Meine wirtschaftsethischen Stellungnahmen zum Ukraine-Krieg[1] haben bemerkenswert viel Zustimmung und Zuspruch erfahren. Zu meiner eigenen Überraschung und Erleichterung sind die sonst üblichen Hassmails, mit denen ich in diesem Fall fest gerechnet hatte, (bislang) ausgeblieben. Aber natürlich gab es auch ein paar kritische Rückmeldungen. Die sachlich und konstruktiv vorgetragenen Einwände, die mich erreicht haben, liefen auf die Einschätzung hinaus, meine Position sei naiv bzw. romantisch: naiv, weil ich nicht hinreichend besorgt sei über die Bedrohung des westlichen Zivilisationsmodells durch russische Aggression(sbereitschaft); romantisch, weil ich als Anhänger einer längst überholten Vorstellung davon ausgehe, mit Putins Russland könne es auf absehbare Zukunft so etwas wie Win-Win überhaupt noch geben.
Solche Rückmeldungen geben natürlich zu denken. Aber auch nach selbstkritischer Überprüfung komme ich zu einem anderen Schluss und empfinde meine Position als weder naiv noch romantisch. In beiden Punkten fühle ich mich missverstanden. Deshalb will ich auf diese Kritik reagieren, indem ich für mehr Transparenz sorge und versuche, den Hintergrund meiner aktuellen Einschätzungen zum Ukraine-Krieg auszuleuchten. Ich bin ja nicht durch Zufall auf meine Position verfallen, sondern durch konsistente Anwendung des ordonomischen Forschungsprogramms, an dem ich seit 30 Jahren arbeite.[2]
Die zur Förderung der Transparenz gewählte Vorgehensweise besteht gedanklich aus vier Schritten: (1) Ich beginne mit einigen wenigen autobiographischen Informationen. (2) Dann erläutere ich einige theoretische Weichenstellungen. (3) Im dritten Schritt wende ich die ordonomische Perspektive auf den Ukraine-Krieg an. (4) Und zum Schluss teile ich einige empirische Beobachtungen mit, durch die ich meine Sichtweise tendenziell bestätigt sehe, und zwar auch dann, wenn ich mir bewusst Mühe gebe, jene epistemische Demut an den Tag zu legen, zu der wir – sei es als Wissenschaftler, sei es als Bürger und Teilnehmer an politischen Diskussionen – angesichts der prinzipiellen Fallibilität wissenschaftlicher Erkenntnis ebenso angehalten sind wie angesichts der schnell wechselnden Datenlage zum Krieg, die neue Überraschungen in petto hält und ganz zweifellos auch in diesem Fall dafür sorgen wird, dass man das ganze Bild erst im Nachhinein erkennen kann, weil uns als Zeitgenossen im laufenden Prozess viele Informationen fehlen. Hinterher ist man immer klüger. So wird es auch hier sein.
I. Autobiographische Notiz
Ich bin in Westdeutschland geboren, im Jahr 1964. Da war Adolf Hitler noch keine 20 Jahre lang tot, und der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard hatte sein Amt gerade einmal sechs Monate zuvor angetreten. Lang lang ists her. 1983 habe ich Abitur gemacht. Historisch betrachtet bin ich also ein Kind des Kalten Krieges. Denn als junger Erwachsener wuchs ich im Umfeld einer friedens- und umweltbewegten Generation auf, die nicht nur den NATO-Doppelbeschluss als kriegsgefährliche atomare Aufrüstung, sondern auch die friedliche Nutzung der Kernkraft als vermeintlich zu riskant strikt ablehnte. Da ich beide Positionen nicht teilte, war ich seinerzeit in politischen Diskussionen mit Gleichaltrigen ein extremer Außenseiter. Das hat mich intellektuell sensibilisiert und besonders intensiv über die Logik des Kalten Krieges – und über die Rolle moralischer Emotionen in politischen Diskursen – nachdenken lassen. Von daher war mein Weg zur Wirtschaftsethik durch dieses Erkenntnisinteresse gewissermaßen vorgezeichnet. Einerseits habe ich in der Ökonomik das analytische Handwerkszeug gefunden, um solche strategischen Konflikte besser durchdenken zu können. Andererseits habe ich in der Ethik Denkansätze gefunden, die es erlauben, auch die dunklen Seiten der Moral – ihre gesellschaftliche Dysfunktionalität – zu beleuchten. Deshalb handelt es sich bei meinem ordonomischen Forschungsprogramm nicht um eine i.e.S. verstandene Wirtschafts- und Unternehmensethik, sondern um eine historisch weit ausgreifende, Politik, Philosophie und Ökonomik umfassende, auf Konsilienz angelegte Gesellschaftstheorie: eine Theorie gelingender oder misslingender gesellschaftlicher Lernprozesse wechselseitiger Anpassungen von Ideen und Institutionen.
