Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen zwei überaus schillernde Begriffe der aktuellen Debatte über Wirtschafts- und Unternehmensethik, nämlich: Integrität der Führung und Finanzialisierung der Wirtschaft. Beide Begriffe, so die These, stehen dabei nicht unverbunden nebeneinander. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine Art “negative Beziehung” zwischen ihnen besteht. Soll heißen: In dem Maße, in dem die Finanzialisierung der Wirtschaft fortschreitet, wird eine Führung in Integrität schwieriger. Integrität ist damit – anders als gerne unterstellt – kein Erfolgsfaktor, sondern hat einen Preis, den zu zahlen Führende wohl nicht immer bereit sind.
1. Integrität (in der Führung) – was heißt das überhaupt?
Ein schönes Beispiel für die ungeheure Strahlkraft, die vom Begriff “Integrität” ausgeht, gibt Stephen Carter (1996, S. 5), der berichtet:
“Vor einigen Jahren, als ich an einer Universität meine Rede anlässlich der dortigen Abschlussfeier begann, sagte ich, dass ich über Integrität sprechen würde. Die Menge brach daraufhin in Applaus aus. Applaus! Nur weil sie das Wort Integrität gehört hatten.”
An dieser “Faszination Integrität” (Palanski/Yammarino 2007, S. 171) hat sich bis heute wenig geändert. Die schiere Popularität des Begriffs vergegenwärtigt sich nicht zuletzt auch darin, dass der Begriff auf breiter Front Einzug in den Führungsdiskurs gefunden hat (vgl. Weibler/Kuhn 2017) und mittlerweile auch ungezählte Unternehmen auf ihren Websites der (kritischen) Öffentlichkeit gegenüber eine ausgeprägte und nachhaltige “organizational integrity” versichern. Grund genug, der Frage nachzugehen: Was genau bedeutet eigentlich Integrität?
Integrität ist zunächst einmal eine Tugend, gleichsam also Ausdruck eines guten und starken Charakters (vgl. Kuhn/Weibler 2012, S. 110ff.). Aber worin vergegenwärtigt sich solche charakterliche Integrität? In einer wegweisenden Untersuchung zum Thema kamen Palansky und Yammarino (2007) zum Ergebnis, dass es unterschiedliche Verständnisse von Integrität gibt, die jedoch aufeinander bezogen werden können. Die in unserem Kontext wichtigsten sind dabei:
- Entsprechung von Worten und Taten (“word/action consistency”). Diese ist gegeben, wenn die Werte, die man vertritt, in Einklang stehen mit den Handlungsweisen, die man vollzieht. Umgekehrt gilt: Überall dort bzw. immer dann, wenn wohlfeile Worte (Rhetorik) so gar nicht mit den realen Taten übereinstimmen wollen, liegt quasi das Gegenteil von Integrität vor. Zu sprechen wäre dann von Heuchelei oder Scheinheiligkeit.
- Die Entsprechung von Worten und Taten ist zwar eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Voraussetzung für Integrität. Denn Konsistenz im Denken, Reden und Handeln lässt sich problemlos auch bei diktatorischen, tyrannischen, narzisstischen und weiteren Formen eines Bad Leadership (vgl. Weibler 2016, S. 632ff.) beobachten. Wenn derlei Führende beispielsweise Drohungen aussprechen und ihre Drohungen dann wahr machen, dann handeln sie konsistent, aber sicher nicht integer. Ein zweites unabdingbares Merkmal von Integrität ist deshalb die persönliche Moralität (“morality/ethics”). Hierunter versteht man das Bemühen einer Person, nicht nur sich selbst, sondern auch allen anderen gegenüber gerecht werden zu wollen, gleichsam also einen vernünftigen Ausgleich zwischen divergenten und häufig eben auch konfligierenden Interessen anzustreben. Integrität verweist dann auf die regelmäßige Notwendigkeit zu dem, was in der Ethik gemeinhin als “Güterabwägung” bezeichnet wird: “Den komplexen Deliberationsprozess, bei dem Vor- und Nachteile der einzelnen Optionen gegeneinander gestellt und auf ihr relatives Gewicht hin untersucht werden” (Horn 2011, Sp. 391). Moralische Deliberationsprozesse sollten in fairen Kompromissen münden, in keinem Falle jedoch eine nicht begründbare Vorteilsnahme der einen “Güter” (sprich: Interessen) auf Kosten der anderen darstellen.
