Prof. Dr. Joachim Fetzer im Gespräch mit Matthias Kapp

Kapp: Herr Professor Fetzer, Sie sind Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik (DNWE e.V.) und vertreten das DNWE im Lenkungsausschuss des Sustainable Development Solutions Network Germany (SDSN). Was ist dieses “Lösungsnetzwerk” und wie funktioniert es? Können Sie hier zunächst einen kurzen Einblick geben?

Fetzer: Gemeinsamer Bezugspunkt des SDSN ist die Agenda2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen – daraus etwas besser bekannt die 17 SDG’s, die Sustainable Development Goals. Das globale SDSN ist bereits in der Phase der Erstellung dieser Agenda auf Initiative des damaligen Generalsekretärs der VN als Sammlung von Wissensorganisationen begründet worden, um wissenschaftliche und technologische Expertise für nachhaltige Entwicklung zu mobilisieren. SDSN Germany bündelt seit 2014 die deutschen Mitgliedsorganisationen des globalen SDSN. Es hat sich zu einem relevanten – entschuldigen Sie den technischen Ausdruck – “Wissenschaft-Politik-Interface” entwickelt. Mit verschiedenen Formaten bringt es Akteure aus Ministerien und Parlamenten mit Vertretern der Wissenschaft und Wirtschaft in einen kontinuierlichen Dialog. Insbesondere mit der Betonung auf “kontinuierlich” sollte man dies nicht unterschätzen. Allerdings: Die Vorstellung, dass hier ein einziger Think-Tank fertig abgestimmte Lösungen am Fließband produzieren würde, die von Politik und Wirtschaft nur noch “umzusetzen” seien, geht einigermaßen an der Realität vorbei.

 

Pluralismus ist kein Mangel, sondern ein Reichtum

Kapp: Das “Lösungsnetzwerk” liefert keine fertig umsetzbaren Lösungen? Warum ist das so? Und woran fehlt es? An Ressourcen, an Ideen oder an Konsensorientierung?

Fetzer: An Ideen mangelt es ganz sicher nicht. Und Ressourcen fehlen natürlich immer. Die kleine Geschäftsstelle des SDSN Germany, organisatorisch angesiedelt beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), finanziell unterstützt von zwei Bundesministerien (BMZ und BMUB), unter Leitung von Adolf Kloke-Lesch, arbeitet zwar hervorragend, ist aber überhaupt nicht so aufgestellt oder ausgestattet, dass hier die großen Würfe erstellt werden könnten. Aber entscheidend ist der dritte Punkt. Auch innerhalb der “Nachhaltigkeitsszene” gibt es doch einen erheblichen Pluralismus. Aus meiner Sicht ist das aber kein Mangel, sondern “Das ist gut so” – und muss so sein. Wenn die Themen der nachhaltigen Entwicklung, von Armutsbekämpfung über Gesundheitsschutz, Bildung, vorbei an Klimaschutz und solidem Wirtschaftswachstum bis zu Good Governance einschließlich Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung, wenn diese 17-Ziel-Agenda nicht in einer kleinen sektenhaften Nische festhängen soll, dann müssen sich die unterschiedlichen moralisch-politischen Vorstellungen von gutem Leben, gutem Wirtschaften und guter Gesellschaftsordnung auch bei der Diskussion von Vorschlägen und Lösungen widerspiegeln. Die berühmten “Familientreffen der Nachhaltigkeit” sind wichtige Mutmach-Stationen zur wechselseitigen Bestärkung. Aber bei “Familien” gibt es immer solche, die dazugehören und andere, die nicht dazugehören. Nachhaltige Entwicklung geht aber alle an, ist daher kein “Family-and-friends-Programm” und bleibt daher pluralistisch. Das gehört auch zum Reichtum einer offenen Gesellschaft.