II. Theoretischer Hintergrund
Als Ökonom gehe ich davon aus, dass man Konflikte und mögliche Konfliktlösungen stets vom Ende her denken muss, also per Rückwärtsinduktion. Oder um es mit einer vertikalen Metapher zu sagen: Wir haben es hier mit einem hierarchischen Mehr-Ebenen-Problem von ineinander verschachtelten Ziel-Mittel-Beziehungen zu tun. Der öffentliche Diskurs neigt dazu, sich an vordergründigen Problemen aufzuhängen und die unteren Stufen dieser Hierarchie gleichsam bottom-up zu bearbeiten. Dadurch kommen viele Fehleinschätzungen zustande. Die lassen sich nur vermeiden, wenn man genau anders herum vorgeht und die Hierarchie gedanklich top-down durchdringt. Wenn man einen geeigneten Weg sucht, muss man vom Status quo ausgehen und das angestrebte Ziel stets vor Augen haben, damit aus hindernisbedingten Umwegen nicht versehentlich Abwege werden. Im Kontext antagonistischer Kooperation bedeutet dies, dass es einen großen Unterschied macht, ob man das Beziehungsmanagement im Konfliktfall auf Antagonismus oder auf Kooperation ausrichtet.[3]
Als Ethiker gehe ich davon aus, dass Moral nicht immer gut, sondern prinzipiell ambivalent ist. Moral kann das Beste im Menschen hervorbringen. Sie kann aber auch verblenden und Schlechtes hervorbringen. Große Menschheitsverbrechen werden oft mit subjektiv gutem Gewissen begangen, weil man sich selbst für gut und den oft nur imaginierten Gegner, den es vermeintlich zu bestrafen gilt, für böse hält. Die mit moralischem Furor veranstalteten Hexenverbrennungen sind für mich ein illustratives Beispiel. Ich interpretiere sie als Phänomen einer kollektiven Moralpanik: Aufgrund unserer evolutionären Geschichte sind Menschen Stammeswesen, die zum Stammesdenken neigen und besonders in Situationen, die als kollektive Gefährdung wahrgenommen werden, bei der individuellen Meinungsbildung einem großen Konformitätsdruck unterliegen, der in die Irre führen kann.[4]
Das Forschungsprogramm der Ordonomik fokussiert die Perspektive auf das Phänomen, dass moralische Emotionen und Vor-Urteile in der demokratischen Öffentlichkeit zu einem Diskursversagen führen können, welches dann ein Politik- und schließlich ein Marktversagen nach sich zieht, weil Politiker unter dem Druck der Öffentlichkeit sich genötigt sehen, selbst wider besseren Wissens Maßnahmen zu ergreifen, die manchmal das Gegenteil von dem bewirken, was die Bevölkerung eigentlich erreichen will. So kann es zu dysfunktionalen Interventionsspiralen kommen. Ein Beispiel dafür ist die Berliner Wohnungspolitik: Hier führt die Wut über Preissteigerungen dazu, dass die Nachfrage subventioniert und das Angebot stranguliert wird, so dass die Verabreichung der falschen Medizin mit ihrer Symptombekämpfung (= Preisdeckelung) die eigentliche Krankheit (= Wohnungsmangel) immer schlimmer macht – und so den Einsatz von noch mehr Medizin motiviert.[5]
Mit dieser Perspektive auf politische Diskurse und ihre Anreizwirkungen betreibt die Ordonomik nicht Politiker-, sondern Politik-Beratung. Sie klärt allgemein darüber auf, wie Denkfehler zu missliebigen Konsequenzen führen können. Die Ordonomik wendet sich nicht an Politiker, etwa um ihnen Entscheidungshilfen zu geben, wie sie sich unter öffentlichem Druck zu verhalten haben. Sie wendet sich vielmehr an die Druck ausübende Öffentlichkeit und gibt Ratschläge, mit welchen Anreizen Politiker konfrontiert werden sollten – und mit welchen Fehlanreizen sie besser nicht konfrontiert werden dürften. Die Empfehlungen der Ordonomik betreffen nicht die konkreten Spielzüge einzelner Akteure, sondern ihre Spielregeln.
