Sollen Jugendliche in Schulen mehr über Angebot und Nachfrage oder über variable und fixe Kosten lernen? Manche sehen darin praktische Lebenshilfen, andere fürchten eine neoliberale Gehirnwäsche.
von Thomas Beschorner
Weite Teile der Bevölkerung verfügen über nur geringe ökonomische Kenntnisse. Das zeigt eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Studie. Wenigstens aus zwei Gründen ist dieses Kompetenzdefizit besorgniserregend: Erstens leitet sich daraus ein mangelndes Verständnis über das aktuelle Wirtschaftssystem ab, das ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft ist – ob man den Kapitalismus nun mag oder nicht. Zweitens kann ökonomisches Wissen sehr nützlich sein, um das eigene Leben selbstbestimmt zu gestalten und zu bewältigen. Zum Beispiel wenn man in der Lage ist, zwischen Fixkosten und variablen Kosten zu unterscheiden. Wenn man Kreditkosten kalkulieren und Netto- von Bruttoeinkommen unterschieden kann. Oder wenn man sich um die eigene Altersvorsorge kümmern möchte.
Die geringen ökonomischen Kenntnisse breiter Teile der Bevölkerung führen zu einem ersten Reflex, der sogleich einen weiteren nach sich zieht. Der erste Impuls ist der Ruf nach ökonomischer Bildung, etwa in Form eines Schulfachs Wirtschaft an allgemeinbildenden Schulen. Die zweite Reaktion sieht eben genau dies kritisch: Neoliberale Gehirnwäsche schon im Jugendalter, damit der Kapitalismus noch geschmeidiger wird? Nein danke!
Die Frage, ob es eines eigenständigen Schulfachs Wirtschaft an allgemeinbildenden Schulen bedarf, ist nicht nur hypothetischer Natur. Eine Diskussion darüber ist bereits in vollem Gange. Und erste Umsetzungen gibt es auch: In Baden-Württemberg wird ein solches Fach seit dem Schuljahr 2016/17 unterrichtet. In Nordrhein-Westfalen ist es wichtiger Bestandteil des Koalitionsvertrages und soll in der aktuellen Legislaturperiode umgesetzt werden. Sowohl in Verlautbarungen aus dem Stuttgarter Kultusministerium als auch im nordrhein-westfälischen Koalitionsvertrag bemüht man sich um Formulierungen, die den allgemeinbildenden Charakter eines Faches Wirtschaft unterstreichen. Es soll um ökonomische Allgemeinbildung gehen.
Um was geht es?
Aber was bedeutet eigentlich ökonomische Allgemeinbildung? Welche didaktischen Herausforderungen sind damit verbunden? Und wer soll dies umsetzen? Dazu sieben Überlegungen und Anstöße:
Erstens: Ökonomische Allgemeinbildung ist umfassender als die Standardinhalte, die in volkswirtschaftlichen Einführungsvorlesungen der wirtschaftswissenschaftlichen Studiengänge vermittelt werden. Ein Verständnis zu Preisbildungsprozessen, die Funktion von Märkten, das Konzept von Alternativkosten oder Fragen von Zinspolitik sind wichtig. Ökonomie sollte darauf jedoch nicht reduziert werden. Ökonomische Allgemeinbildung ist nicht gleich neoklassische Ökonomik und nicht nur Mathe.
Arbeitnehmer und Konsumenten nicht vergessen
Mindestens ebenso wesentlich sind, zweitens, Dimensionen der Einbettung des Ökonomischen in einen umfassenderen gesellschaftlichen Kontext, gerade auch deshalb, weil breite Teile der Bevölkerung den berechtigten Eindruck haben, die Wirtschaft habe sich von der Gesellschaft entkoppelt und spiele oft genug ihr Spiel zu Lasten anderer. Gleichgültig, ob es sich um die Ursprünge von Marktwirtschaften und der weiteren historischen Entwicklung hin zum Kapitalismus handelt, ob es das Wesen (oder nicht nur die ökonomische Funktion) von Geld betrifft, ob moralische Grundlagen von Ökonomie im Mittelpunkt stehen, Fragen von Arbeit oder einer ökologischen Ökonomie thematisiert werden, die Verwendung einer strikt ökonomischen Methode kommt bei derartigen Fragen sehr schnell an ihre Grenzen.
Ökonomische Allgemeinbildung ist daher im Kern multi- und interdisziplinär zu gestalten und muss zwingend sozial- und kulturwissenschaftliche, historische, ja selbst philosophische Perspektiven beinhalten. Ein Nachdenken über Wirtschaft sollte man nicht nur den Ökonomen und (wenigen) Ökonominnen überlassen.
Drittens, bei der Vermittlung von ökonomischen Inhalten an Schulen gilt es sich davor zu hüten, eine ausschließlich verengte kapitalorientierte und unternehmenszentrierte Sichtweise zu vermitteln. Es wird allzu oft übersehen, dass zu einer modernen Ökonomie die Rolle der sogenannten Arbeitnehmer ebenso dazugehört wie die der Konsumentinnen und Konsumenten. Allein der Begriff Arbeitnehmer spricht ideologische Bände: “Nehmen” Arbeiter und Angestellte die Arbeit oder “geben” sie diese?
Pädagogische und didaktische Herausforderung
Themenfelder zur Bedeutung von Arbeit (jenseits der Bedeutung als Produktionsfaktor oder Human Ressource), die vergangenen und zukünftigen Veränderungen der Arbeitswelt gilt es ebenso an zentraler Stelle zu diskutieren wie Fragen des (überflüssigen) Konsums, eine Konsumverantwortung oder der von uns Konsumentinnen und Konsumenten hinterlassene ökologische Fußabdruck zu lasten zukünftiger Generationen. Wachstumskritische Diskussionen können sich hier nahtlos anschließen.