 

Digital-Nudging für Alle

Kapp: Herr Fetzer, Sie sprachen von Formaten des kontinuierlichen Dialogs? Was ist aus dem kontinuierlichen Dialog geworden in Zeiten der Corona-Krise? Inhaltliche Auswirkungen auf die Agenda2030 sind ja wohl nicht zu erwarten. Was bedeutet die aktuelle Corona-Phase für die Dialog-Formate?

Fetzer: Lassen Sie uns über die Inhalte gleich noch sprechen. Aber zunächst zu den Arbeitsformen. Erst vor einigen Tagen hatten wir – wie viele andere Organisationen auch – eine wirklich gut besuchte Videokonferenz mit Vertretern von Kanzleramt über den Rat für nachhaltige Entwicklung bis zu den Freunden vom Wuppertal-Institut. Eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen betonten, dass sie es nur selten oder nie nach Berlin zu den analog-physischen Treffen geschafft hätten. Mir fiel auf, dass wir in der Anfangsphase (ca. 2014) schon einmal via Skype im Lenkungsausschuss zu arbeiten versuchten. Es hatte sich nicht bewährt. Beim Einen fehlte die Technik, der Zweite nahm es nicht ernst, weil es ja “nur” ein Call ist, der Dritten ist es unheimlich irgendeine App runterzuladen. Eine ganze Menge Digitalskepsis gab es schon, wenn wir ehrlich sind. Jetzt plötzlich führen die Kontaktbeschränkungen dazu, dass Akzeptanz da ist für etwas, was eigentlich schon längst möglich gewesen wäre. Man überwindet sich und lässt sich auf Neues ein und stellt fest: Gar nicht so schlecht! Das ist sozusagen “Digital-Nudging” auf die harte Tour. Manche wünschen sich wohl, dass diese Verhaltensänderungen Vorbild sein könnten, für Verhaltensänderungen anderer Art, zum Beispiel, wenn es darum geht, auf neue, nachhaltige Produktions- und Konsummuster umzusteuern (SDG 12). Die aktuell neu gezeigte Handlungsfähigkeit der Politik komme ja in den Gesellschaften gut an. Ich bin mir nicht sicher, ob solche Vergleiche eine Verheißung oder eher eine Drohung sind.

 

Herausforderungen für Nachhaltige Entwicklung im Brennglas

Kapp: Damit sind wir bei den Inhalten. Ihr Auftakt klang, als gäbe es doch auch inhaltliche Wirkungen der Corona-Pandemie auf die Szenarien nachhaltiger Entwicklung? Wie wurde das diskutiert bei SDSN Germany?

Fetzer: Ich habe zwei Argumentationsebenen beobachtet. Auf der einen Ebene wird die Gefahr gesehen, dass die Corona-Ausnahmesituation so viel Kraft, Energie und Aufmerksamkeit kosten könnte, dass aus dem Shut-Down ein Stop-Signal für alle Bemühungen um große Nachhaltigkeitsprojekte werden könne. Haben wir noch Zeit und Ressourcen für Maßnahmen gegen den Klimawandel? Stehen die Mittel für den Strukturwandel in den Regionen noch zur Verfügung, welche den Kohleausstieg organisieren sollen? Was ist mit den ganzen “Wenden” (Energiewende, Mobilitätswende, Ernährungswende, Konsumwende usw.) für eine gesamtgesellschaftliche Nachhaltigkeits-Transformation? Hat man dafür noch Zeit und Aufmerksamkeit? Umso wichtiger erscheint dann natürlich die Forderung, dass Nachhaltigkeit bei der Rettung der Wirtschaft nicht außen vor bleiben dürfe. Der European Green Deal dürfe durch das jetzige Krisenmanagement nicht geschwächt werden. Man solle bei der Lockerung der Maßnahmen durchaus auch Nachhaltigkeitskriterien ansetzen und keineswegs “der Wirtschaft” undifferenziert helfen, sondern nach Wertschöpfung und Systemrelevanz fragen. Kurz: Durch die Corona-Krise ist alles anders. Es ist eine große Ausnahmesituation, durch welche die Karten möglicherweise neu gemischt werden, dass frühere Erfolge auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit gefestigt und nicht geschwächt werden.