- Ein drittes wichtiges Merkmal der Integrität ist die sog. Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen (“consistency in adversity”). Dahinter steht der Umstand, dass es mitunter schwierig werden kann, seinen moralischen Werten und Überzeugungen gemäß zu handeln. Gründe hierfür können sein, dass (a) andere, uns moralisch als vergleichsweise falsch erscheinende Handlungen mehr Erfolg und höhere Belohnung versprechen, bzw. (b) jene Handlungen, die uns moralisch richtig und geboten erscheinen, schlechterdings mit (teilweise erheblichen) persönlichen Nachteilen verbunden sind. Integrität bedeutet dann, auf mögliche Vorteile zu verzichten bzw. bestimmte Nachteile sehenden Auges in Kauf zu nehmen. In diesem Sinne stellt Worden (2003, S. 34) fest: “The hallmark of integrity is an acted out commitment to principled behavior in the face of adversity or temptation at a great cost to oneself.”
Eingedenk dessen wird im Übrigen auch erkennbar, dass Integrität nichts ist, dass man, wenn man es einmal besitzt, unweigerlich auch für immer behält. Die Erfahrung lehrt vielmehr: Integrität ist ein höchst fragiles Gut. So wie man sie in einem (lebens-)langen Prozess entwickeln und wahren muss, so kann man sie in kurzen Momenten (der Versuchung und fatalen Entscheidung) nachhaltig zerstören.
Berücksichtigt man des Weiteren noch den ebenfalls nicht unwichtigen Aspekt, dass Integrität natürlich kein objektives Datum, sondern stets eine Selbstzuschreibung (“Bin ich integer?”) und eine Fremdzuschreibung (“Ist diese Person integer?”) beinhaltet (die beide nicht notwendigerweise übereinstimmen müssen), dann lässt sich folgende Kurzübersicht herleiten (vgl. dazu ausführlich: Pollmann 2005).
Integrität als Selbstzuschreibung |
Integrität als Fremdzuschreibung |
||
positiv | negativ | positiv | negativ |
Selbsttreue, Rechenschaft |
Entfremdung | Unbestechlichkeit, Unbescholtenheit |
Bestechlichkeit, Scheinheiligkeit |
Was bedeutet nun aber: Integre Führung? Überträgt man die obigen Erkenntnisse der Ethik auf den speziellen Bereich der (hier: Unternehmens-) Führung, dann erscheint uns das sog. “Davoser Manifest” (vgl. European Management Forum 1973) als ein gutes Beispiel dafür, wie sich Integrität im Führungskontext vergegenwärtigen kann. Denn dieses frühe Konzept zur gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, das auf dem ja bis heute alljährlich stattfindenden Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos verabschiedet wurde, beinhaltet – ungeachtet einiger (diskurs-)ethischer Defizite (vgl. dazu Steinmann 1973, Ulrich 1977) – höchst bemerkenswerte Festschreibungen über die moralischen Aufgaben und Herausforderungen des Managements. Sie lauten kurz gesprochen:
- Die Unternehmensführung hat eine dienende Funktion gegenüber ihren Kunden, Mitarbeitern, Geldgebern sowie der Gesellschaft als Ganzes (-> Stakeholder-Verantwortung).
- Berufliche Aufgabe der Unternehmensführung ist es, die widerstreitenden Interessen der Kunden, Mitarbeiter, Geldgeber sowie der Gesellschaft zum Ausgleich zu bringen (-> politische Dimension der Unternehmensführung verbunden mit der Notwendigkeit zur moralischen Güterabwägung).
- Ausreichende Gewinne sind ein notwendiges Mittel zur langfristigen Sicherung der Existenz des Unternehmens, nicht aber Endziel der Unternehmensführung (-> Zurückweisung des Gewinnmaximierungsstrebens).
Zahlreiche Befunde (vgl. bspw. Mizruchi/Marshall 2016, Reich 2008) sprechen dafür, dass Unternehmensführungen sich über einen längeren Zeitraum hinweg stark an diesen Vorstellungen orientierten, die u.E. aus folgenden Gründen auch eine integre Führung vergegenwärtigen:
- (a) die Management-Philosophie, die offiziell vertreten wurde, war weithin auch jene, die praktisch gelebt wurde (“Entsprechung von Worten und Taten”),
- (b) eine “staatsmännische Unternehmensführung” (Frank Abrams, CEO Standard Oil, 1951; zit. nach Reich 2008, S. 66) ging systematisch von Interessenkonflikten zwischen den verschiedenen Anspruchsgruppen aus und war seriös bestrebt, diese durch moralische Güterabwägungen einem gerechten Ausgleich zuzuführen (“Moralität” professionelles Ethos im Management, vgl. Khurana 2007), sowie
- (c) – auch dies ist wichtig – verantwortliche Manager musste auf keine Vorteile verzichten bzw. gar persönliche Nachteile in Kauf nehmen, wenn sie gemäß ihrem “moralischen Kompass” entschieden und handelten. Mit anderen Worten: Eine besondere “Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen” war aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse kaum erforderlich (vgl. Mizruchi/Marshall 2016).
