“Es gibt keine gute Entscheidung” – ein wirtschaftsethischer Kommentar

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und das unermessliche Leid der Menschen dort rufen zurecht Empörung, Wut und auch den Wunsch nach Bestrafung des Aggressors hervor. Doch Wut ist kein guter Ratgeber angesichts der Folgen, die aus den verständlichen Rufen nach den schwerstmöglichen Sanktionen Maßnahmen gegen das Putin-Regime folgen könnten. Bei Sanktionen bis hin zu einem vollständigen Embargo gegen russische Gas- und Ölimporte müssen auch Kosten, Nutzen und Risiken aus einer langfristigen Sicht abgewogen werden. Die rein tugendethische Argumentation und Begründung von maximaler Härte gegen einen unmenschlichen Aggressor sind menschlich nachvollziehbar – aus wirtschaftsethischer Perspektive jedoch ist eine utilitaristische Abwägung geboten.

 

Was würde ein Energie-Embargo bringen?

Ein Stopp russischer Energielieferungen – ob vom Westen verhängt oder von Russland initiiert – würde in Deutschland und in der Folge in weiteren europäischen Ländern erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Ob die Bundesrepublik dies verkraften kann, ist dabei allerdings gar nicht die entscheidende Frage. Vielmehr entscheidend ist, ob ein komplettes Embargo den Krieg in der Ukraine tatsächlich verkürzen würde. Denn die russische Führung hat die Folgen harter Sanktionen bisher anscheinend gut verkraftet, zumal ihr das Leid der eigenen Bevölkerung vollkommen egal zu sein scheint. Außerdem entsprächen die Kosten eines Einbruchs der Wirtschaft in Deutschland um nur 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der gesamten in der Ukraine erwirtschafteten Wertschöpfung im Jahr 2021. Es könnte sinnvoller sein, diese Ressourcen für den Wiederaufbau oder die militärische Unterstützung auszugeben, statt hierzulande einen Wirtschaftseinbruch mit unabsehbaren Folgen – auch was ein rasches Kriegsende angeht – zu riskieren. Eine solche Kalkulation widerspricht dem moralischen Impuls, dem Aggressor schnell und sofort zu schaden – vor allem im Angesicht der Gräueltaten, die derzeit aufgedeckt werden. Aber Politiker müssen auch die langfristigen Folgen beachten und dabei zwischen zwei Übeln entscheiden. Der Krieg lässt sich eher beenden, wenn die Kampfmoral der russischen Truppen weiter leidet und Soldaten Angebote zum Desertieren und zur Flucht in den Westen gemacht werden als durch eine Schädigung der eigenen Wirtschaft.

 

Mit Russland verhandeln, auch wenn’s schwerfällt

Außerdem muss bei jeder weiteren Eskalationsstufe der Sanktionen das Risiko einer Ausweitung des Kriegs auf ganz Europa bedacht werden, zumal mit Putin ein Gegner auf der anderen Seite steht, dessen Taten nicht rational berechenbar sind. Darum sucht die Wirtschaftsethik immer nach Wegen zur Deeskalation – so aussichtslos und unwahrscheinlich diese zurzeit auch erscheinen mögen. In Verhandlungen – wie zuletzt in der Türkei zwischen den Kriegsparteien – müssen Lösungen gefunden werden, bei der beide Seiten ihr Gesicht wahren können bzw. ein Ziel erreichen. Für die Ukraine wäre dies Frieden, für Russland minimal die Bündnisenthaltsamkeit der Ukraine. Um das zu erreichen, sind wirtschaftliche Druckmittel erforderlich, genauso aber “Belohnungen” im Sinne der Rücknahme von Sanktionen für nachgewiesenen Schritten zur Eindämmung des Krieges. Der Bundesregierung versucht einen Mittelweg zu gehen, der aus einer moralischen Perspektive nur schwerlich vertretbar scheint, aber vermeidet, dass am Ende gar keine Maßnahmen gegen den Aggressor mehr zur Verfügung stehen – außer der Ultima Ratio, einer weiteren Eskalierung des Konfliktes, über den allerdings sowieso zuallerletzt in Berlin entschieden werden würde. Denn wenn mit einem massiven Energie-Embargo der Krieg nicht beendet wird – was dann?

 

Literatur

Enste, Dominik, 2008, Marktwirtschaft und Moral – eine ordnungsethische Reflexion, IW-Position, Nr. 24, Köln

Enste, Dominik / Wildner, Julia, 2014, Mitverantwortung und Moral – eine unternehmensethische Reflexion, IW-Position, Nr. 63, Köln

Enste, Dominik / Wildner, Julia, 2015, Mensch und Moral – eine individualethische Reflexion, IW-Position, Nr. 70, Köln

Pies, Ingo, 2022, Angst ist kein guter Ratgeber – Wut auch nicht: Ordonomische Reflexion zum Urkraine-Krieg, https://www.forum-wirtschaftsethik.de/angst-ist-kein-guter-ratgeber-wut-auch-nicht-ordonomische-reflexionen-zum-ukraine-krieg/ [26.04.2022].

Hinweis:
Seite des Originalbeitrags:
https://blog.iw-akademie.de/2022/04/26/energie-embargo-eine-wirtschaftsethische-abwaegung/

 

Prof. Dr. Dominik H. Enste

Prof. Dr. Dominik H. Enste hat nach seiner Ausbildung zum Bankkaufmann Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Köln, Dublin und Fairfax (Virginia) studiert (Diplom) und zu wirtschaftsethischen Themen promoviert (Dr. rer. pol). Nach einigen Jahren in der Finanz- und Versicherungsbranche wechselte er 2003 zum Institut der deutschen Wirtschaft Köln und ist seit 2011 dort Leiter des Kompetenzfeldes Verhaltensökonomik und Wirtschaftsethik. Seit 2012 ist er außerdem Geschäftsführer der IW Akademie GmbH und zugleich seit 2013 Professor für Wirtschaftsethik und Institutionenökonomik an der Technischen Hochschule Köln und Dozent an der Universität zu Köln.

 

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