Zeitenwende ist eine Metapher für tiefgreifende Veränderungen, die eine historische Zäsur darstellen. Epochen, in denen sich die Zeiten wenden – und nicht nur ändern -, sind “liminale Perioden”. Sie markieren einen Schwellenzustand, bei dem die alte Welt nicht mehr und die neue noch nicht (da) ist. Willkommen in den 2020er Jahren!

Vor dem Hintergrund der aktuellen (welt-)politischen Entwicklungen, so die These, ist es höchste Zeit für eine Zeitenwende in der Wirtschaft – sowohl in der unternehmerischen Praxis selbst als auch in der wissenschaftlichen Reflexion von Wirtschaft und Gesellschaft.

Um die gegenwärtige Situation zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf die gesellschaftliche Großwetterlage in den USA. Was wir aktuell in den Vereinigten Staaten beobachten können, ist keine gewöhnliche politische Polarisierung. Es handelt sich vielmehr um einen tiefgreifenden Kulturkampf, der sich gegen zentrale Institutionen und normative Grundordnungen demokratischer Gesellschaften richtet. Kultur, so hat es der Anthropologe Clifford Geertz formuliert, ist ein Gewebe von Bedeutungen, in das wir Menschen verstrickt sind. Dieses Bedeutungsgewebe gibt unserer Welt Orientierung, es strukturiert unsere Wirklichkeitsauffassung, unsere Deutungen, unsere Werte. Und genau dieses Gewebe steht derzeit unter Beschuss.

Ein bemerkenswertes historisches Dokument, das hier aufschlussreich ist, stammt aus dem Jahr 1971: das sogenannte Powell-Memorandum. In einem Brief an die US-Handelskammer warnte der spätere Supreme-Court-Richter Lewis F. Powell vor einem angeblichen ideologischen Angriff auf das System des freien Unternehmertums – ausgeübt durch “Communists, New Leftists and other revolutionaries who would destroy the entire system, both political and economic.”

Powell forderte eine umfassende Gegenstrategie, die auf eine kulturelle Hegemonie des wirtschaftsliberalen Denkens abzielte: Einflussnahmen auf Medien, Universitäten, Thinktanks und Schulen, um ein positives Image des Kapitalismus zu erzeugen und zu sichern. Dieses “institutional image making” wurde in den Folgejahren strategisch massiv vorangetrieben, etwa durch die Gründung der Heritage Foundation im Jahr 1973, die später große Teile des wirtschaftspolitischen Programms Ronald Reagans prägte.

Was wir heute erleben, insbesondere unter Donald Trump, ist eine Radikalisierung dieser Vorgehensweise. Es geht jedoch längst nicht mehr nur um Imagepflege des Kapitalismus, sondern um ideologische Umbauarbeiten im Kern des gesellschaftlichen Diskurses. Trumps Projekt zielt auf ein institutional ideology making. Es geht darum, bestehende Ideen, Institutionen und ihre Trägerorganisationen zu delegitimieren und abzuräumen. Im Zentrum dieser Angriffe stehen die Medien, die Wissenschaft, kulturelle Institutionen, zivilgesellschaftliche Organisationen – und zunehmend auch das Rechtssystem.

Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass auch hier rechtspopulistische Kräfte, allen voran die AfD, vergleichbare Strategien verfolgen. Auch in Deutschland wird gegen Medien gehetzt (mit Wortschöpfungen wie “Mainstreammedien” oder “legacy media”), Geschichte versucht umzudeuten (“Hitler war Sozialist”), Wissenschaft diffamiert (der “Elfenbeinturm”) und zivilgesellschaftliches Engagement systematisch unter Druck gesetzt.

Der Soziologe Max Weber hat dazu einmal formuliert: “Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die “Weltbilder”, welche durch “Ideen” geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.”

Genau diese Weichenstellungen stehen nun im Fokus autoritärer und illiberaler Kräfte. Es geht um die Frage, welche Ideen und Weltbilder künftig unser Handeln strukturieren sollen.

In diesem ideologischen Kampf, so haben die vergangenen Monate gezeigt, geraten mittlerweile auch Unternehmen ins Visier. In den USA werden Firmen, die sich öffentlich zu Vielfalt, Gleichstellung oder Klimaschutz bekennen, als “woke” gebrandmarkt. Besonders Programme zur Förderung von Diversität und Inklusion stehen unter Beschuss. Auch europäische Unternehmen bleiben von diesem Druck nicht verschont. Einige erhielten bereits Schreiben amerikanischer Botschaften, in denen ihre gesellschaftliche Positionierung angemahnt wurde. In der Folge haben einzelne Unternehmen Programme zurückgefahren oder öffentlich abgeschwächt – auch in Deutschland und in der Schweiz.

