1 Mythos NPO
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Nonprofit-Organisationen hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. NPO haben zwar eine andere Zielsetzung als kommerzielle Unternehmen, sie können aber in vielerlei Hinsicht ebenfalls als Wirtschaftsorganisationen betrachtet werden. Die Organisationen erbringen wichtige Dienstleistungen, für die der Markt nicht oder nur in unzureichendem Masse spielt. In gewissen Teilsektoren sind sie bedeutsame Player und attraktive Arbeitgeberinnen für Fach- und Führungskräfte. Gleichwohl bleibt die Tätigkeit von und in Nonprofit-Organisationen mit Klischees behaftet. So hält sich beispielsweise die Vorstellung, dass in NPO ein tieferes Niveau an Professionalität und Wirtschaftlichkeit gelte als anderswo, beziehungsweise dass es für die Tätigkeit in einer solchen Organisation – einschliesslich des Managements – keine spezifischen Qualifikationen brauche. Sich gutmeinend engagagieren kann schliesslich jeder. Diese Annahme ist der langen Tradition von Freiwilligkeit und Ehrenamt geschuldet und übersieht, dass sich NPO in vielen Fällen zu hochspezialisierten Expertenorganisationen entwickelt haben. (Auch das Freiwilligenmanagement selbst bedingt heute anspruchsvolles Spezialwissen.) Im Weiteren wird vermutet, dass der Umgang unter den Mitarbeitenden sowie zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden weniger fordernd sei als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Während aus dem ersten Vorurteil (mangelnde Professionalität) eine Kritik an der Qualität der Leistungserbringung abgeleitet werden kann, schwingt beim zweiten (höhere Mitarbeiterorientierung) ein positiver Unterton mit, namentlich die Hoffnung, dass es in NPO etwas “humaner” zugeht als in anderen Arbeitskontexten.
Bezogen auf Führung und Ethik lässt sich dies wie folgt zuspitzen: Zum einen steht die Behauptung im Raum, die Managementaufgabe sei nicht besonderes anforderungsreich. Da die Organisationen nicht den Marktkräften ausgesetzt sind, also kaum Wettbewerbsdruck besteht und kein Gewinn erzielt werden muss, benötige man nur geringe unternehmerische Kompetenz. Zum anderen wird unterstellt, dass es unter den in NPO tätigen Personen zu weniger Problemen komme oder dass allfällige Schwierigkeiten aufgrund des allseitig grossen Engagements vergleichsweise leicht zu lösen seien.
Wie die nähere Beschäftigung mit Nonprofit-Organisationen zeigt, lassen sich durchaus einige besondere Charakteristika dieser Unternehmen benennen. Es wäre jedoch falsch zu folgern, dass sie einfacher zu managen sind als andere Betriebe oder dass sich weniger führungsethische Fragen stellen. In diesem Beitrag wird für die gegenteilige Position argumentiert: Die Führung einer NPO ist eine äusserst anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert das Aushalten und Ausbalancieren von widersprüchlichen Erwartungen einer Vielzahl von Stakeholdern und sieht sich permanent mit schwierigen führungsethischen Herausforderungen konfrontiert (Herzka 2017).
