HINWEIS:
Nachfolgender Text basiert auf einer wissenschaftlichen Abhandlung, die unter “Zeitzeichen” in der neuesten Ausgabe von “Sozialer Sinn, Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung” erschienen ist – Titel: “Verkehrte Ökonomie, negative Reziprozität oder Politik? Über Deutschlands Beziehung zu Russland und zu sich selbst” von Uwe Grundhöfer und Dr. Thomas Loer, zu finden unter der Verlagsadresse: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/sosi-2022-0008/html
Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine formulieren prominente Vertreter der Ampelkoalition immer häufiger eine Art Richtlinie für die deutschen Sanktionen gegen Russland. Beispielhaft seien hierfür zitiert:
- Jürgen Trittin, Grüne, am 25.02.2022: [1]
“Man muss doch immer aufpassen, dass man nicht sich selber mehr schädigt, als den anderen – dann machen ja Sanktionen keinen Sinn.” - Kanzler Olaf Scholz, SPD, am 10.05.2022: [2]
“Wir unternehmen nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland.” - Generalsekretär Kevin Kühnert, SPD, am 19.07.2022: [3]
“Es gilt ein Satz, den der Bundeskanzler und auch der Rest der Bundesregierung […] immer wieder gesagt hat: Die Sanktionen gegen Russland müssen Putin härter treffen als sie uns treffen.”
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (am 12.04.2022) [4], SPD, und Bundesfinanzminister Christian Lindner (am 14.04.2022) [5], FDP, sowie Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck (am 10.07.2022) [6], Grüne, hatten sich vergleichbar geäußert. Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende und Parteichefin der AfD, hatte (am 01.06.2022) [7], obgleich nicht zur Regierung gehörend, ähnliches verlauten lassen.
In allen Zitaten werden die Sanktionsschäden der beiden Länder direkt miteinander verglichen und es wird zum Postulat erklärt, dass Russlands Schäden höher zu veranschlagen seien als die Deutschlands. Die wiederholten Bestätigungen dieser Leitlinie durch prominente Vertreter der unterschiedlichsten Parteien, drei davon in der regierenden Ampelkoalition, wirft – insbesondere im Hinblick auf Wirtschaftsethik – folgende Fragen auf:
- Ökonomischer Aspekt: Ist das direkte Aufrechnen der Sanktionsschäden zweier Kontrahenten ökonomisch rational?
- Politischer Aspekt: Entspricht dieser Leitgedanke einem Politikverständnis zeitgemäßer Konfliktbeilegung?
- Ethischer Aspekt: Ist diese Logik der Aufrechnung ethisch vertretbar?
Da die Antworten auf (1), (2) und (3), wie wir sehen werden, zu verneinen sind, schließen sich analytisch weitere Fragen an:
- In welchem Zusammenhang werden üblicherweise Schäden zweier Kontrahenten direkt miteinander aufgerechnet?
- Was bedeutet es, wenn gestandene Politiker diese These zu ihrem Leitgedanken erheben, obwohl sie für ihre Zwecke untauglich ist? – Und zwar einerseits für diese Politiker und andererseits für den durch sie vertretenen Souverän?
- Wie sähe eine adäquate Russland- und Ukraine-Politik aus und wie kommen wir dorthin?
Zu (1):
Betrachten wir die Sanktionsschäden der beiden Kontrahenten. Zunächst zu den Kosten der Sanktionen für Deutschland:
Der barbarische Akt des gewalterfüllten Angriffskriegs auf unseren europäischen Nachbarn Ukraine mit dem erklärten Ziel, seine Identität und Kultur zu tilgen und die Ukraine dem russischen Staatsgebiet einzuverleiben, verlangt von Deutschland eine starke Reaktion, die über ein bloßes Statement, wie jenes nach der Krim-Annexion 2014, hinausgeht und die endlich echte Wirkung entfalten muss. Es gilt, das Völkerrecht und unsere Prinzipien gegenüber Russland zu verteidigen, weitere Überfälle zu verhindern und Russland zum Einlenken zu bewegen. Zu konkretisierendes Ziel unserer Reaktion, sowohl der Sanktionen gegen Russland als auch der Waffenlieferungen in die Ukraine, so die übereinstimmenden Meinungen, ist die Verteidigung von Freiheit, Demokratie, friedlichem Diskurs, Selbstbestimmungs- und Völkerrecht (nicht umsonst Werte genannt), deren Geltung wiederherzustellen ist – wenn nicht die baltischen Länder, und später wir selbst, die nächsten Opfer des russischen Imperialismus sein sollen.
