„Christliche Sozialethik. Orientierung, die Menschen (wieder) gewinnt“ von Elmar Nass, Stuttgart: Kohlhammer, 2020

 

Welche Überzeugungskraft kann eine christlich begründete und theologisch argumentierende Sozialethik in einer säkularisierten bzw. multi-religiösen Welt entfalten? Wo finden sich interreligiöse Berührungspunkte und Schnittstellen zur säkularen Philosophie? Und was bedeutet das christliche Menschenbild für soziale und ökonomische Herausforderungen der Gegenwart? Mit diesen Fragenkomplexen beschäftigt sich das gerade erschienene Buch “Christliche Sozialethik” von Elmar Nass.

 

1. Theologische und anthropologische Grundlagen

Der Autor schlägt einen weiten Bogen von den Grundlagen christlicher Weltverantwortung bis hin zu aktuellen wirtschafts- und sozialethischen Anwendungsbeispielen. Aus dem gesamten Text spricht ein klares Bekenntnis zur katholischen Soziallehre einschließlich ihrer lehramtlichen Tradition, von dem nicht zuletzt die zahlreichen Verweise auf päpstliche Enzykliken von “Rerum Novarum” (1891) bis “Laudato Si” (2015) zeugen. Gleichzeitig wird laufend der Dialog mit der evangelischen Sozialethik hergestellt, wobei unzählige Literaturverweise und Zitate eine ausgeprägte theologische Tiefenschärfe erkennen lassen.

Im ersten Teil wird nach dem Auftrag christlicher Sozialethik gerade in Zeiten einer abnehmenden kirchlichen Bindung gefragt. Elmar Nass stellt einen christlich begründeten Begriff der Menschenwürde vor, der die Ambivalenz menschlicher Existenz aufgreift. So beschreibt er den Menschen als soziales Wesen, das zur Liebe und Freiheit berufen ist, aber zugleich verführbar erscheint und Neigungen wie Egoismus, Triebsteuerung und Machtgier unterliegt (S. 45), und dem trotz dieser gebrochenen Natur eine unverlierbare, unbedingte Würde zukommt. Auf dieser Grundlage macht der Autor deutlich, dass die Aufforderung zu einer eigen- und sozialverantwortlichen Entfaltung menschlicher Begabungen als Kernpostulat christlicher Sozialethik unverändert relevant ist (S. 45-49). Er zeigt damit, dass vom christlichen Menschenbild nach wie vor Impulse zur Ausgestaltung des Begriffs der Menschenwürde ausgehen, denen andernfalls eine Verdrängung droht.

 

2. Christliche Sozialethik im Dialog

Im Teil zwei seines Buches sucht der Autor den Dialog mit anderen Weltreligionen sowie säkularen ethischen Denkansätzen. Der Islam und Buddhismus werden ebenso einbezogen wie die philosophischen Ansätze von Immanuel Kant und Amartya Sen sowie die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Dabei werden Überlegungen zur Kommunikation zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen auf Augenhöhe entfaltet. Ziel des Autors ist es, Möglichkeiten einer religions- und weltanschauungsübergreifenden Kooperation auszuloten, mittels derer auf der Basis ähnlicher Humanitätsziele (bei unterschiedlichen Wertebegründungen) grundlegende Aspekte der Menschenwürde global zur Geltung gebracht werden können. An dieser Stelle hätte sich der Rezensent eine stärkere Akzentuierung von bislang unternommenen Schritten und Hindernissen auf diesem Weg gewünscht, beispielsweise unter Bezug auf das Weltethos-Projekt von Hans Küng.

In diesem Kontext beschreibt Elmar Nass zudem die Vision einer “Weltautorität auf humanistischem Fundament” (S. 146), wobei er die UN-Menschrechtscharta als wesentliche Referenz heranzieht.

 

3. Praktische Anwendungsfelder

Den größten Umfang nimmt der dritte Teil des Buches ein, der sich mit verschiedenen Anwendungsfeldern christlicher Sozialethik befasst. Dabei wird eine Vielzahl von Lebensbereichen – von ökonomischen Fragen bis hin zu Themen wie Familienleben, Organspende und Sterbehilfe – abgedeckt, die hier nur auszugsweise dargestellt werden kann.

Den Einstieg bilden Überlegungen zur Bewahrung der Schöpfung, die sich vor allem mit der Enzyklika “Laudato Si” von Papst Franziskus auseinandersetzen. Die Enzyklika wird als “notwendiger wie mutiger Schritt nach vorne” (S. 157) charakterisiert, ohne jedoch kritische Fragen auszublenden, die unter anderem das darin zugrunde gelegte idealistische Menschenbild betreffen.

