Nass, Elmar: Handbuch Führungsethik, Teil I: Systematik und maßgebliche Denkrichtungen, Stuttgart 2017: Kohlhammer 1. Aufl., 2018, 255 Seiten, ISBN 978-3-17-032204-2, 25 Euro

 

Wie kann ethisch legitimiertes Führungsverhalten in der heutigen Zeit aussehen? Und wie lassen sich aus unterschiedlichen philosophischen beziehungsweise weltanschaulichen Grundlagen Maximen zum Thema Führungsethik ableiten? Mit diesen Kernfragen beschäftigt sich der gerade erschienene erste Teil des “Handbuchs Führungsethik”, der in Kürze durch einen zweiten Teilband zu praktischen Fragen des Führungsverhaltens ergänzt werden soll. Der Autor des ersten Teilbandes ist Elmar Nass (Professor an der Wilhelm-Löhe-Hochschule in Fürth), der zweite Teil wird von Mathias Hartmann, dem Vorstandsvorsitzenden der Diakonie Neuendettelsau, verfasst.

 

1. Eine Systematik für die Führungsethik

Elmar Nass setzt sich im ersten Kapitel zunächst mit verschiedenen Grundparadigmen der Wirtschaftsethik auseinander, die er anschließend auf ihren Aussagegehalt zum Thema Führungsethik analysiert. Dabei betrachtet er zuerst den “ökonomischen Ansatz” der Wirtschaftsethik in der Tradition von Homann und Pies, der moralisch begründete Überlegungen ausschließlich bei der Gestaltung der Rahmenordnung des Wirtschaftens zulässt und selbst in diesem Bereich der ökonomischen Effizienz eine zentrale Bedeutung beimisst. Anschließend wird der “integrative Ansatz” der Wirtschaftsethik auf der Grundlage der Überlegungen von Ulrich und Thielemann herangezogen, der auf eine Überwindung egoistischer Interessen und die Herausbildung einer “ethisch praktischen Vernunft” (S. 58) auf diskursethischer Grundlage abzielt. Außerdem zieht der Autor einen sogenannten “metaphysischen Ansatz” heran, der von einer religiös begründeten Idee des Menschen, dem sogenannten “Humanum” (S. 64), ausgeht und daraus Aussagen für die Gestaltung wirtschaftlicher Beziehungen ableitet.

Im anschließenden Teil des ersten Kapitels geht der Autor zum Gegenstandsbereich der Führung über und setzt sich mit unterschiedlichen Führungsstilen und -kulturen auseinander. Dabei stellt er zunächst eine Kultur transaktionaler Führung, die auf Kontrolle und Sanktionen beruht, einer transformationalen Führungskultur gegenüber, die primär darauf abzielt, die Geführten zur Übernahme von Verantwortung zu befähigen (S. 76-81). Darauf aufbauend stellt der Autor in Anlehnung an Paarlberg/Bielefeld (2009) vier verschiedene Führungskulturen für den Non-Profit-Bereich dar:

  • Eine “idealistisch-rationale Kultur”, die auf eine Verwirklichung a priori vorgegebener Ideale abzielt. Den Führungskräften kommt dabei die Aufgabe zu, als richtungsweisende und glaubwürdige Vorbilder zu fungieren und auf diese Weise Motivation zu vermitteln.
  • Eine “idealistisch-dialogische Kultur”, die vor allem auf einer dialogischen Unternehmenskultur und Mitentscheidungspotentialen der Mitarbeitenden basiert. Hier wird die Aufgabe der Führung vor allem in einer motivierenden Moderation bisweilen heterogener Interessen gesehen.
  • Eine “pragmatisch-umweltbedingte Kultur”, bei der aufgrund dynamischer Umweltfaktoren eine hohe Flexibilität gefordert ist. Die Aufgabe der Führung liegt hier vor allem darin, gesteckte Unternehmensziele mit jeweils erforderlichen Anpassungsprozessen auszutarieren.
  • Eine “pragmatisch-komplexe Kultur”, die Unternehmen vor allem als Akteure in unüberschaubaren Netzwerken und im Spannungsfeld unterschiedlichster Stakeholder-Ansprüche ansieht. Als Aufgabe der Führung gilt es hier, zum einen segmentierte Unternehmensziele intern durchzusetzen und darüber hinaus auf sich ändernde externe Zielbedingungen zu reagieren und diese gegebenenfalls mit zu beeinflussen.