2 Spezifika von NPO
In Bezug auf Führungsethik in Nonprofit-Organisationen sind bereits die basalen Begriffe klärungsbedürftig. Zunächst muss festgelegt werden, um welche Art von Organisationen es sich handelt und wie sich diese von andern kollektiven Akteuren unterscheiden. Seit den 1990er Jahren hat die internationale Nonprofit- und Civil Society-Forschung hierfür Definitionen und eine breit anerkannte Klassifikation erarbeitet (Salamon/Anheier 1996; Salamon et al. 2003). Dabei zeigt sich, dass eine ausschliesslich ökonomische Betrachtung nur bedingt hilfreich ist, lässt sich doch der Sektor nur sehr ungefähr eingrenzen und die “Hybridität” von Organisationen wird zunehmend zum Normalfall (Glänzel/Schmitz 2012). NPO entwickeln kommerzielle Aktivitäten und primär gewinnorientierte Unternehmen werden in traditionellen Nonprofit-Feldern tätig. Ähnliche Entwicklungen ergeben sich im Verhältnis zum Staat, der NPO (mit) finanziert oder Aktivitäten in teilunabhängige Organisationseinheiten auslagert. Zudem ist die Negativdefinition “Nonprofit” etwas irreführend: Zwar müssen Gewinne nicht maximiert werden und sie dürfen nicht ausgeschüttet werden. Aber auch diese Betriebe können es sich nicht leisten, “verlustorientiert” zu arbeiten und streben daher grundsätzlich ein positives Ergebnis an.
Als Finanzierer von NPO und staatlichen Einrichtungen über Mitgliederbeiträge, Steuern oder Spenden erwarten wir, dass die jeweilige Organisation ihre zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal einsetzt, das heisst, effizient arbeitet und Wirkung erzielt. Dafür braucht es Strukturen, Prozesse und die Festlegung von Befugnissen. Damit steht neben der Gewinnorientierung ein weiteres Konzept zur Diskussion: Führung beziehungsweise Management. (Ob es sich bei den beiden Begriffen um das Gleiche handelt oder ob sie lediglich auf unterschiedliche Aspekte einer leitenden Tätigkeit zielen, ist eine wenig fruchtbare Debatte.) Führungsarbeit ist im Wesentlichen Kommunikation, die Ermöglichung von zielorientiertem, individuellem und gemeinsamem Handeln im Hinblick auf einen zuvor festgelegten oder emergenten Organisationszweck. Worin dieser Zweck bestehen soll, wenn es nicht primär um Gewinnerzielung geht, muss im Einzelfall definiert und ausgehandelt werden, wie dies schon Peter Drucker (1990/2005) prägnant festgestellt hat: “What is the bottom-line when there is no bottom-line?”
Solche Legitimationsprozesse sind aufwändig aber unumgänglich, sie widerspiegeln vielfältige interne und externe Erwartungen und Interessen. Dies macht NPO zu komplexen, ja gar zu “multiplen” Organisationen (Anheier 2000) und es ist stets kritisch zu prüfen, ob die präskriptiven Methoden der Mainstream-Managementlehre unbesehen für den Nonprofit-Sektor übernommen werden können. Verschiedene neuere Nonprofit-Ansätze entwickeln daher eigenständige theoretische Konzepte oder fokussieren auf die Schaffung eines ausgewählten und angepassten Instrumentariums. Damit liesse sich eine auf die Bedürfnisse der NPO ausgerichtete, spezifische Managementlehre mehr oder weniger begründen. Ebenso kann aber auch der Standpunkt vertreten werden, dass es sich bei Nonprofit-Management um eine spezielle Betriebswirtschaftslehre handelt, analog zu anderen Branchen wie beispielsweise Landwirtschaft, Bankenwesen oder Tourismus.
Dieser Diskurs betrifft in einem besonderen Masse die Organisationen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen, mit denen sich der Autor in seiner beruflichen Praxis befasst und die in diesem Beitrag im Zentrum stehen. In Deutschland haben sich für bestimmte Teilsektoren des Public- und Nonprofit-Managements die Begriffe Sozialwirtschaft beziehungsweise Sozialmanagement etabliert, in der Schweiz ist auch der Begriff Soziale Organisation gebräuchlich (Herzka 2013). In den Blick genommen werden Einrichtungen und Betriebe, die sich in erster Linie über ihren gemeinschaftsorientierten und gemeinschaftsbildenden Auftrag definieren. Dazu gehören die klassischen, aus privater Initiative entstandene NPO, etwa Hilfswerke, ebenso wie staatlich beauftragte Organisationen (z. B. Heime, Integrationsprojekte, Beratungsstellen), mehr oder weniger selbständige Betriebe der öffentlichen Hand (z. B. Spitäler, Schulen) oder auch direkt auf Klientinnen und Klienten ausgerichtete Verwaltungsabteilungen wie beispielsweise kommunale Sozialdienste.