Um es konkret zu machen: Milton Friedman hat bereits in den 1960er Jahren die These vertreten, dass es Marktwirtschaft ohne Demokratie, aber nicht Demokratie ohne Marktwirtschaft geben kann.[6] Die Ordonomik ist stark davon beeinflusst, wie Douglass North gemeinsam mit Ko-Autoren[7] diese These weiterentwickelt hat, um einerseits verständlich zu machen, warum wirtschaftliche Entwicklung keineswegs automatisch zu Demokratie führt, und andererseits zu erklären, warum Autokratien darauf angewiesen sind, mittels Wettbewerbsbeschränkungen wirtschaftliche Renten zu erzeugen, die politisch zur Stabilisierung der Elitenbeziehungen eingesetzt werden (müssen). Diese theoretische Hintergrundfolie ist sehr hilfreich, um zu verstehen, warum der Aufbruch zur Demokratie in Russland gescheitert ist und welche Transformationen von Wirtschaft und Politik Putin vorgenommen hat, um seine Herrschaft (als “limited access order”) erfolgreich zu stabilisieren.
Vor diesem Hintergrund ist die Ordonomik nicht bestrebt (und auch nicht sonderlich geeignet), einem Politiker wie Putin Ratschläge zu geben, wie er als Diktator die Demokratie fördern kann, aber sie kann sehr wohl helfen, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was der Westen von außen tun kann – und was er besser unterlassen sollte -, um auf ein solches Regime vernünftig einzuwirken und Spielregeln für eine friedliche Koexistenz zur Geltung zu bringen, die langfristig sogar auch die Lebensperspektiven der russischen Bevölkerung verbessern und damit Konfliktpotentiale reduzieren.
Analog ist die Ordonomik nicht darauf ausgerichtet, Bundeskanzler Scholz zu sagen, was er in der aktuellen Konfliktsituation zu tun und zu lassen hat – aber sie kann der deutschen Öffentlichkeit raten, die für den Bundeskanzler ohnehin schon schwierige Lage nicht durch hoch emotionalisierte Diskurse noch schwieriger zu machen.[8]
Um zur Versachlichung des Diskurses beizutragen und mit analytischen Mitteln Orientierung zu geben, muss man die kognitive Empathie aufbringen, sich in die Lage von Akteuren wie Putin hineinzuversetzen.[9] Man muss versuchen, die Welt aus seinen Augen zu sehen – um antizipieren zu können, wie er agiert und auf Reaktionen des Westens seinerseits reagiert. Für eine Abschätzung der Konsequenzen ist das unabdingbar. Und deshalb ist es misslich, wenn im öffentlichen Diskurs die intellektuelle Leistung kognitiver Empathie nicht kultiviert, sondern ganz im Gegenteil als politische Sympathie missverstanden und dann moralisch diskreditiert wird. Dass der Begriff “Putin-Versteher” in Deutschland zum Schimpfwort werden konnte, ist deshalb ein höchst beunruhigendes Menetekel. So etwas verdient keinen Beifall, sondern sachlich fundierten Widerspruch. Denn hier droht tatsächlich Unheil. Wenn Erklärungsversuche als Rechtfertigungsversuche aus dem öffentlichen Diskurs verbannt werden, dann ist das ungefähr genauso intelligent, wie einen Vergleich als Gleichsetzung zu diskreditieren, obwohl Vergleiche doch dazu da sind, neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede aufzudecken. Mit solchen Tabuisierungsstrategien nimmt die Leistungsfähigkeit gesellschaftlicher Diskurse nicht zu, sondern ab. Ein Diskursversagen ist damit so gut wie vorprogrammiert.[10]
III. Anmerkungen zum Ukraine-Krieg
(1) Angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bin ich keineswegs gegen westliche Wirtschaftssanktionen. Ich möchte nur, dass diese strategisch klug eingesetzt werden. Und das ist leider keineswegs selbstverständlich.
Im Kalten Krieg bestand aus meiner Sicht die Gefahr, dass (die u.a. von sowjetischer Propaganda im Westen geschürte) Angst kleinmütig macht, nach dem Motto: Lieber rot als tot. Heute besteht die analoge, aber inhaltlich anders ausgerichtete Gefahr, dass Wut (über reale Kriegsverbrechen) übermütig macht, nach dem Motto: Putin muss weg.
So weit ich sehe, macht das (verfehlte) Bottom-Up-Denken folgende Argumentation derzeit im öffentlichen Diskurs dominant: Da der Westen mit Russland keinen militärischen Krieg führen will, sollten wir – mit moralischer Berechtigung – einen möglichst radikalen Wirtschaftskrieg führen, der Putins Russland zuerst wirtschaftlich und dann auch militärisch in die Knie zwingt und zu einem möglichst schnellen sowie möglichst generösen Frieden mit der Ukraine (und zur Abkehr von weiteren Annexionsgelüsten in Moldawien, Georgien usw.) zwingt.
Top-down argumentierend möchte ich hier zu bedenken geben, dass es keine klaren Regeln gibt, an die sich Russland halten müsste, um zu bestimmen, was genau als Kriegseintritt des Westens zu interpretieren ist. Gegenwärtig vermeiden wir, westliche Soldaten und schweres Gerät auf ukrainischem Boden einzusetzen. In der öffentlichen Debatte steigt jedoch der moralische Druck, und er kann dazu führen, dass wir uns von dieser Seite (z.B. durch die Lieferung schweren Geräts) der Grenze zum Krieg bedenklich nähern.