 

Kapp: Das war jetzt die eine Argumentationsebene. Sie wollten zwei Ebenen unterscheiden…

Fetzer: Richtig. Es gab auch Kollegen, die das Wort “Krise” bewusst abgelehnt haben und nur von Pandemie sprechen wollten. Mich hat dies an den Göttinger Theologen Dietz Lange erinnert, der in seiner Ethik ein Kapitel über “Spitzensituation und Alltag” verfasst hat. Dass die derzeitige Situation nicht der gewohnte Alltag ist, dürfte klar sein. Aber man muss darin keine Ausnahmesituation sehen, in der alles anders und neu ist.  Man kann die Pandemie auch als Spitzensituation interpretieren, in der Traditionen und Konfliktlinien, die auch vorher – im Alltag – vorhanden waren, nun wie unter einem Brennglas fokussiert und brennend werden.

Vielleicht kennen Sie im Umfeld solche Situationen: Menschen – vielleicht mit einigermaßen spannungsreichen Beziehungen – fahren in den Urlaub in der Hoffnung, dass man sich dort vertrage, dass in der Ausnahmesituation am blauen Meer die Wogen alter Zwiste geglättet würden. Aber sieh da: Das Gegenteil tritt ein. Da wird nichts neu gemischt, keine Ausnahme von der Spannung, sondern in der Spitzensituation treten die Grundprobleme (sofern vorhanden) besonders deutlich hervor. Familien- und Paartherapeuten könnten Bücher füllen mit Berichten davon.

Also: Ausnahmesituation und alles ganz anders? – Oder: Die ohnehin vorhandenen Probleme im Brennglas richtig scharf gestellt? Ich habe versucht, die Brennglas-Interpretation stark zu machen. Die jetzige Spitzensituation macht ohnehin vorhandene Schwachpunkte und Konfliktlinien deutlich, vielleicht sogar blinde Flecken in den Diskursen zur nachhaltigen Entwicklung.

 

Nachhaltigkeit und Dringlichkeit

Kapp: Im Jahr 2019 standen Klimawandel und ökologische Nachhaltigkeit im Zentrum der politischen und medialen Arenen. Seit Mitte März, mit der Lungenkrankheit Covid- 19, ist diese Debatte wie vom Erdboden verschluckt. Werden da nicht doch Karten neu gemischt?

Fetzer: Das kann man so sehen. Ich sehe es anders: Das Thema mit dem höchsten Aufmerksamkeitspegel und Erregungspegel hat sich geändert. Das ist richtig. Aber das Problem ist das gleiche: Dass es unglaublich schwer ist, mehrere Zieldimensionen gleichzeitig im Auge zu behalten. Sehen Sie sich die Krisen der letzten Jahre an: Flüchtlingskrise (fällt gerade aus), Klimanotstand (ist der überwunden?), Corona-Pandemie … Der ständige Krisenmodus ist der natürliche Feind von Nachhaltigkeitspolitik. In der Aufregung geht Augenmaß sehr schnell verloren. Wer sich an den SDGs orientiert, der muss – das mögen manche bedauern – ziemlich viele Ziele berücksichtigen. Und natürlich gibt es Zielkonflikte – auch innerhalb der SDGs. Wenn Sie wollen, hat aktuell SDG3 (Gesundheit) einfach Oberwasser gegenüber SDG 13 (Klimaschutz) erhalten. Verschiedene Ziele auszubalancieren ist aber der Normalzustand des Lebens, der Politik und insbesondere der Nachhaltigkeitspolitik. Vielleicht hat man auch in der Klimapolitik etwas zu sehr versucht, den Zeitdruck zu erhöhen. Man will Handlungsdruck erzeugen durch den Hinweis, dass jetzt gerade noch Zeit sei und sonst ziemlich sicher die Welt untergehe. Für solche Argumentation ist die Verschiebung der Aufmerksamkeit natürlich unerträglich. Aber vielleicht sehen wir mal kritisch auf diese Dringlichkeitsargumentation.