Was uns dieses Ziel, diese Werte wert sind, bestimmt, nüchtern ökonomisch betrachtet, zugleich die Obergrenze des Mitteleinsatzes für unsere Reaktion – die für Deutschland akzeptable Schadenshöhe. Anders formuliert: Wie viel darf uns diese Reaktion kosten? Und zwar gemessen in Einbußen beim Wirtschaftswachstum, in Inflationshöhe, in Arbeitslosenzahlen. Letztlich setzt sich dieser volkswirtschaftliche Wohlfahrtsverlust zusammen unter anderem konkret aus den viel diskutierten Gaspreiserhöhungen, den Energieeinsparzwängen, bis hin zu x Grad Celsius geringer beheizter Wohnungen im Winter.
Dabei sollten wir uns keinen Illusionen bezüglich politischer Alternativen hingeben, beispielsweise der von manchen in realitätsfernen Leserbriefappellen herbeigesehnten Rückkehr zur Scheinpartnerschaft mit Russland durch kurzfristige Verhandlungslösungen. Denn Putin, so deutlich sind seine ideologischen Verlautbarungen zu revisionistischen Bestrebungen und seine imperialistischen Drohungen, duldet nur die Unterordnung unter seine russische Dominanz – auch von Deutschland. Also “Augen auf!”: Es wird keine Rückkehr zu billigem Gas für Deutschland in Verhandlungen auf Augenhöhe mit Putin geben. Im Rückblick offenbart sich die Scheinpartnerschaft mit Russland nur als eine lange und perfide geplante Ausbeutung der deutschen Appeasement-Naivität.
Nun zu den Sanktionsschäden von Russland:
Der Schaden für Russland durch die deutschen Sanktionen, und auch durch Waffenlieferungen an die Ukraine, bemisst sich danach, was Putin gemäß Expertenschätzung am schnellsten zum Einlenken bringen sollte. Anders formuliert: Welche Wirkung müssen unsere Mittel, Reaktion in Form von Sanktionen und Waffenlieferungen, auf Russland entfalten?
Im Übrigen geht der Vorwurf, Sanktionen hätten noch keinen Krieg beendet, an einer zielgerichteten Mittelwahl vorbei: Laufende Kriege werden durch Waffenlieferungen gewonnen, kommende Kriege werden durch harte Sanktionen sowie Abschreckung durch Aufrüstung gewonnen – indem sie vom Aggressor gar nicht erst begonnen werden (können).
Nun zurück zur Frage (1), die gleich in zweierlei Hinsicht zu verneinen ist:
Argument a): Es erfolgte weder eine Konkretisierung noch eine Bewertung der abstrakten Ziele.
Die maximale Schadenshöhe der Sanktionen für Deutschland bestimmt sich nach den oben genannten, abstrakten Zielen, die durch Konzeptionierung und Einplanung von Mitteln zur Umsetzung zu konkretisieren sind. Dergleichen wurde weder erwähnt noch offengelegt oder zur Diskussion gestellt, wie man das normalerweise in Demokratien erwarten würde – und wie es z. B. Robert Habeck für seinen Verantwortungsbereich der Energieträgerbeschaffung vorbildlich durch Erläuterungen für die Öffentlichkeit vorexerziert.
Allenfalls kurzzeitig gab es gut 100 Tage nach der diesjährigen Eskalationsstufe im russischen Angriffskrieg eine sophistische Ziele-Diskussion in Deutschland mit der penibel jeder Konkretion entkernten Frage, ob die Ukraine den Krieg gewinnen muss oder ihn einfach bloß nicht verlieren darf. Dieses inhaltsleere, phrasenhafte Strohfeuer, was das Ziel der Sanktionen gegen Russland und der Waffenlieferungen an die Ukraine sein soll, ist rasch verglimmt.
Folglich können diese, ja gar nicht konkretisierten, Ziele auch nicht bewertet worden sein. Für die obige Frage “Wie viel darf uns diese Reaktion kosten?” gibt es keine erkennbaren Belege mit Antworten dieser Politiker für den Souverän. Entsprechend kann auch nicht die ökonomisch rationale Abwägung (als Entschuldigung für die irregeleiteten Zitate) angeführt werden, mit welcher zu prüfen wäre, ob unser Mitteleinsatz für diese Reaktion unterhalb der Zielebewertung bleibt.