Ferner möchte ich darauf hinweisen, dass es aus russischer Sicht keinen Unterschied macht, ob der Westen mit militärischen oder mit wirtschaftlichen Mitteln darauf hinwirkt, dass Russland den Krieg verliert. Das Regime behält sich in offiziellen Verlautbarungen explizit vor, auf jede Form von existenzieller Bedrohung mit dem Ersteinsatz von Nuklearwaffen zu reagieren. Natürlich ist auch hier zu fragen, wie ernst man eine solche Drohung nehmen muss. Aber man sollte diese Drohung nicht leichtfertig als bloße Rhetorik abtun. Jedenfalls haben wir keine guten Erfahrungen damit gemacht, die über Jahre hinweg ausgestoßenen Drohungen Russlands gegenüber einer zur NATO beitrittswilligen Ukraine mutwillig zu ignorieren.
Von daher kritisiere ich die Wirtschaftssanktionen nicht deshalb, weil ich sie für zu stark halte, sondern deshalb, weil sie nicht so ausgerichtet sind – und auch nicht so kommuniziert werden -, dass man klar erkennen kann, worauf sie hinauslaufen sollen. In den letzten Wochen wurden alle paar Tage immer wieder neue Sanktionen erlassen, so als käme es auf die schiere Anzahl der Einzelmaßnahmen an. Das ist praktizierte Symbolpolitik, die die Aktionismus- und Bestrafungsbedürfnisse des eigenen Publikums bedient, nicht aber Probleme löst. Strategisch kluges Handeln geht anders.
Um in den Ukraine-Krieg einzugreifen und dabei Aussicht auf Erfolg zu haben, müsste die Politik schnell und entschlossen ein Paket harter Sanktionen bündeln und es dann klar konditionieren, d.h. explizit benennen, was die Kriterien sind, die der Westen erfüllt sehen will, um die Sanktionen wieder zurückzunehmen. Strategisch klug handelt, wer die wirtschaftliche Eskalation mit einem Angebot wirtschaftlicher De-Eskalation verbindet. So aber gehen wir gegenwärtig nicht vor.
Vielmehr machen wir es derzeit genau umgekehrt. Wir stellen in Aussicht, in Zukunft sämtliche Wirtschaftsbeziehungen zu Russland dauerhaft abzubrechen (vgl. Szenario I in Abbildung 1). Damit verdüstern wir nicht nur die Zukunftsaussichten Russlands, sondern laufen Gefahr, die Kriegshandlungen in der Ukraine zu prolongieren. Warum? Weil die russische Regierung unter Druck gesetzt wird, auf militärische Eskalation zu setzen, um am Verhandlungstisch größere politische Erfolge zu erzielen, mit denen sie gegenüber ihrer Bevölkerung das (vom Westen zu verantwortende) Absinken des wirtschaftlichen Lebensstandards rechtfertigen kann.
Ratsam wäre es, genau andersherum vorzugehen, also auf die Aggression in t1 mit harten Sanktionen zu reagieren und dann in Aussicht zu stellen, dass diese nach Friedensschluss in t2 wieder aufgehoben werden, und zwar nach der bewährten “do ut des”-Logik, mit der sich ein reicher Westen politische Zugeständnisse des Ostens wirtschaftlich erkaufen kann. Dies führt zur Verkürzung des Krieges und zur Rettung von Menschenleben.
Formelhaft zugespitzt, lautet meine kritische Stellungnahme zu Wirtschaftssanktionen: Wenn schon, denn schon – und dann aber bitte richtig und konsequent und klug, d.h. nicht als Wirtschaftskrieg, sondern als Instrument einer auf Frieden zielenden Politik, die sich an dem moralischen focal point orientiert, menschliches Leid zu lindern und zivilisatorischen Fortschritt zu fördern.