Eine Teilnehmerin hat in der SDSN-Sitzung dies auf die schwierige, aber passende Formel gebracht: Wir sollten dem Verhältnis von “Urgency” und Resilienz auch im Diskurs um nachhaltige Entwicklung mehr Aufmerksamkeit schenken. Dem kann ich mich nur anschließen, möchte aber noch auf ein weiteres hinweisen: Sowohl der klimapolitische Diskurs als auch der jetzige Gesundheitsdiskurs sind sehr an quantitativen Zielen orientiert. Für die Reduktion von CO2 unter ein Maß von X sollten alle anderen Dinge hintanstehen. Für die Senkung der Ansteckungsquote unter ein Maß von Y ist fast jedes Mittel angemessen. Quantitative Ziele first – anderes second. Auch in dieser Hinsicht besteht Kontinuität – Brennglas eben.

 

Politik nach Zahlen?

Kapp: Professor Fetzer, führt diese Fokussierung auf die Erreichung quantitativer Ziele und die jetzige Ausnahmesituation nicht auch dazu, dass freiheitliche und rechtsstaatliche Strukturen abgebaut werden?

Fetzer: Ich hoffe nicht. Die optimistischen Freunde freiheitlicher Gesellschaften sagen: “Grundrechte werden ausgesetzt, aber nicht abgebaut”. Die pessimistischen Freunde freiheitlicher Gesellschaften rechnen mit einem wirklichen Abbau und sind frustriert oder alarmiert. Anderen wiederum kommt die gesellschaftliche Erfahrung vielleicht sogar entgegen. Es gibt schon das Argument, dass man doch jetzt sehen könne, wie handlungsfähig Politik sein könne, wenn sie wolle. Das könne man ja bei anderen Themen wieder aufgreifen.

Ich habe da eine klare Haltung, aber das Argument kann man zumindest verstehen. Die Veränderung von Gesellschaft ist eine so mühsame Kunst. Menschen lassen ungern ihre Routinen und Gewohnheiten stören. Unternehmen lassen ungern ihre Investitionen entwerten, sondern nutzen diese auch mal gerne, solange es der Markt zulässt. Auch über Politik-Routinen ist hinreichend geklagt worden. Aus der empirischen Gerechtigkeitsforschung kennen wir den Status quo-bias: Es gibt eine Neigung, das was ist, als “irgendwie gerecht” anzunehmen. Dagegen hat es ein Zukunftsbild immer schwer.

Ein Mittel (nicht das einzige), um diese Beharrungstendenzen zu überwinden, sind präzise definierte Ziele, klare Kriterien und regelmäßige Messung von Fortschritten. Derzeit können sie das in jeder Pandemie-Talkshow beobachten: Die Suche nach den messbaren Erfolgskriterien, damit sich die gemeinsame Anstrengung auch lohnt.

Nun gibt es unter den SDGs eben solche mit klaren messbareren Kriterien und solche, für die es nur schwer Indikatoren gibt. CO2-Emissionen sind zumindest theoretisch messbar. Im Bereich Gesundheit ist es schon schwieriger. Wir erleben ja aktuell ziemlich interessante Diskussionen über die Quantifizierbarkeit des Pandemie-Problems. Ich empfehle jedem, sich aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung den Abschnitt “Gesundheit” herauszusuchen und zu überlegen, was die dort formulierten ersten beiden Indikatoren für die aktuelle Pandemie-Strategie bedeuten würden.