Auf der Grundlage dieser Überlegungen leitet Nass einen Begriff der Führungsethik (im engeren Sinne) ab, den er von nicht-normativen Führungstheorien abgrenzt. So charakterisiert er Führungsethik als eine “Führungstheorie, die explizit mit einer transparenten Wertesystematik Führungspraxis normativ bewertet” (S. 89). Er verweist auf die Herausforderung, das Verhältnis der beiden Ziele Wirtschaftlichkeit und Menschendienlichkeit so zu bestimmen, dass keines dieser Ziele instrumentalisiert oder substituiert wird. So dürfe eine Führungsethik normative Aspekte nicht als reine Erfolgskomponenten behandeln und dadurch instrumentalisieren. Andererseits müsse auch der wirtschaftliche Erfolg zwecks Sicherung des Unternehmenszwecks im Blick behalten werden.

Die von Nass zum Abschluss des ersten Kapitels entworfene Systematik der Führungsethik baut demgemäß auf der Wertebasis der Akteure auf, aus der Antworten auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Menschendienlichkeit und Wirtschaftlichkeit abgeleitet werden. Davon ausgehend soll die Bewertung der wirksamen Beeinflussung von Individuen, Beziehungen und Regeln in konkreten Anwendungsbereichen in Unternehmen, wie Personalplanung oder Unternehmenskommunikation, erfolgen. Diese Systematik wird in den anschließenden Kapiteln auf verschiedene Beispiele zur Anwendung gebracht.

 

2. Anwendung auf verschiedene Ansätze

Im zweiten Kapitel widmet sich der Autor dem Modell systemischer Führung auf der Grundlage der Systemtheorie von Luhmann sowie dessen praktischer Anwendung im St. Galler Management-Modell. Führung wird hier in Anlehnung an Orthey (2013, S. 22) als Aufgabe verstanden, die „Fortsetzungsbedingungen des Systems in den Kommunikationen des Systems abzubilden“. In seiner Analyse dieses Führungsmodells stellt Nass fest, dass der systemische Ansatz auf einer apersonalen, desubjektivierenden Idee vom Menschen aufbaut, die das Individuum in seine verschiedenen Rollen in unterschiedlichen Systemen aufspaltet. Damit liegt in seinen Augen gleichwohl eine normativ gehaltvolle Wertebasis vor, die mit anderen moralphilosophischen Begründungsansätzen grundsätzlich inkompatibel erscheint. Gleichwohl ist es aus Sicht von Nass möglich, Ideen systemischer Führung mit anderen Modellen der Führungsethik zu verknüpfen, wenn auf die apersonale Wertebasis der Systemtheorie verzichtet wird (S. 129).

Im dritten Kapitel leitet der Autor auf der Grundlage der eingangs dargelegten Grundparadigmen der Wirtschaftsethik verschiedenen Modelle der Führungsethik ab, die er sowohl aus moralphilosophischer Sicht als auch ökonomisch ausformuliert und auf ihren Aussagegehalt zur Lösung konkreter Fragen hin analysiert. So werden zunächst in der Tradition des “ökonomischen Ansatzes” verschiedene Ansätze zur Führungsethik auf normativ-individualistischer Grundlage vorgestellt. Diese Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass das Effizienzprinzip als maßgebliche Kategorie des Ziels der Wirtschaftlichkeit eine zentrale Rolle spielt, während das Ziel der Menschendienlichkeit als logische Konsequenz individualistischer Wirtschaftlichkeit eingestuft wird, in dem Sinne, dass der erzielte Ertrag der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient (S. 135 f.). Dadurch wird moralisches Verhalten in Führungsprozessen letztlich zu einer Strategie der Steigerung der Wertschöpfung, an deren Erfüllung sich sämtliche Führungsinstrumente messen lassen müssen.

Im Rahmen des sog. “deontologischen Paradigmas” stellt der Autor verschiedene Ansätze vor: eine “integrative Führungsethik” im Sinne von Thielemann/Ulrich (2009), eine kantische Führungsethik und einen “Leadership the Army Way”. Dabei wird die “integrative Führungsethik” unmittelbar mit der Idee einer Sozialen Marktwirtschaft in Verbindung gebracht, da sie auf einer unbedingten Achtung der Grundrechte sämtlicher Stakeholder basiert und daraus für alle Beteiligten im Unternehmen die reziproke Pflicht ableitet, einander gegenseitig zur Autonomie zu befähigen. Für den Bereich der Personalführung bedeutet dies eine Zurückdrängung egoistischer Rationalität und eine Förderung von Tugenden wie Mut und Zivilcourage in einer angstfrei kritisch-kreativen Atmosphäre. Dass damit auch eine Leistungsverbesserung einhergehen kann beziehungsweise sollte, wird durchaus anerkannt, bildet jedoch nicht den Kern der Argumentation, da ethische Zielsetzungen um ihrer selbst willen postuliert werden.

