Im Ukrainekrieg müssen wir zeigen, was uns unsere Werte wert sind. Tatsächlich offenbaren die letzten Wochen eine beachtliche Geschlossenheit des Westens. Und die Bereitschaft zu umfassenden und gemeinschaftlichen Zumutungen: von Waffenlieferungen über harte Wirtschaftssanktionen, freiwillige Boykotte und Geschäftseinstellungen bis hin zu einer beispiellosen Welle der Hilfsbereitschaft. Mit der zunehmenden Brutalität des Krieges stellt sich aber die Frage: Reicht das aus? Brauchen wir mehr Konsequenz? Gerade das Thema Energieimporte ist umstritten.
Inzwischen bezieht Deutschland sogar mehr Gas aus Russland als vor dem Krieg. Der ukrainische Präsident wirft uns deshalb eine Doppelmoral vor. Fakt ist: Solange Deutschland weiter russisches Gas, Öl und Kohle bezieht, fließen Devisen nach Russland. Und solange Devisen fließen, verbessert das Russlands Fähigkeiten, Krieg zu führen. In diesem Fokus scheinen Forderungen nach einem Importstopp geradezu moralisch geboten. Wir müssen uns den Verzicht auf russische Energieimporte für die Freiheit und Würde der Menschen in der Ukraine zumuten, fordern immer mehr Stimmen.
Warum handeln wir also nicht konsequenter? So unbequem und paradox die Wirklichkeit erscheinen mag: Weil Russlands Energielieferungen auch unsere Möglichkeiten beeinflussen, dem Aggressor die Stirn und der Ukraine Unterstützung bieten zu können. Denn eine schnellere Aufrüstung, die Bereitstellung mehr humanitärer Hilfsgüter und eine funktionierende Logistik stehen im Konflikt mit einer Verknappung von Energie. Zwar halten manche Expert*innen einen Lieferstopp für handhabbar. Andere warnen allerdings vor unkalkulierbaren Risiken.
Wenn wir wüssten, dass eine harte Sanktion ein schnelles Kriegsende herbeiführte, wäre die Entscheidung offensichtlich. Tatsächlich deutet gegenwärtig aber manches auf einen längeren Konflikt hin. Verantwortliche Entscheidungen müssen auch dieses Szenario berücksichtigen und fragen, wie sich heutige Maßnahmen auf die künftige Bereitschaft zur Solidarität auswirken. Denn wir müssen unter Umständen mit einem wachsenden Solidaritätsbedarf der Ukraine rechnen.
Genau hier liegt das Dilemma der Sanktionen. Kurzfristig können sie klare und harte Signal setzen – langfristig können sie zur Selbstschädigung führen. Im Hinblick auf den Importstopp ist die mittelfristige Lösung unbestritten: Wir sollten alles daransetzen, unsere Abhängigkeit von russischen Energieimporten zu reduzieren. Das lässt sich offenbar aber nicht in Tagen und Wochen erreichen. Kurzfristig bleibt uns beim Thema Importstopp deshalb nur die Wahl zwischen “Pest und Cholera”, wie es Bundesaußenministerin Annalena Baerbock jüngst formulierte. Es gibt nicht die eine richtige Lösung, sondern nur die Abwägung unterschiedlicher Zumutungen.
