “trans-wissenschaftlichen Fragen” (Weinberg, 1972) konfrontiert. Dies sind Fragen, welche sie in ihrer Rolle als öffentliche Expert*innen beantworten sollen, auf die es aber keine klare wissenschaftliche Antwort gibt. Ein typisches Beispiel für eine solche trans-wissenschaftliche Frage der Pandemie ist, ob und wann Schulen geöffnet werden sollten oder welche Social-Distancing-Maßnahmen am wirksamsten sind.

Als Bürger*innen erwarten wir Antworten auf solche Fragen von Wissenschaftler*innen. Allerdings können diese Antworten manchmal nicht durch wissenschaftliche Prozesse entwickelt werden – seien diese Prozesse nun offen oder geschlossen. Wir glauben, dass trans-wissenschaftliche Fragen von Wissenschaftler*innen eine andere, oft übersehene Dimension der öffentlichen Expertise erfordern: den Eindruck von Authentizität. Wenn Wissenschaftler*innen Antworten auf trans-wissenschaftliche Fragen liefern, dann verhalten sie sich authentisch, wenn sie, z.B., offen über die Grenzen der wissenschaftlichen Methoden berichten, wenn diese zur Generierung eindeutiger Antworten zu trans-wissenschaftlichen Fragen genutzt werden sollen. Sie sollten außerdem kommunizieren, dass, während wissenschaftliche Prozesse das unangefochten beste Instrument sind, um entsprechende Entscheidungen zu informieren, wissenschaftliche Ergebnisse stets provisorisch und offen für zukünftige Revisionen sind.

 

Literatur

Banks, G. C., O’Boyle, E. H., Pollack, J. M., White, C. D., Batchelor, J. H., Whelpley, C. E., Abston, K. A., Bennett, A. A., & Adkins, C. L. (2016). Questions About Questionable Research Practices in the Field of Management. Journal of Management, 42(1), 5–20. https://doi.org/10.1177/0149206315619011

Beck, R., & Kolly, M.‑J. (2020, March 17). Die Wissenschaft im Stresstest. Republik. https://www.republik.ch/2020/03/17/die-wissenschaft-im-stresstest

Breznau, N. (2021). Does Sociology Need Open Science? Societies, 11(1), 9. https://doi.org/10.3390/soc11010009

Heimstädt, M., & Friesike, S. (2020). The odd couple: contrasting openness in innovation and science. Innovation, 1–14. https://doi.org/10.1080/14479338.2020.1837631

John, L. K., Loewenstein, G., & Prelec, D. (2012). Measuring the prevalence of questionable research practices with incentives for truth telling. Psychological Science, 23(5), 524–532. https://doi.org/10.1177/0956797611430953

Linder, C., & Farahbakhsh, S. (2020). Unfolding the Black Box of Questionable Research Practices: Where Is the Line Between Acceptable and Unacceptable Practices? Business Ethics Quarterly, 30(3), 335–360. https://doi.org/10.1017/beq.2019.52

van Dooren, W., & Noordegraaf, M. (2020). Staging Science: Authoritativeness and Fragility of Models and Measurement in the COVID-19 Crisis. Public Administration Review. Advance online publication. https://doi.org/10.1111/puar.13219

Weinberg, A. M. (1972). Science and trans-science. Minerva, 10(2), 209–222. https://doi.org/10.1007/bf01682418

 

Die Autoren

Moritz Appels

Moritz Appels promoviert am Lehrstuhl für Nachhaltiges Wirtschaften der Universität Mannheim und dem Wittenberg Zentrum für Globale Ethik. In seiner Forschung beschäftigt er sich primär mit dem Zusammenspiel von politischen und ökonomischen Akteuren. Insbesondere beschäftigt ihn was Führungspersonen antreibt, sozialen Wandel innerhalb und außerhalb ihrer Organisationen zu verfolgen, und wie dies das politische und ökonomische Verhalten verschiedener Stakeholdergruppen beeinflusst.

 

Maximilian Heimstädt

Maximilian Heimstädt ist Leiter der Forschungsgruppe “Reorganisation von Wissenspraktiken” am Berliner Weizenbaum-Institut und Akademischer Oberrat an der Universität Bielefeld. Mit Mitteln der Organisationsforschung, Soziologie und den Science & Technology Studies untersucht er neue Formen des Organisierens in digital-vernetzten Kontexten.

 

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