Aus dem Bereich des “metaphysischen Paradigmas” thematisiert Nass zunächst die anthroposophische Führungsethik am Beispiel der Drogeriemarktkette dm, die eine ausgeprägte humane Befähigungsmission vertritt (S. 187-193). So sollen die Mitarbeiter zur Entdeckung verborgener kreativer Potentiale befähigt werden und dadurch zugleich ein persönliches Mitunternehmertum entfalten. Auf diese Weise wird eine Führungskultur angestrebt, bei der die Trennlinien zwischen Führungskräften und Geführten in dem Maße verschwimmen, wie sich beide Seiten gegenseitig befreien und zu Höherem befähigen.

Im Anschluss daran entwickelt der Autor im Rahmen des “metaphysischen Paradigmas” eine christliche Führungsethik, die auf die Entfaltung des Menschen als Antwort auf Gottes Geschenk des Personseins abzielt (S. 195 f.). Unter dieser Prämisse leitet Nass eine dreifache Verantwortung des Menschen gegenüber Gott, sich selbst und seinen Mitmenschen ab, die es auch im Rahmen des Führungsverhaltens zu entfalten gilt. Daraus werden unter anderem Ideen für eine Personalführung in der Tradition der katholischen Soziallehre entwickelt. Dabei stellt der Autor die Vermittlung von Sinnerfahrung und Kreativität, die Würdigung von Leistung und Motivation, die Verwirklichung von Entscheidungsfähigkeit und Mitverantwortung sowie die gegenseitige Ergänzung der Mitarbeiter in interaktiven Beziehungen heraus. Ergänzend dazu präsentiert Nass in einer ökumenischen Sichtweise eine Führungsethik Sozialer Marktwirtschaft, die an die weltanschaulichen Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft wie Eucken und Müller-Armack anknüpft und deren Überlegungen u.a. anhand des neo-aristotelischen Befähigungsansatzes von Sen und Nussbaum weiterentwickelt. Hierbei stehen die Generierung von Vertrauen, die Verwirklichung von Verantwortung im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips sowie die Befähigung der Mitarbeitenden zur Eigenverantwortung im Mittelpunkt. Abschließend werden verschiedene Ideen zu einer „Servant Leadership“ in christlicher Tradition dargestellt, die darauf abzielen, im Rahmen einer dienenden Unternehmenskultur vor allem die Stärken von Mitarbeitenden weiterzuentwickeln und dadurch wirtschaftlichen Erfolg und Menschendienlichkeit gleichermaßen zu verwirklichen.

 

3. Fazit1

Insgesamt vermittelt das Buch von Elmar Nass einen profunden Überblick über verschiedene Ansätze, Überlegungen zum Führungsverhalten normativ zu verankern. Schnittmengen und Anschlussmöglichkeiten unterschiedlicher Denkansätze werden aufgezeigt und hinsichtlich ihrer praktischen Relevanz bewertet. Dadurch liefert das “Handbuch Führungsethik” gerade für eine pluralistische Gesellschaft Möglichkeiten zur ethischen Orientierung, die auf der Grundlage klar strukturierter Begriffe Dialog ermöglichen, Kooperationspotentiale erschließen und gemeinsame Antworten auf die Herausforderungen der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts initiieren können.

 

Fußnote:

1) Der Beitrag stellt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers dar und gibt nicht notwendigerweise Positionen der Deutschen Bundesbank wieder.

 

Literatur:

Orthey, Frank Michael (2013): Systemisch führen. Grundlagen, Methoden, Werkzeuge, Stuttgart.

Parlberg, Laurie E. – Bielefeld, Wolfgang (2009): Complexity Science. An Alternative Framework for Understanding Strategic Management in Public Serving Organizations; in: International Public Management Journal, 12 (2), S. 236-260.

Thielemann, Ulrich – Ulrich, Peter (2009): Standards guter Unternehmensführung. Zwölf internationale Initiativen und ihr normativer Orientierungsgehalt. St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik 43, Bern/Stuttgart/Wien.

 

Der Rezensent

Dr. Christian Hecker

Dr. Christian Hecker ist seit 2010 stellv. Leiter des Stabes des Präsidenten der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Zuvor war er viele Jahre als Prüfer in der Bankenaufsicht tätig. Er studierte Volkswirtschaftslehre und Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und promovierte 2008 zu einem wirtschaftsethischen Thema an der Universität Kassel. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er eine Reihe von Auszeichnungen, so. z. B. den Wolfgang-Ritter-Preis, den Wissenschaftspreis der Plansecur-Stiftung sowie den Gustav-Hopf-Preis für Wirtschaftswissenschaften der Gothaer Lebensversicherung AG.

 

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