Aber denken Sie an das Nachhaltigkeitsziel Nummer 16: Da geht es um friedliche und rechtsstaatliche Gesellschaftsstrukturen, um rechenschaftspflichtige Institutionen, Zugang zur Justiz, im Detail auch um Bekämpfung von Korruption und um Gewährleistung von Grundfreiheiten. Das sind viel schlechter quantifizierbare Aspekte von Nachhaltigkeit.

In der Krisenpolitik haben quantitativ leichter messbaren Ziele gegenüber den eher strukturellen Zielen immer “die Nase vorn”. Auch in der Nachhaltigkeitsfamilie haben wir immer wieder Debatten zwischen den qualitativen Strukturdenkern und den quantitativen Zieldenkern. Im Hintergrund stehen dabei auch unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen, die eher naturwissenschaftlichen Arbeitsformen und die eher sozial- oder geisteswissenschaftlich ausgerichteten Arbeitsformen. Das muss immer wieder ausgeglichen werden. Nichts für ungeduldige Menschen, die schnelle Ergebnisse sehen wollen.

 

Das Ende des Globalismus im autoritären Jahrhundert?

Kapp: Brennglas hin oder her: Die Agenda 2030 ist ein globales Projekt. Grenzen sind für Personen großenteils geschlossen, die Beschaffung von Medizinprodukten oder auch nur Schutzmasken wird zur nationalen Aufgabe in Konkurrenz zu anderen Staaten. Manche feiern schon das Ende des “Globalismus”. Das geht doch nicht spurlos vorbei – oder wie sehen Sie das?

Fetzer: Nein, das geht nicht spurlos vorbei, aber ich bleibe trotzdem bei der Brennglas-Interpretation: Die Zuwendung zum Nationalen (Stichwort “America first”), die Erfolge manch regionalpopulistischer Partei und vieles andere mehr, war für manche in der Nachhaltigkeits-Familie ein richtiger Schock. Aus der Sicht einer global orientierten Transformationsbewegung hatte dies Züge einer Konter-Revolution. Diese Entwicklung hatte nichts zu tun mit der jetzigen Corona-Pandemie und kam eigentlich nicht überraschend. Bereits im Jahr 1997 hat Ralf Dahrendorf einen lesenswerten Text mit einer beängstigenden Unterüberschrift veröffentlicht: “An der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert“.

Es geht beim Unbehagen an der Globalisierung (und damit auch an der Wirtschaft) um eine sehr grundsätzliche Frage: Gibt es so etwas wie globale Solidarität als längerfristige moralische Ressource? Das DNWE hat in seiner Jahrestagung 2016 dazu gearbeitet. Wie weit ist die Rede von globalen Gütern, von Global Commons wirklich verankert oder wenigstens verknüpft mit den Lebenswelten von Menschen in Kommunen und Unternehmen? Wie kann man den Vorrang der (im Wesentlichen national organisierten) Politik vor der (nicht unwesentlich global ausgerichteten) Wirtschaft fordern, ohne von Re-Nationalisierung zu sprechen?

Die SDGs sind der Inbegriff einer globalen Verantwortungsagenda. Man muss aber auch den Blick vom Globalen zum Regionalen richten: Auf welche unterschiedlichen kulturellen und rechtlichen Bedingungen stoßen die SDGs? Sind sie wirklich eine Blaupause? Das Wort “Freiheit” kommt in der Agenda2030 genau einmal (im ersten Satz) vor. Das kann auch nicht anders sein, weil es keinen globalen VN-Konsens zur Bedeutung von Grundfreiheiten gibt. Aber genau deshalb ist die Agenda2030 eben keine alleinige (!) Blaupause für Politik in Deutschland und Europa – weder vor noch nach Corona.