Für jene Abwägung lässt sich aber eine wichtige Bedingung formulieren: In jedem Fall sollten wir eine “Lose-Lose-Situation” für Deutschland und die Ukraine vermeiden. Die wäre gegeben, wenn härtere Sanktionen das Leid in der Ukraine zwar nicht wesentlich lindern, Deutschlands Fähigkeit zur Hilfe aber erheblich einschränken würden. Damit wäre allein Russland gedient. Um genau dies zu vermeiden, sollten wir in den notwendigen Diskussionen um radikalere Maßnahmen folgende Prüfsteine nicht aus dem Blick verlieren:
Geschlossenheit erhalten
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für politische Entscheidungen lautet: Sie müssen durchsetzbar sein. Dafür müssen auch jene, die von negativen Effekten am härtesten betroffen sind, bestenfalls die Entscheidung mittragen, mindestens aber keinen Widerstand leisten. In der Pandemie haben wir erfahren, dass die Durchsetzung politischer Entscheidungen alles andere als selbstverständlich ist. Und wir haben gelernt: Gerade die besonders Betroffenen müssen Teil der Diskussion werden, wenn wir weiteren sozialen Spaltungen – die bereits jetzt unsere Demokratien herausfordern – entgegenwirken wollen. Beim Thema Importstopp ist eine solche Einbeziehung der Betroffenen bislang nicht erkennbar. Denn es geht nach Aussagen von Wirtschaftsminister Robert Habeck eben nicht nur um Komforteinbußen für Verbraucher*innen, etwa durch eingeschränkte Angebote und höhere Preise. Die würde eine Mehrheit laut ARD-Deutschlandtrend sogar in Kauf nehmen. Doch für Tausende Menschen könnte ein kurzfristiger Verzicht auf russische Energie mit Jobverlusten und existenziellen Risiken einhergehen. Inwieweit sich die potenziell Betroffenen jener Konsequenzen bewusst sind, ist offen. Ebenso, wie sich jene Konsequenzen auf die Akzeptanz künftigen Regierungshandelns auswirken würde.
Bevor die Politik eine Maßnahme mit so weit reichenden Konsequenzen beschließt, sollte sie – auch aus den Erfahrungen der Coronakrise – breitere Bündnisse schließen, um die Durchsetzung ihrer Entscheidungen abzusichern. Mit Blick auf die besonders Betroffenen spielen dabei vor allem die Sozialpartner und Sozialverbände eine zentrale Rolle. Denn: Unsere innere Geschlossenheit ist die Voraussetzung dafür, Russland mit Entschlossenheit gegenübertreten zu können.
Kompromissfähigkeit stärken
Gerade Ad-hoc-Maßnahmen erfordern Kompromisse. Das spiegeln auch die Studien zur Machbarkeit eines russischen Importstopps wieder: Energieimporte aus anderen Autokratien, Fracking-Gas aus den USA sowie eine befristet ausgedehnte Kohleverstromung sind Teil der kurzfristigen Lösungsszenarien. Vor allem aber führt kein Weg daran vorbei, den Umbau unseres Energiesystems noch “energischer” voranzutreiben.
Angesichts dessen sind Konsequenz gegenüber Russland und Kompromissfähigkeit in unseren inneren Energiedebatten zwei Seiten derselben Medaille. Zugespitzt formuliert: Wenn wir die Ukraine vom russischen Übergriff entlasten wollen, müssen wir uns selbst beim Thema Energieausbau mehr zumuten. Eine weitere Lehre der Pandemie: Statt Perfektion brauchen wir in Krisenzeiten mehr prinzipienbasierten Pragmatismus. Der verlangt aber die Aufgabe von Maximalpositionen auf allen Seiten. Sowohl bei jenen, die bislang den Ausbau erneuerbarer Energien konkret blockieren. Aber auch bei jenen, die selbst eine befristete Rückkehr zu “Second (oder Third) Best Options” ablehnen. Auf dem Weg zu unumgänglichen Kompromissen wird es vor allem darauf ankommen, dass keine Interessenpartei der anderen eine “Ausnutzung” der Situation vorwirft.