Für die genannten Organisationen und ihre Tätigkeitsfelder lassen sich verschiedene Merkmale beschreiben: Bei Bildung, Gesundheit und Sozialer Sicherheit geht es um meritorische Güter, die definitionsgemäss allen in gleicher Weise zustehen. Umfang sowie Qualität der Versorgung werden in politischen Prozessen ausgehandelt und die so bestimmten personenbezogenen Dienstleistungen im Rahmen von nicht-schlüssigen Tauschbeziehungen erbracht. Anders als bei eigenwirtschaftlichen NPO wie Genossenschaften oder Clubs, sind also diejenigen, die eine Leistung in Anspruch nehmen in der Regel nicht diejenigen, die sie bezahlen. Zudem werden Leistungen oft nicht freiwillig bezogen und der Nutzer kann nicht aus verschiedenen Anbietern auswählen (Schule, Sozialamt, Strafvollzug, Rettungsdienst, Nothilfe, etc.). Ebenso erfolgt die Finanzierung zumeist über Zwangsbeteiligungen (Steuern, obligatorische Kranken- und Rentenversicherungen) und nur zu einem geringen Teil über freiwillige Beiträge (Spenden). Daher ist der Kundenbegriff zu hinterfragen. Für die angebotenen Leistungen wie etwa Beratung, Betreuung oder Förderung gilt zudem, dass sie sich nur bedingt standardisieren lassen und einem ständigen Wandel unterworfen sind. Man denke etwa an neue Familienformen, an den technologischen Fortschritt im Gesundheitswesen, das veränderte Suchtverhalten von Jugendlichen oder an die Dringlichkeit beim Aufbau von Bildungsprojekten für Flüchtlinge.
Auch bezüglich der organisationsinternen Stakeholder sind Besonderheiten auszumachen. In Dienstleistungsorganisationen ist das Commitment der Mitarbeitenden für den Unternehmenserfolg entscheidend. In Anbetracht des zunehmenden Fachkräftemangels müssen Soziale Organisationen einen immer grösseren Aufwand betreiben um das erforderliche Personal zu gewinnen und zu erhalten. Sozialarbeitende, Lehrkräfte oder medizinische Fachpersonen weisen eine hohe intrinsische Motivation auf und verhalten sich im organisationalen Kontext als typische ExpertInnen: Sie erwarten grosse Autonomie für ihren Arbeitsbereich, wünschen sich aber gleichzeitig vielfältige Partizipationsmöglichkeiten bei der Gestaltung und Weiterentwicklung der Gesamtorganisation. Auch die Eigenheiten der obersten Leitungsorgane sind zu beachten: Ehrenamtliche Vereinsvorstände oder Stiftungsräte sind zumeist Personen, die zwar in bestimmten Bereichen über relevante Expertise und viel soziales Kapital verfügen, in der Rolle der strategisch Verantwortlichen aber nur begrenzte Erfahrung aufweisen. Ähnliches gilt für Behörden oder politische Aufsichtsgremien von staatlichen und halbstaatlichen Organisationen.
In der Führungsverantwortung jeder Unternehmung müssen die genannten Faktoren – die Art der Dienstleistung und ihre Erbringung sowie die vielfältigen Interessen und Bedürfnisse der internen und externen Stakeholder – permanent im Blickfeld bleiben. Hinzu kommt bei einer NPO oder einer Sozialen Organisation jedoch als weiteres Element das fundamentale Spannungsfeld zwischen den zu erreichenden Zielen und den dafür zur Verfügung stehenden Mitteln. Quantität und Qualität sind mutmasslich immer unzureichend. Der Bedarf an Bildung, sozialer Sicherheit oder Gesundheit ist nie vollkommen gedeckt, es könnte immer noch etwas mehr getan werden. Auch kann der Erfolg sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene kaum je überzeugend nachgewiesen werden. Eine glückliche Kindheit, das Zurechtkommen mit einer chronischen Krankheit oder die gelungene Reintegration von ehemaligen Straftätern lassen sich nicht oder nur mit sehr grossem Aufwand messen.