Anschließend setzt sich Elmar Nass differenziert mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit auseinander, den er im Rahmen unterschiedlicher normativer Ansätze konkretisiert (S. 167). Dabei plädiert er für eine Auslegung, die auf eine Befähigung zur Entfaltung menschlicher Begabungen abzielt und sich an den Eckpunkten Solidarität und Subsidiarität orientiert. Auf der Grundlage dieses Gerechtigkeitsbegriffs geht der Autor anschließend unter anderem auf die Rolle der Erwerbsarbeit und der Bildung ein, wobei er in beiden Fällen einer Verengung auf ökonomische Dimensionen entgegentritt. So betont er die sinnstiftende Funktion der Arbeit als persönlicher Dienst und Verwirklichung von Befähigungen zum eigenen und gesellschaftlichen Wohl. Auch im Hinblick auf das Thema Bildung wird ein ganzheitlicher Ansatz vertreten, der den Menschen mit seinen ökonomischen, sozialen und transzendentalen Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt.

Außerdem geht der Autor im Detail auf verschiedene Fragen der Wirtschaftsordnung ein, wobei er ordnungspolitische Überlegungen mit sozialethischer Motivation verbindet. So setzt er sich zunächst mit der ethischen Legitimation des Marktes und des Privateigentums auseinander. Dabei gelangt er zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft, die er als erfolgreiche Verbindung effizienzsichernder Marktmechanismen mit einer christlich begründeten Idee der Menschenwürde wertschätzt. Bei seinen Überlegungen zum Thema Währungsordnung betont er den komplementären Charakter von Solidarität und Subsidiarität sowie die sozialethische Qualität der Preisstabilität. Abschließend setzt sich der Autor unter der Zielsetzung “Wirtschaftsethik neu denken” mit grundsätzlichen Fragen menschlichen Verhaltens im ökonomischen Kontext auseinander, wobei er insbesondere Erkenntnisse aus der Verhaltensökonomik einbezieht. Dabei wird deutlich, dass die inzwischen erkannte Komplexität menschlicher Entscheidungsprozesse nach einer grundlegenden Revision des “Homo Oeconomicus”-Konzeptes verlangt, bei der jedoch aus wirtschaftsethischer Sicht vor abermaligen Verengungen des Menschenbildes etwa im Sinne der Systemtheorie zu warnen ist. Dieser Abschnitt hätte noch an Überzeugungskraft gewonnen, wenn der Autor das am Rande angesprochene Thema Glücksforschung stärker einbezogen hätte.

In einem weiteren Kapital setzt sich Nass mit dem Thema Führungs- und Organisationskultur auseinander. Dort hebt er die nicht-substituierbaren Ziele der Menschendienlichkeit und Wirtschaftlichkeit als Eckpunkte guter Führungskultur hervor. Menschendienlichkeit wird unter anderem daran gemessen, dass Mitarbeitende zu einer Weiterentwicklung ihrer Kompetenzen befähigt werden und Unvollkommenheiten nicht pauschal als Mangel, sondern als Ausdruck der menschlichen Natur bzw. Geschöpflichkeit wahrgenommen werden. Überlegungen zur ethischen Bewertung neuer Technologien (wie bspw. “Pflegeroboter” oder Big Data-basierte Diagnoseverfahren) schließen die Auswahl der Anwendungsfelder ab.

 

4. Fazit

Elmar Nass hat mit diesem Buch eine vielseitige Zusammenstellung sozialethischer Herausforderungen und Lösungsangebote auf der Grundlage eines christlich motivierten Begriffs der Menschenwürde vorgelegt und dabei unzählige Brücken zwischen Theologie, Philosophie sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften geschlagen. Dabei wird der Erfahrungsschatz der katholischen Soziallehre überzeugend zu einem normativen Kompass für die Bewältigung aktueller Herausforderungen weiterentwickelt.

Der Autor stellt sich damit zugleich den normativen Debatten der Gegenwart, indem er unterschiedliche moralphilosophische Denkansätze vergleichend betrachtet und auch auf Meinungsverschiedenheiten innerhalb des katholischen Spektrums eingeht. In diesem Kontext scheut Elmar Nass vor klaren persönlichen Positionierungen nicht zurück, die jeweils fundiert begründet und als solche kenntlich gemacht werden. So lässt sich auch aus der Sicht eines nicht-katholischen Lesers gut nachvollziehen, wie auf der Grundlage normativer Leitbilder substanzielle Schlussfolgerungen zu aktuellen Fragen der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik abgeleitet werden können.

Dabei liegt auf der Hand, dass – wie bereits angedeutet – nicht sämtliche skizzierten Probleme abschließend behandelt werden können und manche Frage offenbleiben muss. Gleichwohl kann das Buch allen, die Interesse an christlich begründeten Lösungsansätzen für wirtschafts- und sozialpolitische Herausforderungen haben, fundiertes Hintergrundwissen bieten und zahlreiche Denkanregungen geben.

 

Der Rezensent

Dr. Christian Hecker

Dr. Christian Hecker ist seit 2010 stellv. Leiter des Stabes des Präsidenten der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Zuvor war er viele Jahre als Prüfer in der Bankenaufsicht tätig. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und promovierte 2008 zu einem wirtschaftsethischen Thema an der Universität Kassel. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen, so. z. B. den Wolfgang-Ritter-Preis, den Wissenschaftspreis der Plansecur-Stiftung sowie den Gustav-Hopf-Preis für Wirtschaftswissenschaften der Gothaer Lebensversicherung AG.

Der Beitrag stellt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers dar.

chrhecker@gmx.net

 

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