Ich plädiere schon länger dafür, dass wir uns im Umgang mit den globalen Nachhaltigkeitszielen auch an gute eigene Traditionen orientieren. Als es Ende des zweiten Weltkrieges darum ging, eine neue Wirtschaftsordnung (in einer nicht-totalitären Gesellschaft!) aufzubauen, prägte Alfred Müller-Armack die berühmte Formel der Sozialen Marktwirtschaft: “Die Freiheit des Marktes mit dem sozialen Ausgleich zu verbinden.” Der europäische Weg mit den SDGs könnte ein zwei Säulen-Modell sein: “Die Freiheit des Marktes und die Freiheit in der Gesellschaft sind zu v e r b i n d e n mit den sozialen und ökologischen Herausforderungen der 2030Agenda für nachhaltige Entwicklung.”

Dieses Motto könnte auch in der Corona-Krise eine Leitidee sein: Die Grundfreiheiten in Markt und Gesellschaft sind nicht zu ersetzen durch, sondern zu verbinden mit den epidemiologisch notwendigen Verhaltensweisen zum Schutz von Gesundheit und Gesundheitssystem. Wenn umgekehrt uns allen in der Pandemie etwas bewusster wird, dass Freiheit nur dann möglich ist, wenn wir nicht alles von der Politik erwarten, dass wir auch als Individuen, Unternehmen und Verbände gefordert sind, dann hätte die Corona-Brennglas Situation langfristig auch ihren Nutzen. Die Pandemie hätte dann nicht nur durch Verschuldung das Vermögen reduziert (das dürfte unvermeidbar sein und eine schwere Hypothek werden), sondern auch ein Stück Sozialkapital (z.B. Kooperationsfähigkeiten) und Humanvermögen (z.B. Risikobewusstsein und Eigenverantwortung für die Wirkungen des eigenen Handelns) gesteigert.

 

Ethik oder Prognostik?

Kapp: Sie rechnen also eher mit Fortschritt aus der Krise, und nicht mit einer Katastrophe?

Fetzer: Meine persönliche Stimmungslage ist kein Gegenstand öffentlicher Erörterung – außerdem schwankt diese durchaus. Ich rechne damit, dass ich die Zukunft nicht kenne. Aber ich beschreibe ein mögliches und nach meiner Überzeugung “bestmögliches” Szenario. Ob dieses Szenario zur Realität wird oder ob das Gegenteil eintritt … das mögen andere prognostizieren. Das ist eben der Unterschied zwischen Ethik und Prognostik.

 

Kapp: Herzlichen Dank, Professor Fetzer, für Ihre Gedanken!

Fetzer: Ihnen, Herr Kapp, vielen Dank für die Initiative, die Fragen und vor allem: Viel Erfolg mit der Politologie – das ist ein in der Wirtschaftsethik lange unterschätztes Fachgebiet.

 

HINWEIS:

Nachbericht über das virtuelle Meeting von SDSN Germany am 3. April 2020:

Das Coronavirus und seine Konsequenzen für nationale, europäische und globale Nachhaltigkeits- und Klimapolitik sowie internationale Zusammenarbeit

 

 

Prof. Dr. Joachim Fetzer

Prof. Dr. Joachim Fetzer lehrt Wirtschaftsethik (www.wirtschaftsethik.com) und ist Mitglied im Lenkungsausschuss von Sustainable Development Solutions Network – SDSN Germany (www.sdsngermany.de).

fetzer@dnwe.de

 

Matthias Kapp

B.A. Matthias Kapp, Jahrgang 1996, ist Masterstudent im Studiengang Politik- und Verwaltungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Personal und Organisation an der Universität Konstanz. Matthias Kapp absolvierte von 2015 bis 2015 sein Bachelorstudium im Studiengang Politik- und Verwaltungswissenschaften. Seine Abschlussarbeit verfasste er zum Thema ‘Zwischen Humanität und Beschränkung – Eine Diskursnetzwerkanalyse über die Neuordnung des Familiennachzugs in Deutschland’. Neben seinem Studium arbeitet Matthias Kapp seit März 2020 für das Deutsche Netzwerk für Wirtschaftsethik als Assistent der Geschäftsstelle.

 

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