3 Führung in Unternehmen der Moral
Es gehört also zu den Grundbedingungen Sozialer Organisationen, dass zum einen fachlich Wünschbares und ökonomisch Mögliches permanent gegen einander abgewogen werden müssen und dass zum anderen das Ergebnis der Bemühungen nicht ausreichend sichtbar wird. Das verlangt den Führungskräften einiges ab. Idealerweise können sie jedoch auf spezifische Managementkompetenzen zurückgreifen, wie dies beispielsweise Langer (2013) auf der Basis seiner Studie einer grösseren diakonischen Stiftung herausgearbeitet hat. Dazu gehört insbesondere eine hohe “ethisch-strategische Abwägungskompetenz” wenn es darum geht, sowohl den Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten als auch den wirtschaftlichen Unternehmenszielen bestmöglich gerecht zu werden.
Das Führungshandeln in NPO und insbesondere in Sozialen Organisationen ist nicht zuletzt deshalb sehr anspruchsvoll, weil der Kontext immer moralisch aufgeladen ist. Viele NPO haben zum Ziel, einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit zu leisten, Teilhabe und Teilnahme marginalisierter Gruppen an der Gesellschaft zu ermöglichen und zu sichern. Das Kerngeschäft ist die Sorge um verletzliche Menschen, der Schutz und die Förderung derjenigen, die vorübergehend oder dauerhaft auf Hilfe und auf Unterstützung angewiesen sind. Wenn Erziehung, Pflege oder materielle Hilfe professionell im Kontext von Organisationen erbracht werden, können wir daher von “Unternehmen der Moral” sprechen (Herzka 2012). Dabei muss fortlaufend und fachlich begründet entschieden werden, wem welche Leistungen zustehen, wie viel Zeit und Geld investiert wird. Soll sich eine Lehrperson eher auf die schwachen SchülerInnen fokussieren oder gilt es, die “High Potentials” besonders zu fördern? Wie viel darf der Arbeitsplatzerhalt bei einer Suchtkrankheit kosten und welche Bemühungen können von den Betroffenen erwartet werden? Welche Qualitätsstandards werden in der Altenpflege vertreten und aus welchen Gründen? Mit der Leistungserbringung erfolgen schwerwiegende Eingriffe in die Lebensführung anderer Menschen, verbunden mit Bewertungen der Leistungsempfänger als mehr oder weniger schwierige “KlientInnen”, als “aufwändige Fälle” oder “interessantes Patientengut”. Personenbezogene Dienstleistungen (human services) sind daher immer “moral work” (Hasenfeld 2010).