Systemische Wirkungen abwägen
In Kriegszeiten kommt es mehr denn je auf politische Führung an. Dabei sind staatliche Eingriffe in die Wirtschaft – etwa durch die Verhängung von Sanktionen – unumgänglich. Je tiefer und je länger der Staat dabei allerdings in die Funktionszusammenhänge von Märkten und Wertschöpfungsketten eingreift, umso mehr riskiert er deren Leistungsfähigkeit. Konkret: Wenn wir kurzfristig einen russischen Importstopp wagen, muss der Staat entscheiden, welche Branchen und Unternehmen prioritär Energie erhalten. Und wer unter Umständen abgeschaltet wird. Dabei muss die Politik Folgewirkungen im Blick behalten und vor allem verantworten. Beispiel energieintensive Ammoniakindustrie: Wenn wir auf Dünger verzichten, steigen die Lebensmittelpreise zusätzlich. Beispiel Transportbranche: Wenn die Dieselpreise weiter steigen, drohen Engpässe in der Logistik. Wir müssten also noch stärker auf eine staatlich gesteuerte Kriegswirtschaft umstellen.
Nun gibt es manche, die eine solche Kriegswirtschaft als Chance für tiefgreifende Reformen sehen: endlich groß denken und rasch umsetzen. Dabei werfen sie allerdings die Fragen von Beteiligung und Legitimation, Innovationsanreizen und vor allem der Steuerungskompetenz staatlicher Stellen komplett über Bord. Wir sollten nicht vergessen: Putin führt diesen Krieg auch, um von innenpolitischen Konflikten abzulenken. Und diese innenpolitischen Konflikte sind gerade die Folge einer staatlichen Misswirtschaft, die nach eigenem Verständnis groß denkt und lenkt. Insofern ist die bisherige Zurückhaltung der Regierungsmitglieder in dieser Frage nachvollziehbar. Denn: Ohne eine leistungs- und innovationsfähige Wirtschaft werden wir weder die Klimakrise überwinden (siehe SDG Nr. 9). Noch werden wir der Ukraine nachhaltig Hilfestellung leisten können. Weder heute, noch beim künftigen Wiederaufbau.
Fazit: Es ist richtig, dass wir unsere bestehenden Abhängigkeiten kritisch hinterfragen. Es ist aber ebenso wichtig, dass wir die Voraussetzungen für noch radikalere Zumutungen klären. Denn: Wenn wir uns für härtere Sanktionen in Form eines Importstopps russischer Energie entscheiden, müssen wir diese auch durchhalten können. Nicht nur kurzfristig, sondern notfalls auch über einen längeren Zeitraum. Anderenfalls riskieren wir unsere Glaubwürdigkeit: Nach innen, gegenüber Russland und gegenüber der Ukraine. Und damit unsere Voraussetzung für nachhaltige Solidarität.
HINWEIS:
Der Text erschien als aktueller Standpunkt unter:
https://www.wcge.org/de/veroeffentlichungen/wzge-standpunkt/aktuelles/657-energieimporte-trotz-krieg-das-dilemma-der-sanktionen
Die Autoren
Dr. Martin von Broock
Dr. Martin von Broock (Jahrgang 1975) studierte Betriebswirtschaft, Politik, Publizistik und öffentliches Recht in Göttingen. Nach seinem Abschluss als Dipl.-Sozialwirt (2001) arbeitete er mehrere Jahre in einer internationalen Kommunikations- und Politikberatung für Unternehmen und Verbände aus den Branchen Finanzen, Immobilien und Energie sowie verschiedene Bundes- und Landesministerien. 2011 schloss er seine Promotion am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL Leipzig Graduate School of Management ab. Seit 2012 ist er Mitglied des Vorstands am Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik (WZGE), seit 2014 dessen Vorsitzender. Für Branchen, Unternehmen und ihre Stakeholder entwickelt er national und international Dialogprozesse und Projekte, die sich mit der moralischen Qualität der Marktwirtschaft, unternehmerischer Verantwortung und werteorientierter Führung befassen.
Prof. Dr. Andreas Suchanek
Prof. Dr. Andreas Suchanek ist Inhaber des Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL-Leipzig Graduate School of Management und Vorstandsmitglied des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik. Er studierte VWL an den Universitäten Kiel und Göttingen. Wichtigste Veröffentlichungen: Ökonomische Ethik, Tübingen 20072, Unternehmensethik. In Vertrauen investieren, Tübingen 2015
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