Argument b): Die Gegenüberstellung ist falsch aufgrund der entkoppelten Herleitungen der Sanktionshöhen und der möglichen Ergebnisse.
Entgegen ökonomischer Vernunft werden die Schäden, die Russland durch die Sanktionen zu gewärtigen hat, denjenigen gegenübergestellt, mit denen Deutschland zu rechnen hat, und dieser Vergleich wird zum Maßstab erhoben, obwohl die Sanktionsschäden beider Länder vollkommen voneinander entkoppelt zu betrachten sind (bis auf einen ökonomischen Spezialfall, den wir unter (4) erwähnen). Beide Schadenshöhen, die deutsche Maximalgrenze und die anzustrebende russische, haben eine komplett andere Herleitung: Erstere muss von den deutschen Zielen ausgehen, letztere ist von den einzusetzenden Mitteln her zu bestimmen.
Ergo ist es nur allzu natürlich, dass diese bewerteten Ziele von Deutschland im Ergebnis auch mit höheren Maximalkosten veranschlagt werden können, als man an Schädigung des Aggressors einkalkuliert, um ihn zum Einlenken zu bewegen:
Natürlich darf die Obergrenze der deutschen Sanktionsschäden höher sein als es womöglich an Schädigung von Russland bedarf, um Putin zur Einsicht zu bringen!
Die Zitate belegen in Wahrheit, wie geringschätzig und ökonomistisch über die so häufig in Feld geführten abstrakten Werte gedacht wird.
Wir halten fest:
Alle oben genannten Politiker sind einer ökonomischen Scheinplausibilität auf den Leim gegangen, der wir uns unter (4) noch näher widmen.
Zu (2):
Kommen wir nun zur Frage, ob es zumindest politisch vernünftige Gründe gibt (wenn schon keine ökonomisch vernünftigen), die Sanktionsschäden zweier Kontrahenten direkt gegeneinander aufzurechnen.
Auch hier gilt wie unter (1): Was will man mit den Sanktionen erreichen? Welches Ziel verfolgt man damit? Es geht bei einer modernen Konfliktbeilegung um die interessegeleitete und offen an den vertretenen Werten ausgerichtete Herbeiführung einer Verhaltens- und Politikänderung des Aggressors und wie man diese am geeignetsten erreicht. Und schon wieder sind wir beim bereits oben erwähnten Thema Ziele, Konkretisierung und geplante Umsetzung mittels eines Konzepts. Auf solcherlei Profanitäten scheint man verzichten zu wollen. Auch die Imitierung von westlichen Partner-Nationen bezüglich der Sanktionierung von Russland (oder bezüglich der Frage nach Lieferung moderner Panzer an die Ukraine), gerne von Kanzler Olaf Scholz angeführt, stellt eher einen Verzicht auf Politik als ein verantwortliches und dem Souverän gegenüber um Gefolgschaft ringendes politisches Handeln dar.
Zu (3):
Handelt es sich um einen Konflikt zwischen Interessenpolitik und Ethik, so dass wir von einem ethisch (wenn auch weder ökonomisch, noch politisch) vernünftigen Handeln ausgehen müssen, wenn die Sanktionsschäden zweier Kontrahenten gegeneinander aufgerechnet werden?
Ethisch muss es doch zunächst um eine Bewertung der Ziele gehen – und diese müssen, wie unter (1) und unter (2) bereits thematisiert – erst einmal bestimmt werden. Es geht doch nicht darum, an Russland Rache zu nehmen, um ihm maximal zu schaden, etwa gemäß dem Motto: “Hauptsache: sein Schaden beziffert sich höher als der unsrige”. Das wäre ein ethisch plattes Verständnis von Gerechtigkeit: Es ist gerecht, wenn der Aggressor mehr leidet als wir.
Zu (4):
Nun stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang und in welchen Situationen üblicherweise die Schäden zweier Kontrahenten wie selbstverständlich direkt miteinander aufgerechnet werden. Auch hier gibt es eine ökonomische und eine ethische Sicht.