Die professionellen Anforderungen an die Fachpersonen sind hoch, ebenso die Risiken denen sie ausgesetzt sind (Herzka/Mowles 2015). Die Organisationen stehen unter permanenter moralischer Beobachtung einer kritischen Öffentlichkeit. Es ist deshalb plausibel, anzunehmen, dass sich der gemeinschaftsbildende Auftrag von NPO und die damit verbundenen professionsethischen Anforderungen in den Erwartungen an die Führungskräfte widerspiegeln. Unternehmensethik wird zur Führungsethik. Die zentralen Aufgaben von Führung und Management nach innen sind der Aufbau und die Pflege der Beziehung zu den Mitarbeitenden, die Ermöglichung von individueller Entfaltung und die Förderung der Teamarbeit im Hinblick auf das gemeinsame Ziel. Ethische Fragen ergeben sich dabei entlang des ganzen Personalmanagement-Zyklus, von der Rekrutierung über die Beurteilung und Entwicklung der einzelnen Mitarbeitenden bis hin zur Trennung am Ende des Arbeitsverhältnisses. Nach aussen ist die Führungskraft Repräsentantin, Gewährsperson und Verhandlungspartnerin. Sie steht aus Sicht von KlientInnen, Finanzierenden oder möglichen institutionellen Kooperationspartnern immer sowohl für die Spitze als auch für die Gesamtheit einer Organisation. In der Führung der Mitarbeitenden wie bei der Gestaltung der Beziehungen zu allen anderen Anspruchsgruppen geht es um Fragen der Gerechtigkeit, um Ehrlichkeit und um Vertrauen. Weil diesbezügliche Werte und Normen auch in der Arbeit mit den eigentlichen Zielgruppen, den Klientinnen und Klienten einer Sozialen Organisation im Zentrum stehen, es immer um Macht und die Gefahr ihres Missbrauchs geht, kann diesbezüglich eine grosse Sensibilität gegenüber den Verhältnissen in der eigenen Organisation und dem Verhalten ihrer Führung angenommen werden.
Um ethische Fragen geht es immer dann, wenn zentrale Werte in unserem Zusammenleben tangiert werden. In Unternehmen und Organisationen soll Führung dafür sorgen, dass ein Ethikdiskurs stattfindet, dass verbindliche Verhaltensrichtlinien und geschützte Kommunikationskanäle definiert sind (management of ethics). Gleichzeitig müssen Führungskräfte in ihrem eigenen Handeln glaubwürdig und kohärent sein, ihre Entscheidungsprämissen sichtbar machen. In einer Arbeitsbeziehung haben Mitarbeitende immer eine doppelte Erwartung an die Führungskraft: Zum einen soll “richtig” entschieden werden, also beispielsweise gerecht und unter Wahrung des Vertrauens. Und zum anderen sollen Entscheide nachvollziehbar und gut begründet sein, das heisst, dem Gebot der Transparenz genügen. Führung muss aufrichtig und verlässlich sein, im Zentrum steht die Tugend der Integrität (Solomon 1999).
In der direkten Führung sind diejenigen Themen am schwierigsten zu bewältigen, bei denen sich zwischenmenschliche Dynamiken oder ganz alltägliche mitmenschliche Anteilnahme mit der betrieblichen Notwendigkeit von Entscheidungen kreuzen. Dies sind häufig Situationen, die ich unter dem Kürzel “3 K” zusammenfassen möchte: Konflikte, Krankheiten, Kündigungen.
- Wenn wir der These zustimmen, dass in NPO vielfältige und unterschiedliche Interessen zum Ausdruck gebracht werden, es also immer um “multiple bottom-lines” (Anheier 2000, S. 9) geht, dann sind Konflikte im Rahmen von Aushandlungsprozessen um Ziele, Einfluss und Ressourcen eher die Regel als die Ausnahme. Der Führungskraft kommt hier zunächst eine vermittelnde Rolle zu, in schwerwiegenden Fällen wird sie jedoch im Interesse des Gesamtbetriebes abschliessend entscheiden müssen. Die Mitarbeitenden erwarten, dass gerecht entschieden wird, gleichzeitig kann dieser Anspruch naturgemäss nie umfassend erfüllt werden: Wo unterschiedliche Zwecksetzungen berechtigt sind, haben alle Seiten gute Argumente. Dass die Zwecksetzungen vieler Sozialer Organisationen selbst auch schon Gerechtigkeitsfragen gewidmet sind, wird die Lösung interner Konflikte nicht unbedingt vereinfachen. Umso mehr müssen Entscheidungen leicht nachvollziehbar sein, dem Gebot der Transparenz kommt grösste Bedeutung zu. Nur schon der Verdacht von Willkür kann einer Organisation langfristig schaden.