(2) Vor diesem Hintergrund scheinen mir folgende Punkte bedenkenswert und sogar beachtenswert zu sein:
- Da Russland eine Nuklearmacht ist, sollten wir die Parole “Putin muss weg” lieber nicht verwenden (und auch nicht insgeheim verfolgen): weder in präsidialen Reden vor dem Warschauer Schloss, noch im öffentlichen Diskurs generell. Auch die zunehmend populäre Gleichsetzung von Putin und Hitler ist in diesem Kontext geradezu kontra-produktiv.[11]
- Dass Putin ein Kriegsverbrecher ist und bedenkenlos über Leichen geht, muss man nicht erst jetzt (nach Butscha) mit Überraschung zur Kenntnis nehmen. Man konnte das schon länger wissen, spätestens seit er Grosny dem Erdboden gleichgemacht hat. Die Liste von Putins Gräueltaten ist lang; sie umfasst ein weites Spektrum und reicht zeitlich weit zurück. (Ähnliches gilt übrigens für die chinesische Regierung, deren Verhalten gegenüber den Uiguren wahrscheinlich alle Kriterien erfüllt, um im juristisch präzisen Sinn von Völkermord zu sprechen.)[*]
- Man darf politische Ereignisse nicht zu sehr personalisieren und damit psychologisieren. Zumindest sollte man auch strukturelle Gründe bedenken. Wir haben es nicht nur mit der Person Putin zu tun, sondern mit dem System Putin. Der Mann steht ja nicht allein da. Eigentlich ist er nur ein Exponent verschiedener Eliten (in Wirtschaft, Politik, Militär und Geheimdienst), die er bislang erfolgreich zusammenhält.
- Putin strebt keine Rückkehr zum Sowjetsystem an, sondern bedient (und re-aktiviert) alte Narrative des zaristischen Russlands: ein ideologisches Amalgam aus religiöser Orthodoxie, Ethno-Rassismus und nationalstolzen Großmachtphantasien – kombiniert mit einer permanenten Erinnerung an das russische Trauma, mehrfach Opfer westlicher Angriffskriege geworden zu sein.
- Manche sagen, der Angriffskrieg auf die Ukraine sei unverzeihlich. Dagegen möchte ich aus deutscher Sicht (selbst-)kritisch einwenden: Wenn es unverzeihliche Kriege gäbe, dann hätten die Deutschen nach 1945 international keine Gnade finden dürfen. Die Idee der “Unverzeihlichkeit” ist moralisch motiviert. Aber sie provoziert die Prolongierung von Konfliktlagen und erschwert die Aussöhnung. Die aber ist immer möglich, wenn wir die Kollektivsubjekte betrachten: etwa Israel und Deutschland oder die vermeintlichen Erbfeinde Frankreich und Deutschland.
- Wenn wir in die Vergangenheit schauen, sehen wir nur Mord und Totschlag und das, was die Völker und Nationen sich (einseitig oder wechselseitig) angetan haben. Wir müssen nach vorn schauen und statt der Konflikte nach gemeinsamen Interessen Ausschau halten. Deshalb ist es aus meiner Sicht so wichtig, Russland nicht ‘ad infinitum’ mit einem möglichst radikalen Wirtschaftskrieg zu überziehen, sondern in Aussicht zu stellen, dass man langfristig an friedlicher Koexistenz und sogar an produktiver Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil interessiert ist. Formelhaft zugespitzt: Vergangenheitsbetrachtung trennt, Zukunftsorientierung eint. Man muss die Konfliktlösung vom Win-Win-Potenzial her denken. Deshalb ist es wichtig, die Aufmerksamkeit aller Konfliktparteien stets darauf zu richten, unter welchen Bedingungen die Wirtschaftssanktionen sukzessive gelockert und schließlich wieder aufgehoben werden.
- In dieser Hinsicht macht es einen wesentlichen Unterschied, ob der Westen die Zurücknahme der Sanktionen in Aussicht stellt und genau wovon er es abhängig macht, Russland in das System wirtschaftlicher Vorteilsgewährung wieder einzugliedern: Wollen wir die wirtschaftliche Kooperation wieder aufnehmen (a) nach einem die Ukraine befriedenden (und ihre Regierung befriedigenden) Verhandlungsabschluss, oder erst (b), wenn die Person Putin nicht mehr im Amt ist, oder erst (c), wenn das System Putin einer rechtsstaatlich verfassten Demokratie gewichen ist? Meine Einschätzung dazu: Option (a) verkürzt den Krieg, Option (b) verlängert ihn, und Option (c) macht Russland auf unabsehbare Zeit zu einem verarmten Paria-Staat. Ich halte unter nochmaligem Verweis auf Abbildung 1 die Erwartung für schlecht begründet, dass unkonditioniert auf Dauer angelegte Wirtschaftssanktionen den Ukraine-Krieg abkürzen. Aus meiner Sicht dürfte eher das Gegenteil passieren – und in der Ukraine viele zusätzliche Menschenleben kosten.