Zunächst zur ökonomischen:
Hätten wir mehrere Sanktionsmöglichkeiten, die hinsichtlich ihrer Zielerreichung gleichwertig sind, so würde man rationaler Weise jene wählen, die für uns den geringsten Schaden erzeugt. Diesen Zusammenhang hat ein Bonmot von Peter F. Drucker 1963 in der Harvard Business Review zur Verdeutlichung des Unterschieds von Effektivität und Effizienz auf den Punkt gebracht: [8]
“It is fundamentally the confusion between effectiveness and efficiency that stands between doing the right things and doing things right. There is surely nothing quite so useless as doing with great efficiency what should not be done at all.” Demnach bedeutet Effizienz also, die “Dinge richtig zu tun”, was aber nutzlos wäre, wenn man nicht effektiv handeln, also “die richtigen Dinge tun” würde.
“Die richtigen Dinge tun” bedeutet zielgerichtetes Handeln. Wie oben dargelegt kann es nicht vorliegen, da Ziele weder bestimmt, noch Wege zu ihrer Erreichung aufgewiesen wurden, noch entsprechendes Handeln erkennbar ist.
Ebenso wenig liegen mehrere Sanktionsmöglichkeiten gegen Russland vor, aus denen ausgewählt werden könnte – das ist der unter (1) erwähnte Spezialfall. Die westlichen Demokratien und auch Deutschland stehen mitnichten vor dem Luxusproblem der Minimierung unserer Sanktionsschäden durch Auswahl des kleinsten Sanktionsübels. Vielmehr müssen wir alles in die Waagschale werfen, um Putin von seinen ja offen kommunizierten Plänen abzubringen.
Folglich kristallisiert sich heraus: Alle zitierten Politiker sind in die von Drucker beschriebenen Falle getappt – indem sie ineffektive Dinge pseudo-effizient tun. Ohne Effektivitätsüberlegungen springen sie sofort zu Kostenvergleichen. Sie lassen sich von einer ökonomischen Scheinplausibilität irreführen.
Nun zur ethischen Sicht:
Hier mag die biblische Konfliktbeilegung archaischer Vergeltungslogik angeführt werden, in der Auge um Auge und Zahn um Zahn gilt, genannt: “negative Reziprozität” [9]. In gesteigerter Form geht es hierbei immer auch darum, “dass man nicht sich selber mehr schädigt als den anderen” (Jürgen Trittin). Wo beobachtet man solche Berechnung üblicherweise? Bei Schulhofprügeleien, oder in “Rosenkriegen” bei Ehescheidungen, solange sie nicht eskalierend ins Selbstdestruktive abgleiten.
Zu (5):
Für die Leitlinie der eingangs angeführten Zitate lassen sich, so stellten wir fest, weder ökonomische und politische, noch ethische Begründungen finden. Wieso wird sie dennoch so häufig erwähnt? Die zitierten Politiker der Regierungsparteien sind allesamt sicherlich keine Fliegengewichte in der Politiker- oder Intellektuellendisziplin und verdienen ansonsten unseren Respekt. Auf Grund dessen stellt sich analytisch und wertfrei die Frage, was sich durch diese Fehlleistung zur Geltung bringt. Was genau drückt sich in dem Lapsus aus?
Wir haben herauspräpariert, dass es anstatt um Konfliktbeilegung um negative Reziprozität und um eine ökonomische Scheinplausibilität geht. Interessanterweise drücken einige Zitate, schon fast mit erhobenem Zeigefinger, auch einen warnenden Appell aus. Die Deutschen sollten sich im Übereifer ihrer Rachegelüste vor einer unkontrollierten Abwärtsspirale mit (vermeintlich) unangemessener Selbstschädigung hüten – nämlich unangemessen dann, wenn sie über der beabsichtigten Schädigung von Russland läge. Man traut also seinem Souverän die Dummheit der Abwärtsspirale zu, die man selbst nicht begehen würde – und begeht dabei selbst die größere Dummheit. Die Warnung der Politiker würzt die Sache mit einem überheblichen Unterton.
Besser wäre es gewesen, von vornherein diesen törichten Vergleich der Schadenshöhen zu unterlassen. Allerdings konnte der Versuchung der ökonomischen Scheinplausibilität, zugleich gepaart mit negativer Reziprozität, nicht widerstanden werden – sie ist allzu bequem: Die Regierung muss keine Ziele operationalisieren, hat einen leicht zu kommunizierenden Maßstab ihres Handelns, und gibt sich einen Anschein von Effizienz und ethischer Verantwortlichkeit. Jedoch haben wir hinreichend dargelegt, dass die in den Zitaten zum Ausdruck kommende Leitlinie untauglich für die Sanktionspolitik ist. Somit kann sie auch nicht als Beleg für die Besonnenheit und Umsicht des Kanzlers dienen, sondern ist eindeutig ein Beleg für sein planloses Durchwursteln bar jedweder politischen Maxime, geschweige denn militärisch informierter Strategie.