Diese Zeit wird retrospektiv gemeinhin als Phase der “Managerherrschaft” bezeichnet, die natürlich in mancherlei Hinsicht nicht unproblematisch war und sicherlich auch nicht idealisiert werden sollte. Gleichwohl: Verglichen mit der heutigen Zeit kann durchaus die These vertreten werden, dass Integrität im Management zu dieser Zeit noch leichthin möglich und auch weithin gegeben war. Dies impliziert die weitere Behauptung, dass integre Führung sich seit dieser Zeit in Regression, sprich: deutlich auf dem Rückzug befindet. Die quasi allwöchentlichen Unternehmensskandale, die nicht abebben wollende (CSR-)Diskussion über den eklatanten Mangel (sic!) an gesellschaftlicher Verantwortung der Unternehmen (Steuerflucht, Risikoproduktion, Ausbeutung des Faktors Arbeit, Übervorteilung von Kunden, usf.), aber auch die bedenklich zunehmende Illegalität unternehmerischer Aktivitäten (siehe VW, Deutsche Bank) sollten prima vista als Beleg hierfür hinreichen.
Wenn dem aber so ist, warum ist dem dann so? Die Antworten auf diese Frage können sicherlich vielgestaltig ausfallen. Wir wollen sie an dieser Stelle unter Verweis auf eine höchst wirkungsmächtige Entwicklungstendenz beantworten – die fortschreitende Finanzialisierung der Wirtschaft.
2. Die Finanzialisierung der Wirtschaft – oder: Wie die Integrität der Führenden unter Druck gerät
“Finanzialisierung” ist ein Begriff, der der Politischen Ökonomie zuzurechnen ist und hier, nicht zuletzt auch seit der Finanzmarktkrise 2008, mit überaus kritischem Tenor diskutiert wird (vgl. bspw. Heires/Nölke 2011, van der Zwan 2014, Davis/Kim 2015). Gegenstand der Debatte ist im Kern jene Transformation unserer (welt-)wirtschaftlichen Ordnung, die üblicherweise als Wandel vom Industrie- zum Finanz-Kapitalismus (oder ähnlich) umschrieben wird. Unter Hinzuziehung eines zweiten, weitaus geläufigeren Begriffs vermerkt Ronald Dore (2008, 1097) in diesem Sinne: “‘Financialization’ is a bit like ‘globalization’ – a convenient word for a bundle of more or less discrete structural changes in the economies of the industrialized world.” Und Gerald A. Epstein (2005, 3) schließlich definiert Finanzialisierung allgemein als “the increasing role of financial motives, financial markets, financial actors and financial institutions in the operation of the domestic and international economies”. Bedeutet ist damit bereits: Dort, wo Finanzialisierung fortschreitet und waltet, steigt die Bedeutung der Finanzinstitutionen (z.B. Investmentbanken, Hedgefonds) und ihrer Akteure (z.B. Goldman Sachs, Blackrock) innerhalb der Wirtschaft, ändert sich das Relationale zwischen Finanzwirtschaft und Realwirtschaft (zu Ungunsten letzterer) und gewinnen (zumeist sehr kurzfristige) finanzielle Motive (z.B. Quartalszahlen) Oberhand gegenüber strategisch-langfristigen oder gar nicht-finanziellen Motiven (z.B. gesellschaftliche Verantwortung).
Das komplexe Phänomen der Finanzialisierung, dessen Entstehung notabene als vielleicht wichtigstes Ergebnis der sog. neoliberalen Wirtschaftspolitik anzusehen ist, kann und soll hier natürlich nicht umfassender nachgezeichnet werden. Fokussieren wollen wir vielmehr “nur” die Auswirkungen der steigenden Bedeutung der Finanzmärkte auf die Führung von und in realwirtschaftlichen Unternehmen. Diesbezüglich kann grundlegend festgestellt werden, dass die Finanzwirtschaft zunehmend über Möglichkeiten verfügt und diese de facto auch nutzt, um kontinuierlich den (Rendite-)Druck auf die Realwirtschaft zu steigern. Hintergrund dessen ist eine nachhaltige Verschiebung der Machtverhältnisse, die sich in den vergangenen (neoliberalen) Jahrzehnten sukzessive zugunsten der Finanzwirtschaft entwickelt haben – dies u.a. durch den Verzicht der Nationalstaaten auf eine Regulierung des Kapitalverkehrs, das systematische Auftreten institutioneller Investoren, die transnationale Möglichkeit zur feindlichen Übernahmen “unterbewerteter” Unternehmen, die Etablierung von Pay-for-Performance Anreizsystemen für das Top-Management, erleichterte und häufigere Ablösungen des Top-Managements bei zugeschriebener “Underperformance” (vgl. dazu ausführlich: Emunds 2010, Deutschmann 2011).