- Der Westen hat leider – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, auf die innenpolitische Lage in Russland konstruktiv einzuwirken. Putins Regierungsapparat hat die öffentliche Berichterstattung fest im Griff und wird stets versuchen, alle Misserfolge (wie z.B. eine kurzfristige Verschlechterung der Versorgungslage und mittelfristig ein Absinken des allgemeinen Lebensstandards) den feindlichen Absichten des Westens zuzurechnen. Und solange es dort gelingt, die inländische Opposition mit Gewalt zu unterdrücken, wird das – als System Putin – erfolgreich sein, auch wenn die Person Putin demnächst einem Nachfolger Platz gemacht haben wird. Wir müssen weiterhin damit rechnen, dass auf innenpolitische Misserfolge mit dem Versuch reagiert wird, eine stark anti-westlich und zudem extrem chauvinistisch eingestellte nationale Öffentlichkeit mit außenpolitischen Erfolgen zu beeindrucken, “stolz” zu machen und auf Zustimmung zum Regierungshandeln einzuschwören. Deshalb plädiere ich dafür, realistischerweise von einem solchen Bad-Case-Szenario auszugehen, d.h. sich darauf einzustellen, dass man es in Russland (und analog in China und in vielen anderen Ländern) auf absehbare Zeit mit Regierungen zu tun haben wird, die ganz andere Vorstellungen von Menschenrechten und nationaler Souveränität haben als jene, die wir im Westen für die allein richtigen halten.
- In meinen aktuellen Veröffentlichungen habe ich mich bemüht, die Missverständnisse zwischen Ost und West nachzuzeichnen, die uns in die gegenwärtige Misere geführt haben.[12] Persönlich bin ich ein vehementer Anhänger des Westens und ein Befürworter der NATO. Aber das hindert mich nicht daran, mit kognitiver Empathie zu analysieren, wie das eigene Verhalten von einer Gegenseite subjektiv wahrgenommen wird, die ich persönlich für objektiv paranoid halte.[13] Aus meiner Sicht sind viele der Befürchtungen gegenüber der NATO, die ja ein reines Verteidigungsbündnis ist, nicht einfach nur taktisch vorgeschoben und propagandistisch motiviert, sondern von russischer Seite wirklich ernst gemeint und ehrlich empfunden – was die Verständigung keineswegs leichter macht. Wenn ich versuche, das als Beobachter neutral zu analysieren, fühle ich mich an die Religionskriege erinnert, in denen Katholiken und Protestanten sich wechselseitig bekämpft haben, weil sie jeweils davon überzeugt waren, die einzig richtige Religion zu verteidigen. Gerade weil ich die Meinung teile, dass die NATO-Osterweiterung ohne böse Absicht (und nach westlichem Selbstverständnis: mit guten Gründen, also völlig legitim) ins Werk gesetzt wurde, darf man das Problem nicht nur aus der westlichen Binnenperspektive betrachten. Denn ich glaube schon, dass wir die russischen Bedenken, gerade weil wir sie für illegitim hielten – und natürlich nach wie vor für illegitim (und sogar für absurd) halten -, nicht ernst (genug) genommen haben. Hier hat uns das Gefühl moralischer Überlegenheit einen Streich gespielt. Aus meiner Sicht wären wir besser gefahren, wenn wir der Ukraine mit offenen Karten von vornherein das Angebot gemacht hätten, sie nicht militärisch, sondern nur wirtschaftlich und politisch in den Westen integrieren zu wollen. Darüber hätte man mit Russland beizeiten einen Deal machen können. Jetzt ist ein solcher Deal objektiv schwieriger geworden. So viel Selbstkritik muss (erlaubt) sein.
- Solange die Ukraine im Abwehrkampf erfolgreich sowie weiter verteidigungswillig und verteidigungsfähig ist, kann ich gut nachvollziehen, dass der Westen das Initiativrecht für Friedensverhandlungen der ukrainischen Regierung zuweist. Ich will nur darauf hinweisen, dass sich das Kriegsglück wenden kann. Und dann wäre es buchstäblich fatal, wenn eine belligerent eingestimmte Öffentlichkeit die westlichen Politiker daran hindern würde, die für Friedensverhandlungen nötigen Kompromisse mit der Person Putin und dem System Putin einzugehen, weil sie ihnen das als Verrat anrechnet. Konkret: Wie steht es morgen um unsere heute mit moralischem Rigorismus zementierten Vor-Festlegungen, wenn wir in Friedensverhandlungen wirtschaftliche Zugeständnisse anbieten müssen, um von Russland politische Zugeständnisse zugunsten der Ukraine auszuhandeln?
- Für mich lautet die entscheidende Frage: Wie handlungsfähig, politikfähig, strategiefähig ist der Westen? – Meine Sorge ist, dass ein hoch emotionalisierter Diskurs die Fähigkeit der Politik beeinträchtigt, kluge Entscheidungen zu treffen, die gut durchdacht und durchkalkuliert sind – zum einen im Hinblick auf ihre Langzeitwirkungen und zum anderen im Hinblick auf die von ihnen induzierten Gegenreaktionen und deren Rückwirkungen. Im Konflikt mit einer aggressiv auftretenden Nuklearmacht sind moralische Spontanreaktionen (“Wut”) subjektiv nachvollziehbar, aber objektiv gefährlich. Vor diesem Hintergrund hielte ich es für ratsam, Maßnahmen zu ergreifen, die den Zukunftshorizont Russlands nicht einfach nur auf alle Ewigkeit verdüstern, sondern ihn – gegebenenfalls auch mit harten Sanktionen, die dann allerdings klar konditioniert sein müssten – so aufhellen, dass wer auch immer Russland regiert nicht das Interesse an einer friedlichen Koexistenz verlieren möge.