Zugleich wirft die Sache kein gutes Licht auf Deutschland und seinen Souverän, der solcherlei Begründungen politischen Handeln unwidersprochen hinnimmt, gegebenenfalls dem Gedanken der negativen Reziprozität sogar beipflichtet: Es ist Ausdruck seiner politischen Unreife, so dass seine archaischen Wünsche und Vorstellungen leicht durch Populismus bedient werden können. Das Zitat aus dem Munde der AfD-Chefin Alice Weidel, das legt die Analyse auch offen, überrascht also keineswegs. Allerdings sieht ein “Führen”, nämlich zum richtig Erkannten, das der Kanzler gerne für sich in Anspruch nimmt, anders aus.
Zu (6):
Kommen wir zur letzten Frage, wie eine adäquate Ukraine- und Russland-Politik aussehen würde und wie wir sie erreichen können.
Wir hatten bereits festgestellt, dass es an einer Zielekonkretisierung mangelt. Es geht wohlgemerkt um deutsche Ziele, nicht um ukrainische Ziele, also nicht um eine paternalistische Bevormundung der Ukrainer. Sie wissen am besten, ob die Russland-Sanktionen und Waffenlieferungen ihr Leid verlängert oder nicht. Man sollte sich hüten, moralisch mit dem Leid und Tod der Ukrainer von Deutschland aus zu argumentieren – und insbesondere unter dem Deckmantel von Ethik: Man kann nicht im Namen des ukrainischen Leids und Tods den Ukrainern Waffenlieferungen verweigern. Als könne eine souveräne Ukraine nicht selbst entscheiden, ob die Ukrainer lieber den Tod im Krieg in Kauf nehmen oder sich der russischen Knute ergeben wollen. Die Bevormundung wird daran zu bemessen sein, ob der Westen einen ukrainischen Widerstand mit weiteren Waffen ermöglichen wird oder doch über diesen Hebel die ukrainische Niederlage, also Diktatfrieden in einem unheiligen Pakt mit dem Aggressor, herbeizwingt. Unter dem noch gegenwärtigen Eindruck des ersten Weltkrieges hatte Max Weber in seiner bedeutenden Rede “Politik als Beruf” 1919 geäußert: [10]
“… so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.”
Als Beispiel für eine Zielekonkretisierung und eines “Widerstands gegen das Übel”, wohlgemerkt als Beispiel, nicht unbedingt als Vorbild, können die USA dienen. Die USA haben frühzeitig ein konkretes Kriegsziel formuliert, sie haben es operationalisiert und dazu einen Masterplan, offensichtlich lange vor Februar 2022, erstellt und umgesetzt: Putin soll absehbar keinen Krieg, insbesondere gegen NATO-Territorium, führen können. Sie haben dieses Ziel klar kommuniziert und auch in einigen “Nicht-Zielen” mit Russland als Adressat deutlich gemacht, was sie nicht anstreben: z. B. die Absetzung Putins oder die Ausweitung von Kampfhandlungen auf russisches Stammterritorium (wozu weder der Donbass noch die Krim gezählt werden können). Hiermit soll das Risiko des Atomwaffeneinsatzes durch Russland minimiert werden. Auch ist dieses Ziel noch eskalationsfähig: Es signalisiert, dass die Absetzung des Führungszirkels und Unrechtsregimes um Putin auch ein Ziel sein könnte. Das “Nicht-Ziel” der Absetzung ist angesichts des langen Kerbholzes von Putin keine Selbstverständlichkeit, aber Ausdruck der Werte Selbstbestimmung, staatliche Souveränität und Unverletzlichkeit der Grenzen, deren Einhaltung der Westen auch bei der Ukraine vom Aggressor fordert.[11]
Jeder Umgang mit einem totalitären Staat, jede Politik überhaupt, ist eine Abwägung: Kommt gegebenenfalls Schlimmeres nach? Zu dieser Abwägung meinte Max Weber, ebenfalls in “Politik als Beruf”, dass “Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen” [12] darstellen, die von einem Politiker in Balance zu halten sind. Diese Balance ist geradezu der Gegenentwurf zum jetzt beobachtbaren Taumeln zwischen moralischer Empörung einerseits, die in negative Reziprozität umzuschlagen droht, und einer ökonomistischen und uneinsichtigen Russland-Politik des Weiter-so andererseits, die aus kurzzeitigen Vorteilserwägungen und Angst vor begrenzten (und im, mit dem Bruttoinlandsprodukt gewichteten, Vergleich zu den Hilfeleistungen osteuropäischer Staaten geringeren) Wohlfahrtsverlusten heraus das Opfer dem Aggressor preiszugeben bereit ist.