Als zentraler Ausfluss dieser neuen Machtverhältnisse gilt mit Blick auf die Realwirtschaft gemeinhin das vieldiskutierte (und -kritisierte) Shareholder Value-Management, das eben darum kreist, all das zu tun, was den Interessen der Finanzmärkte bzw. Finanzakteure präsumtiv dienlich ist. Und zu dieser Dienlichkeit gehört, dass nicht nur immer höhere Gewinne resp. Wertsteigerungen am Aktienmarkt erzielt werden, sondern dass diese auch in immer kürzerer Zeit zu erreichen sind (vgl. Emunds 2010, S. 103f). Resultante dessen ist ein konsequentes (rücksichtsloses) MSV (Maximizing Shareholder Value), das organisationsintern dann auch als eine “profits at all costs”-Philosophie handlungsleitend wird. Und von hier aus sind wir dann nur noch einen Schritt entfernt von eben jene unternehmerischen Handlungsweisen, die an Häufigkeit drastisch zunehmen, obgleich deren Legitimität im gesellschaftlichen Diskurs häufig hinterfragt wird bzw. deren Illegitimität schlicht außer Frage steht (vgl. oben).
Übertragen wir diese Überlegungen auf unser Thema, dann steht der Finanzialisierungs-Begriff pointiert gesprochen für:
- (a) das Ende der “Managerherrschaft”,
- (b) den Beginn einer “Hegemonie des Rentiers” (Deutschmann 2013), die ihrerseits
- (c) in der direkten Ansage an das (damit eigentlich nicht mehr wirklich) “führende” Management gipfeln kann: “Wall Street can wipe you out” (Davis/Kim 2015, 210).
Bindet man dies nun nochmals an unsere oben skizzierten Vorstellungen und Ausprägungen einer integren Führung rück, dann lassen sich substanzielle Veränderungen feststellen:
- Eine “staatsmännische Unternehmensführung”, die das Unternehmen als Ort des Zusammentreffens konfligierender (Stakeholder-)Interessen und Unternehmensführung von daher als Prozess des möglichst gerechten Ausgleichs zwischen diesen Interessen versteht, scheint der Zeit entrückt. “Moderne” Unternehmensführung wähnt sich tatsächlich eher jenseits der Notwendigkeit zu moralischen Güterabwägungen, gleichsam also in Diesseits eines Zielmonismus, der lapidar lautet: Maximizing Shareholder Value!
- Eine integre (sic!) Führung, die dem nicht zu folgen bereit ist, kann sich – anders als vormalige Managergenerationen – tatsächlich nicht länger losgelöst sehen von der (tugend-) ethischen Maxime der “Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen”. Soll heißen: Manager, die der MSV-Doktrin aus moralischen Gründen nicht folgen wollen, müssen darauf gefasst sein, hierfür eher früher als später einen Preis zu zahlen. Dieser kann zu entrichten sein, indem auf mögliche Vorteile bewusst verzichtet wird (z.B. geringes variables Einkommen aufgrund geringerer Rendite/Wertsteigerungen), überdies aber auch, indem erhebliche persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen sind (z.B. karrierebezogenes Derailment infolge Abberufung aufgrund von “Underperformance”; vgl. Weibler/Kuhn 2016).