(3) Ich möchte drei weitere Überlegungen anfügen, die den strategischen Blickwinkel nochmals erweitern:
Erstens wird öffentlich kaum darüber diskutiert, dass die westliche Klimapolitik von russischer Seite als Generalangriff auf das eigene Wohlstandsmodell interpretiert werden musste. Das dürfte mit dazu geführt haben, dass Putin im Vorfeld der nächsten Präsidentenwahl wieder einmal auf die Kriegskarte gesetzt hat: Zur militärischen Stabilisierung seines Regimes bleibt ihm aus seiner Sicht nicht viel Zeit.
Zweitens ist unterbelichtet, dass wir gegenwärtig Gefahr laufen, Russland in die Hände Chinas zu treiben. Die Wirtschaftssanktionen werden dazu führen, dass Russland seine Rohstoffe vor allem nach China verkaufen muss, so dass China billig an fossile Energie kommt, während wir in Europa unsere De-Industrialisierung weiter beschleunigen.
Drittens wird m.E. viel zu wenig beachtet, dass Russland der weltweit größte Weizenexporteur ist. Warum soll Russland weiterhin z.B. Ägypten mit Weizen beliefern, wenn man mit den Devisen nichts kaufen kann? Im Westen können wir vieles verkraften. Aber wir laufen derzeit Gefahr, das Globalisierungsmodell der letzten 30 Jahre vor die Wand zu fahren. Und das wird vor allem der Bevölkerung in den derzeit noch armen Ländern schaden (und Menschenleben kosten).
(4) Vor diesem Hintergrund bin ich der Auffassung, dass wir für Wirtschaft und Politik im globalen Maßstab nur solche Moralmaßstäbe anlegen sollten, die sich auch nachhaltig durchsetzen lassen. Wir können für uns intern gerne höhere Maßstäbe verwenden. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir Nuklearmächte (wie Russland, China, aber auch Indien) nicht gut gegen ihren Willen zwingen können, die von uns für wünschenswert gehaltenen Standards zu übernehmen. Wir können auf diese Länder allenfalls dadurch Druck ausüben, dass wir mit gutem Beispiel vorangehen und eine Art Sogwirkung entfalten, die die Innenpolitik dieser Länder (und damit indirekt auch ihre Außenpolitik) zu demokratisieren und rechtsstaatlich auszurichten hilft. Aber einen direkten Regime-Change anzustreben, wäre demgegenüber nicht nur wahrscheinlich kontra-produktiv, sondern auch ausgesprochen gefährlich. Ähnliches gilt für die Aufforderung, wirtschaftliche Beziehungen mit allen Ländern abzubrechen, in denen es gravierende Menschenrechtsverletzungen gibt. Die gute Absicht dahinter ist klar zu erkennen. Aber die Konsequenzen wären – gerade unter moralischen Gesichtspunkten – absolut unverantwortbar. Hier gilt das alte Sprichwort: “The road to hell is paved with good intentions.”[14]
IV. Schluss: Beobachtung und Reflexion
Zu Beginn der Corona-Pandemie habe ich – unter Bezugnahme auf die empirische Moralforschung über Tribalisierung – davor gewarnt, dass der Virus eine Bedrohungslage generiert, die in Ermangelung äußerer Feinde dazu führen kann, dass man innere Feinde imaginiert.[15] Damals war von Impfstoffen noch keine Rede. Aber dadurch, dass die tiefe Spaltung der Gesellschaft zwischen Impf(pflicht)befürwortern und Impfgegnern genau diesem Muster folgt, finde ich meine Prognose ziemlich gut bestätigt. Zwar hätte es noch schlimmer kommen können. Aber mir erscheint die gegenwärtige Polarisierung schon schlimm genug, um darüber besorgt zu sein, wie moralische Emotionen auf beiden Seiten die Selbstgerechtigkeit befeuern. (Ich selbst bin geimpft und geboostert und gehöre somit eindeutig zu einem der beiden Lager. Aber genau deshalb möchte ich für ein etwaiges Fehlverhalten meines eigenen Lagers besonders sensibel sein.)