Viertens: Die pädagogische und didaktische Umsetzung dieser und einer Vielzahl weiterer möglicher Themenbereiche ist keine Kleinigkeit. Es bedarf der vorbereitenden Arbeit von Wirtschaftspädagogen, der Umsetzung in Rahmenlehrplänen auf Länderebene und letztlich der konkreten Realisierung durch Lehrerinnen und Lehrer an Schulen.
Mit Bezug auf den Unterricht liegen die größten didaktischen Herausforderungen, fünftens, in Unterrichtsformaten, die zweierlei zu leisten haben: Zum einen betrifft dies die Vermittlung von Inhalten und Kompetenzen in allgemeiner Hinsicht. Es geht dabei um Aufklärung im besten Sinne des Wortes und im Kern um ein demokratisches Programm, nämlich: Bürgerbildung, der Bürger als (politischer) Citoyen, nicht nur als (wirtschaftlicher) Bourgeois.
Welche Lehrer eignen sich?
Sechstens: Zum anderen – und eben dies treibt natürlich Lehrerinnen und Lehrer um – stellt sich die Frage nach der Vermittlung derartiger Themen, die nicht nur auf Wissen, sondern auch auf Reflexionskompetenzen abstellen. Hier scheint es besonders geboten, einen lebensweltlichen und handlungsorientierten Zugang in den Lernfeldern zu wählen, der stets die Frage im Blick behält, was und inwiefern die verschiedenen Themen mit dem Leben der Schülerinnen und Schüler zu tun haben. Vom Besonderen über das Allgemeine lernen, also in methodischer Hinsicht induktiv-deduktiv vorzugehen, erscheint gerade bei einem Fach Wirtschaft sehr gut möglich und könnte zudem eine doppelte Funktion erfüllen: Kompetenzvermittlung für die individuelle ökonomische Lebensgestaltung und Vermittlung eines breiten, aufgeklärten Verständnisses von Ökonomie.
Aus den genannten Punkten leiten sich, siebtens, hohe fachliche wie didaktische Anforderungen für das Lehrpersonal ab, das nach meiner Einschätzung bislang nicht zur Verfügung steht. Der Import von Berufsschullehrern in allgemeinbildende Schulen birgt das tendenzielle Problem einer reinen Vermittlung von ökonomischem Fachwissen, was das Ziel einer ökonomischen Allgemeinbildung verfehlen würde. Lehrerinnen und Lehrer aus sozialwissenschaftlichen Fächern, wie Sozialkunde oder Politik, den Geschichtswissenschaften oder der Philosophie erscheinen zwar der Idee der Allgemeinbildung näherzustehen, müssten aber umgedreht in Ökonomie aus- und weitergebildet werden, was sich nicht in einem zweitätigen Crashkurs realisieren lässt.
Wirtschaft als Schulfach? Schülerinnen und Schüler werden in Bereichen des Sozialen, der Technik, der Religion, der Politik und der Kunst unterrichtet. Es gibt gute Gründe, dieses Spektrum an allgemeinbildenden Schulen auch auf den Bereich Wirtschaft auszuweiten. Die wesentliche Frage ist jedoch, welche Art von Ökonomie dabei vermittelt wird.
Seien wir realistisch: Es besteht die große Gefahr, dass es sich bei den Inhalten um Nullachtfünfzehn-Ansätze aus den traditionellen Wirtschaftswissenschaften handelt. Und man liegt sicherlich nicht falsch, wenn man vermutet, dass wirtschaftsnahe Verbände und Institutionen bereits fix und fertige Unterrichtsentwürfe in den Schubladen haben, die Lehrerinnen und Lehrer ebenjene verengte Sichtweise häppchengerecht anbieten.
Die Vermittlung ökonomischer Inhalte und der Kompetenzerwerb in einem Fach Wirtschaft sollte andere Wege beschreiten, will sie dem Selbstanspruch einer ökonomischen Allgemeinbildung genügen. Sie sollte lebensdienlich in dem Sinne sein, dass sie Menschen bei praktischen Lebensfragen Hilfestellungen leistet. Und sie sollte eine Idee von Ökonomie vermitteln und kritische Perspektiven anregen, die ein Wirtschaften im wahrsten Sinne des Wortes als dem Leben dienend versteht. So kann es gerne Schule machen.
* Der Originalbeitrag ist am 12.2.2018 auf ZEIT Online erschienen:
https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-02/schulfach-wirtschaft-oekonomische-allgemeinbildung-perspektiven/komplettansicht
Der Autor
Prof. Dr. Thomas Beschorner
Prof. Dr. Thomas Beschorner absolvierte nach einer Ausbildung zum Kaufmann im Groß- und Außenhandel ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kassel und der National University of Ireland. 2001 promovierte er am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und hatte anschließend Forschungs- und Lehraufenthalte in Kanada. 2007 habilitierte er sich an der Universität Oldenburg. Seit 2011 ist er Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.
Prof. Dr. Thomas Beschorner ist Gründer und Mitherausgeber der “Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik” (Rainer-Hampp-Verlag) sowie der Buchreihe “Ethik und Ökonomie” beim Metropolis-Verlag. Er ist Gründer und Mitherausgeber von “CSR NEWS” und “CSR MAGAZIN” (gemeinsam mit Achim Halfmann) sowie Gründer und Leiter der Transatlantic Doctoral Academy on Corporate Responsibility (TADA), gemeinsam mit Matthias Schmidt.