Im Sinne diese Abwägung könnte man wohlwollend die Regime-stabilisierende Appeasement-Politik der letzten beiden Jahrzehnte auch dahingehend deuten, dass uns ein starker Putin vor einem russischen “failed state” mit Atomwaffen bewahren sollte. Die stille Übereinkunft mag gewesen sein: “Du kannst mit deiner Despoten-Clique ‘dein’ Land unterdrücken und ausbeuten – solange du deine (europäischen) Nachbarn in Ruhe lässt.” Nachdem Russland mit Beginn seines Angriffskrieges offen auch gegenüber der NATO mit einem Atomwaffeneinsatz kokettiert und einen GAU von ukrainischen Atomkraftwerken zu provozieren versucht, erscheinen solche Überlegungen zunehmend überholt. Putin, der sich ständig selbst diskreditiert, ist als künftiger Verhandlungspartner immer schwieriger vorstellbar.
Entscheidender Maßstab von Sanktionen – und im Übrigen auch von unternehmerischem Handeln, das mag die Leser des DNWE mit unternehmerischem Engagement mit Russland (Importe, Exporte, Investitionen) besonders interessieren – wird künftig sein müssen: Stützt mein Handeln, das je konkrete politische, unternehmerische und auch private Handeln, das russische Verbrecherregime?
Einer ähnlichen Gewissensfrage wie die Deutschen nach 1945 müssen sich auch alle Russen stellen: Hast du zur Stabilisierung des Regimes beigetragen? Was war dein, wenn vielleicht auch geringer, Beitrag zum Widerstand, jetzt, seit Februar 2022, seit 2014 (Krim), seit 2008 (Georgien), etc.?
Stellt man die Fragen so, so liegen auch folgende Überlegungen klar auf der Hand:
- Touristenvisa für Russen zuzulassen, stützt das russische Verbrecherregime. Denn es sind sowieso nur die durch das Regime Privilegierten, die sich einen Europa-Urlaub leisten können.
- Babynahrung nach Russland zu liefern, egal ob mit oder ohne Unternehmensrendite, stützt das russische Verbrecherregime. Denn welche russische Familie kann sich schon Babynahrung des Schweizer Konzerns Nestle leisten? – Dies als Kommentar zum Nestle-Statement. [13]
- Medikamente nach Russland zu liefern, stützt das russische Verbrecherregime.
Wir sehen, wie sich immer mehr Autokraten, beispielsweise Xi Jinping in China oder Erdoğan in der Türkei, sogar ihrer Führungszirkel-internen “checks and balances” entledigen. Nach den Überlegungen von Timothy Snyder, erschreckend bestätigt durch die Entwicklung Russlands, folgt eine Selbstradikalisierung dieser Autokraten, die eine ernsthafte Bedrohung für unsere westlichen Demokratien darstellen. Putin ist womöglich nur das ruchbare Beispiel. An diesem muss Deutschland sich üben, muss künftig die entmutigende Diagnose der beiden Politikwissenschaftler Thomas Jäger und Herfried Münkler[14] zu eingeschränktem militärisch-strategischen Denkens widerlegen und muss vor allem zu einem verantwortungsethisch fundierten politischen Handeln finden, das sich zutraut, für seine Überzeugungen einzustehen.