3. Integre Führung – moralische Herausforderung oder erfolgsstrategischer Selbstläufer?
Die hier vertretene These, dass die Finanzialisierung unserer Wirtschaft immer weiter fortschreitet und sich aufgrund dessen die Integrität im Management in Regression befindet, ist u.E. eigentlich kaum mehr als ein offenes Geheimnis. Denn die Belege, die eben dies nahelegen, sind zwischenzeitlich Legion. So zeigen managementhistorische Untersuchungen, dass die Führungsmacht der heutigen CEOs in dem Masse abnimmt, in dem ihre Entlohnung zunimmt, und dass Manager auch immer weniger als “professionals” mit beruflichem Ethos und dafür weit mehr schon als Teil der modernen “plutocrazy” zu werten sind (vgl. Mizruchi/Marshall 2016). Dazu passt, dass einer Vielzahl früherer Manager aufgrund ihrer “staatsmännischen Unternehmensführung” nach wie vor eine hohe Integrität zugeschrieben wird, wie es für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland exemplarisch für Persönlichkeiten wie Edzard Reuter oder auch Alfred Herrhausen (vgl. Kipper 2017) gilt. Umgekehrt sind es eben solche vormalige Top-Manager, die einen fortschreitenden Verfall der Integrität in der Führung beklagen. So wählte beispielsweise Edzard Reuter (2010) für seine Betrachtungen über die ihm folgenden Managergenerationen den bezeichnenden Titel “Stunde der Heuchler”. Und Ludwig Poullain (2004), früherer Vorstandsvorsitzender der WestLB und Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, thematisierte in seiner fulminanten “ungehaltenen Rede” offen jenen “moralischen Zerfallsprozess” in seiner Profession, in dessen Folge aus integren “Bankiers” weithin ruchlose “Banker” entstanden. Alles dies ist im Übrigen auch empirisch gut belegt durch zahlreiche Studien, die nicht nur von einer grassierenden Unmoral an der (fernen) Wall Street künden (vgl. Labaton Sucharow‘s 2013), sondern auch für nicht wenige Vertreter des oberen wie mittleren Managements in Deutschland massive ethische Desorientierungen und Deformierungen diagnostizieren (vgl. Ernst & Young 2017, LAB 2015, Fika/Kraus 2013). Dass Manager im Ansehen bzw. in der Fremdzuschreibung (s. Abbildung oben) seitens der breiten Bevölkerung ohnehin nicht als Archetypus für Integrität gelten, soll hier nur der Vollständigkeit halber ergänzt werden (vgl. dazu: Edelman 2017).
So fügt es sich, dass wohl nicht nur allgemein eine gewisse “Faszination Integrität” besteht, sondern aktuell auch ein sehnsüchtiger “Schrei nach Integrität” (Brenkert 2006, S. 95) zu vernehmen ist. Bei all unseren kritischen Überlegungen gilt wohlgemerkt: Wir wollen diese keinesfalls im Sinne einer pauschalen Ehrabschneidung für das heutige Management (miss-)verstanden wissen – und dies notabene schon gar nicht für den Bereich der KMU, deren Führung ja auch heute noch weithin als integer gilt (vgl. dazu: Ethik Monitor 2010). Vielmehr möchten wir nur das unterstreichen, was wir in unserer Überschrift herausstellen: Eine Führung in Integrität wird in unserer heutigen “finanzialisierten” Wirtschaftswelt ein tatsächlich immer schwierigeres Unterfangen – eben weil hierfür immer mehr “Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen” erforderlich ist! Eben dies sollte uns sehr bewusst sein, damit wir konstruktiv über Wege diskutieren können, wie es wieder zu einem Mehr an Integrität in der Führung kommen kann. Eher kontraproduktiv erscheinen dabei jene Verlautbarungen, die Integrität in der Führung kurzerhand und pauschalisierend als “Erfolgsfaktor” deklarieren (vgl. dazu: Palanski/Yammarino 2009) – und damit quasi das Motto lancieren: “Integrität schafft Rendite!” Eine solche Instrumentalisierung ethischen Denkens und Verhaltens ist u.E. nicht nur fahrlässig, sondern auch falsch und fatal. Integrität ist kein erfolgsstrategischer Selbstläufer, sondern bezeichnet eine moralische Herausforderung. Dies, wie gesehen, heute mehr denn je.
Literatur:
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Die Autoren
Thomas Kuhn
Thomas Kuhn, geb. 1959, ist Privatdozent der Universität St. Gallen und Akademischer Oberrat an der FernUniversität in Hagen, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalführung und Organisation. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschafts- und Unternehmensethik sowie Führungs- und Personalethik.
E-Mail Adresse: Thomas.Kuhn@Fernuni-Hagen.de
Jürgen Weibler
Jürgen Weibler, geb. 1959, ist Professor für Betriebswirtschaftslehre, insb. Personalführung und Organisation, an der FernUniversität in Hagen. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Zeitgemäße Führungsformen, Entscheidungsverhalten von Führungskräften, Organisationaler Wandel, Entwicklungen im Personalmanagement. Auf der Internetplattform www.leadership-insiders.de verbindet er Erkenntnisse der Führungsforschung mit aktuellen Herausforderungen der Führungspraxis.
E-Mail Adresse: Juergen.Weibler@Fernuni-Hagen.de