- Primär um Vertrauen geht es, wenn Mitarbeitende aus persönlichen, beispielsweise gesundheitlichen Gründen vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind. Gerade von Organisationen, deren Grundauftrag die Unterstützung von Menschen in schwierigen Lebenslagen ist, darf erwartet werden, dass sie diese Fürsorge auch den eigenen Mitarbeitenden zukommen lassen. Insbesondere belastungsbedingte Erkrankungen kommen in den Sektoren Bildung, Gesundheit, Soziales vergleichsweise häufig vor. Der Umgang mit den eigenen Ressourcen ist zwar fester Bestandteil der entsprechenden Ausbildungen, gleichzeitig ist es nicht leicht zu thematisieren, wenn Belastungsgrenzen überschritten werden. Im praktischen Alltag ist es daher eine zentrale Führungsaufgabe, solche Situationen zu erkennen, anzusprechen und unter Berücksichtigung einer fairen Verteilung von Aufgaben die notwendigen Entscheidungen zu treffen.
- Wenn man bezüglich Konflikten und Krankheiten davon ausgehen kann, dass sie in NPO beziehungsweise Sozialen Organisationen etwas häufiger auftreten als in anderen Branchen, so ist dies bei den Kündigungen weniger eindeutig. In gewissen Teilbereichen ist die Fluktuation der Mitarbeitenden überdurchschnittlich hoch, in anderen eher tief. Die Beendigung des Arbeitsvertrages durch die MitarbeiterIn ist nicht immer als problematisch anzusehen, sondern kann auch ein positiver Schritt der beruflichen Veränderung sein. Die wachsende Sozialwirtschaft bieten viele Entwicklungsmöglichkeiten, was die Mitarbeitendenbindung tendenziell senkt. Muss jedoch seitens der Arbeitgeberin eine Kündigung ausgesprochen werden, so ist dies für jede Führungskraft eine der moralisch anspruchsvollsten Situationen, unabhängig davon ob es sich um persönliche oder um betriebliche Gründe handelt. “Gerecht” kann eine Entlassung kaum sein, umso wichtiger ist auch hier ein transparentes Vorgehen. Wird der Umgang mit den Scheidenden von den Zurückbleibenden als unfair empfunden, so kann das Vertrauen in die Organisation (in die Führung) nachhaltig erschüttert werden.
4 Ethikkompetenz im Dialog weiterentwickeln
Führungshandeln ist Interaktion und daher immer moralisches Handeln. Über diese triviale Aussage hinaus, ist eine besondere Aufmerksamkeit für die ethischen Dimensionen von Führung in den Spezifika des Geschäftsfeldes begründet: Bei der Tätigkeit von NPO und insbesondere von sogenannt Sozialen Organisationen geht es um elementare Solidarität, um Dinge, die Menschen einander minimal schulden, wenn sie Gemeinschaften bilden. Entsprechend gross ist die moralische Fallhöhe. Wenn etwas schief läuft, dann können nicht nur KlientInnen oder Mitarbeitende Schaden nehmen. Auch wir anderen, die nicht direkt betroffen sind, reagieren empört und verunsichert, weil wir uns darauf verlassen müssen, dass die sozialen Netze halten, dass mit Schwachen, Jungen, Alten, Menschen in Not respektvoll umgegangen wird. Schon morgen könnten wir selbst existentiell darauf angewiesen sein.
Allerdings darf aus der besonderen Konstellation von professionellem Handeln als “moral work” nicht gefolgert werden, dass Fach- und Führungskräfte von NPOs anderen Berufsgruppen in moralischer Hinsicht überlegen wären oder sich gar auf eine Sondermoral berufen könnten. Sozialarbeitende, Pflegende, Lehrpersonen, TherapeutInnen haben ihre jeweiligen Berufe frei gewählt. Sie müssen wie alle tätigen Menschen die mit der jeweiligen Profession verbundene Verantwortung angemessen wahrnehmen und lernen, mit den daraus resultierenden Belastungen umzugehen.