Man muss vorsichtig sein mit Verallgemeinerungen, denn wir verfügen derzeit über keine empirischen Daten, die Auskunft dazu geben, wie umfangreich die Wegduckstrategien europäischer Unternehmen sind. Zugleich – und das ist das Fatale – würde dies leider in die Logik der Sache passen, womit ich auf drei Probleme in der betriebswirtschaftlichen Theorie (BWL) und in der unternehmerischen Praxis eingehen will (zum Folgenden siehe unseren Gastbeitrag “Im Wunderland des Win-win” in der F.A.Z. vom 10.06.2025).

Erstens, die BWL und die unternehmerische Praxis sind tendenziell normativ entleert. Es wird lediglich danach gefragt, wie Unternehmen sich „zeitgeistig“ verhalten sollen, nicht aber was ethisch geboten ist. Wenn gestern noch Diversity-Programme in Unternehmen, unternehmerische Strategien für den Klimaschutz oder ein Einsatz für Demokratie opportun erschienen, so kann dies eben morgen nicht mehr der Fall sein oder sich gar ins Gegenteil verkehren. Das jedenfalls ist die Logik des “Business Case” von Corporate Responsibility – CR -, der den Buchstaben “R” – Responsibility/Verantwortung – im Kern nicht ernst nimmt – mit der Konsequenz: CR Minus R = C.

Zweitens, Grund und zugleich Ausdruck eines normativen Vakuums sind besonders einem dominanten monorationalen Verständnis von Unternehmen geschuldet, indem einzig ein spezifischer Rationalitätstypus fokussiert wird: ökonomische Rationalität.

Kosten und Nutzen werden kalkuliert, um daraus optimierungsbedürftige Zielgrößen abzuleiten. Getan wird in einem ökonomischen Denken das – und nur das -, was in Anbetracht von vorgestellten Sachzwängen in ökonomischer Sicht als alternativlos erscheint.

Drittens, anders als es sich in den üblichen Apparaturen in Theorie und Praxis darstellt, haben wir es in organisationalen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten mit interdependenten, miteinander verschränkten Systemen zu tun, die Unternehmen zu einem multirationalen Management auffordern. Anders formuliert: Gutes Management (auch funktional gutes Management) erfordert die Berücksichtigung von multiplen Rationalitäten – ökonomisches Denken (Zweckrationalität) zählt natürlich dazu, aber es geht weitergehend u.a. auch um “Wertrationalitäten” (Max Weber); im Sprech des St.Galler Management Models: es geht um ein normatives Management.

Die Verarbeitung multipler Rationalitäten ist, wenn man so will, eine Mehrhändigkeit. Das Wort “managing” oder “Management” leitet sich aus dem Lateinischen “Manus” ab. Manus heißt Hand. Es geht also um eine gänzlich andere “Handhabung” von Unternehmertum, die seit Jahrzehnten auf sich warten lässt.

Wir konnten Fehlstellungen eines monorationalen Denkens in der globalen Finanzkrise 2007-2008 gut beobachten. Wir sehen derzeit ähnliche Phänomene in Anbetracht der ökologischen Krise.

Und wir sehen es ebenso mit Blick auf die Aushöhlung von demokratischen Werten in westlichen Gesellschaften. Deshalb unser Appell: Unternehmen sollten sich aktiver, sichtbarer, vernehmbarer für Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt engagieren. Leider ist es um dieses Thema in letzter Zeit wieder still geworden – zu still, wenn man die Dringlichkeit der gegenwärtigen Herausforderungen bedenkt.

Zusammenfassend ist es aus unserer Sicht Zeit für eine Zeitenwende in der Wirtschaft. Eine Zeitenwende in der Art und Weise, wie wir Unternehmensverantwortung verstehen, leben und lehren. Eine Zeitenwende auch für die Betriebswirtschaftslehre selbst – hin zu einer disziplinären Selbstvergewisserung darüber, was Wirtschaft im 21. Jahrhundert bedeutet. Verantwortung darf dabei nicht länger eine Nebenbedingung in der betriebswirtschaftlichen Theorie und Praxis bleiben. Verantwortung gehört ins Zentrum des Unternehmerischen – als ethisches, politisches und gesellschaftliches Prinzip.

 

HINWEIS:
*** Dieser Text basiert auf einem Impulsvortrag von Thomas Beschorner im Rahmen der UPJ-Jahrestagung 2025 in Berlin und einem Gastbeitrag der beiden Autoren dieses Textes in der F.A.Z vom 10.6.2025 ***

 

Der Autor

Prof. Dr. Thomas Beschorner

Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen.

 

 

 

Prof. Dr. Blagoy Blagoev

Blagoy Blagoev ist Professor für Organisation und Direktor des Forschungsinstituts für Arbeit und Arbeitswelten der Universität St. Gallen

 

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