Fussnoten
[1] https://www.inforadio.de/rubriken/krieg-in-der-ukraine-eine-interview-chronik/2022/02/tag-2–der-25–februar-2022-krieg-ukraine-russland-chronik.html | zuletzt abgerufen am 03.05.2022; Min. 9:28 bis 9:33
[2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/krieg-in-der-ukraine/fernsehansprache-8-mai-2037620?view=detail | zuletzt abgerufen am 10.05.2022; Min. 6:37 bis 6:42
[3] https://www.deutschlandfunk.de/was-tun-gegen-gas-engpaesse-interview-kevin-kuehnert-spd-generalsekretaer-dlf-b3efeda3-100.html | zuletzt abgerufen am 19.07.2022; Min. 01:26 bis 01:37
[4] https://www.deutschlandfunk.de/steinmeier-in-warschau-kein-besuch-des-praesidenten-in-kiew-erwuenscht-dlf-f0e1c8c7-100.html | zuletzt abgerufen am 04.05.2022; Min. 2:47-3:04
[5] WirtschaftsWoche, Ausgabe 16 v. 14.04.2022, S. 27f
[6] https://www.deutschlandfunk.de/bundeswirtschaftsminister-robert-habeck-100.html | zuletzt abgerufen am 11.07.2022; Min. 11:28 bis 13:08
[7] https://www.ndr.de/nachrichten/info/Der-Schlagabtausch-Die-Generaldebatte-im-Bundestag,audio1140376.html | zuletzt abgerufen am 03.06.2022; Min. 2:40 bis 2:51
[8] Drucker 1963, S. 54; kursiv i. Orig.
[9] Matthias Jung (Frankfurt/M. u. Würzburg) plant im Rahmen seines DFG-Projektes “Konfliktvermeidung und Konfliktbeilegung in Gesellschaften ohne Zentralgewalt” einen Sammelband, in dem dieser Begriff systematisch ausgearbeitet werden soll (Jung 2023; s. außerdem: Loer 2022, u. a. Abb. 1, S. 167).
[10] Weber 1919/1980, S. 551
[11] Zwar sieht es gegenwärtig so aus, als hätte der Historiker Karl Schlögel nicht Recht gehabt, als er 2015 äußerte: “Putin trägt – den momentanen Meinungsumfragen und Rankings zum Trotz – alle Züge eines failing man.” (2015, S. 179) Man sollte aber die innere Dynamik in Russland, die auch durch die Sanktionen befördert wird, auch wenn sie noch latent bleibt, nicht unterschätzen.
[12] Weber 1919/1980, S. 559
[13] https://www.nestle.de/frag-nestle/update-russland-ukraine | zuletzt abgerufen am 11.09.2022; Update Russland Ukraine vom 23. März 2022
[14] Dieser hatte beispielsweise in einem Interview am 23. Aug. 2022 geäußert: “In Deutschland gibt es offenbar keine Kultur des militärisch-strategischen Denkens”. (https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/interview-experte-berlin-sechs-monate-krieg-in-der-ukraine-politologe-herfried-muenkler-wir-koennen-nicht-in-unterhosen-gegen-russland-antreten-li.259124 | zuletzt abgerufen am 10.09.2022)
Literatur:
Drucker, P. F. (1963): Managing for Business Effectiveness. In: HBR 41(3): 53-60
Jung, M. (ed.) (voraussichtl. 2023): Konfliktvermeidung und Konfliktbeilegung in Gesellschaften ohne Zentralgewalt. Würzburg
Loer, T. (2022): Strukturelle Reziprozität und die Annahme des Anderen. In: Z’GuG 45(1): 153-182
Schlögel, K. (2015): Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. München: Carl Hanser Verlag (iBooks)
Weber, M. (1919/1980): Politik als Beruf. Vortrag [1919]. In: ders., Gesammelte politische Schriften, Tübingen, 505-560
Die Autoren
Dr. Thomas Loer
Jahrgang 1961, habilitierter Soziologe, freiberuflich forschend, Lehrbeauftragter an der International Psychoanalytic University Berlin; Gründungsherausgeber von “sozialer sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung”; Mitbegründer der Initiative “Freiheit statt Vollbeschäftigung”; zahlreiche Publikationen zur Methode der Objektiven Hermeneutik und zur (als grundlegend verstandenen) Kultursoziologie.
Uwe Grundhöfer
Jahrgang 1965, Diplom-Volkswirt, Parallelstudium der Philosophie in Frankfurt/Main sowie der Objektiven Hermeneutik bei Ulrich Oevermann. Beim größten deutschen TK-Netzbetreiber im Wholesale-Produktmanagement verantwortlich für den Transport der Bitstream- und Resale-Anschlussprodukte, zuvor Unternehmensberater. Verwandtschaftsbeziehungen in die Ukraine reizen zzt. zu Politanalysen.