Gleiches gilt für die Führungskräfte. Sie sind zwar in der Weiterentwicklung ihrer ethischen Kompetenz stark gefordert, bringen jedoch aus ihren Professionen dafür gutes Rüstzeug mit. Die professionsethische Reflexion hat einen hohen Stellenwert in der Aus- und Weiterbildung, in den Berufsverbänden sowie im wissenschaftlichen Diskurs der Sozialwirtschaft (Merten/Zängl 2016; Wöhrle 2016). Namentlich im Gesundheits- und Sozialwesen verfügen sowohl die Standesorganisationen wie auch die einzelnen Betriebe über ausdifferenzierte Ethikkodizes und entsprechende Fachgremien.
Wer als Fachkraft den Schritt in die Führung macht, sieht sich mit neuen Rollenanforderungen und Identitätsfragen konfrontiert. Dabei besteht einerseits die Gefahr, die bisherigen professionellen Erfahrungen abzuwerten, schliesslich ist man jetzt Manager oder Managerin und muss sich durch einen entsprechenden Habitus auszeichnen. Andererseits gelingt es manchmal nicht, die klientenorientierte Perspektive zu überwinden und man behandelt Mitarbeitende als “Fälle”, um die man sich fürsorglich oder erzieherisch kümmern muss. Beide Extreme sind zum Scheitern verurteilt. Die Übernahme einer Führungsfunktion erfordert die rollen- und aufgabenadäquate Weiterentwicklung der individuellen und kollektiven Reflexionskompetenzen (Herzka/Mowles 2017). Es stellen sich neue Fragen, für die es neue Sichtweisen zu entwickeln gilt. Hinsichtlich führungsethischer Fragestellungen ist es dabei gerade für Führungskräfte in den „moralischen Professionen“ hilfreich, sich vertiefter mit dem Instrumentarium zur ethischen Entscheidungsfindung auseinanderzusetzen, das seitens der Angewandten Ethik beziehungsweise der Wirtschaftsethik für eine vielfältige Praxis entwickelt wurde (Bleisch/Huppenbauer 2014; Huppenbauer 2017). Die eingangs genannten Klischees lassen sich nur überwinden, wenn der Blick allseitig geöffnet wird, wenn For-Profit und Nonprofit, Soziales und Wirtschaft vermehrt miteinander ins Gespräch kommen. Der ethische Diskurs über Unterschiede und Gemeinsamkeiten lädt dazu ein.
Literatur
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Bleisch, B. – Huppenbauer, M. (2014): Ethische Entscheidungsfindung. Ein Handbuch für die Praxis (2. Aufl.). Zürich.
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Herzka, M. b Mowles, C. (2017): Managing amid paradoxes: Perspectives of non-profit management education. In: Grillitsch, W. – Brandl, P. – Schuller, S. (Hg.): Gegenwart und Zukunft des Sozialmanagements und der Sozialwirtschaft. Aktuelle Herausforderungen, strategische Ansätze und fachliche Perspektiven (S. 509-523) Wiesbaden.
Huppenbauer, M. (2017): Leadership und Verantwortung. Grundlagen ethischer Unternehmensführung. Zürich.
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Wöhrle, A. (Hg.) (2016): Moral und Geschäft. Positionen zum ethischen Management in der Sozialwirtschaft. Baden-Baden.
Der Autor
Prof. Dr. Michael Herzka
Prof. Dr. Michael Herzka ist Studienleiter und Dozent für Nonprofit-Management, Führung und Organisation im Fachbereich Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Sozialwissenschaftliches Studium mit Promotion sowie Weiterbildungsdiplom in Angewandter Ethik an der Universität Zürich, MBA an der Durham University (UK). Langjährige Tätigkeit in Fach- und Führungsfunktionen in der Entwicklungszusammenarbeit, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Ehrenamtliche Vorstandstätigkeit in verschiedenen Nonprofit-Organisationen, Mitglied im Schweizer Presserat.