Wenn ich aus der gleichen Ethik-Perspektive (und zudem als überzeugter Anhänger des Westens) auf den öffentlichen Diskurs zum Ukraine-Krieg schaue, kann ich genau jene Muster erkennen, die theoretisch zu erwarten (und zu befürchten) sind. Als nicht direkt Beteiligte nehmen wir im Westen den gegenwärtig kriegerisch ausgetragenen Konflikt in der Ukraine im Schema von Opfern und Tätern wahr und überlagern dies mit dem Schema von Gut und Böse – und genau das kann (trotz offenkundiger Berechtigung) zu exzessiven Übertreibungen führen. Um Allen Buchanan zu zitieren: “When you are in the tribalistic mode, you not only disagree – you denigrate, despise, and even demonize those with whom you disagree. Further, you do not see someone who disagrees with you as an individual, you see them as an enemy unworthy of respect and even of the presumption of rationality.”[16]
Die moralische Dämonisierung Putins als Inkarnation des Bösen sowie die vielfach kolportierte Aussage, er habe offenkundig seinen Verstand verloren, folgt diesem Muster ebenso wie die Neigung, die im Westen lebenden Russen nach dem Kriterium einer vermeintlichen Kollektivschuld in Sippenhaft zu nehmen. Mittlerweile werden sogar diejenigen kritisiert, die den Gesprächsfaden mit Putin nicht abreißen (lassen) wollen. All das halte ich für nicht klug: Es ist zwar moralisch motiviert, aber in den Auswirkungen tendenziell eher unmoralisch. Ich möchte davor warnen, dass wir das zukünftig bereuen werden.
Anhang I
Manchmal ist es hilfreich, zur Illustration nicht auf einheimische Beispiele zu verweisen, sondern auf Phänomene, die sich jenseits der eigenen Grenzen abspielen. Für das deutsch(sprachig)e Publikum mag deshalb aufschlussreich sein, was sich gerade zwischen Regierungen abspielt, deren Länder sowohl Mitglieder der NATO als auch der EU sind.
Hierzu war kürzlich in den Medien Folgendes zu lesen:[17]
“Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat den französischen Präsidenten Emmanuel Macron für die Aufrechterhaltung des Dialogs mit Wladimir Putin kritisiert. Paris hat sich für einen offenen Dialog mit dem russischen Präsidenten über die EU-Sanktionen hinaus ausgesprochen.
Nach Angaben des Elysée-Palastes hat Macron seit Anfang des Jahres mindestens 16 Mal mit Putin gesprochen. Der polnische Ministerpräsident bezeichnete Russland unter Putin als »totalitär-faschistischen Staat« und forderte starke Maßnahmen, »die Putins Kriegsmaschinerie endlich zum Stillstand bringen werden«.
»Präsident Macron, wie oft haben Sie mit Putin verhandelt? Was haben Sie erreicht?«, sagte Morawiecki. »Würden Sie mit [Adolf] Hitler, mit [Joseph] Stalin, mit Pol Pot verhandeln?«, fragte er bei einer Rede in Krakau. …
Unterdessen verteidigte der französische Europaminister die Haltung der Regierung zum Dialog, um eine humanitäre Aktion oder einen Waffenstillstand zu erreichen. »Die Verantwortung Frankreichs, das die Präsidentschaft der Europäischen Union innehat, besteht darin, diese kleine Chance für einen Dialog zu nutzen«, sagte Clément Beaune.
»Das ist keine Komplizenschaft, und wir werden dies auf transparente Weise mit unseren europäischen Partnern tun«, erklärte er”.
Wer aufmerksam hinschaut, wird hier eine moralistische Argumentationslinie ausfindig machen können, die auch in der deutschen Öffentlichkeit ihre Anhänger hat: Mit der Inkarnation des Bösen verhandelt man nicht, weil das Böse unbedingt besiegt werden muss. Kompromisse wären Verrat, und schon die bloße Bereitschaft zum Gespräch verbietet sich als Komplizenschaft.
Als Ethiker kann ich dazu nur sagen: Ein solches Denken ist Teil des Problems, als dessen Lösung es sich ausgibt.
Anhang II
“Wie denkt jemand, wenn er so denkt, wie er denkt?” – Das ist die Forschungsfrage, mit der die Ordonomik die Aufmerksamkeit auf den semantischen Denkrahmen richtet, wenn sie das komplexe Zusammenspiel von Ideen und Institutionen analysiert. Was kann man daraus konkret für den aktuellen Diskurs um den Ukraine-Krieg lernen?
(1) Die Dämonisierung Putins erschwert und verunmöglicht kognitive Empathie, d.h. sie be- und verhindert strategisches Denken. Das verleitet zu Fehlern, die man einer Nuklearmacht gegenüber lieber vermeiden sollte.
Hier ist ein Denkfehler am Werk, den die psychologische Literatur als “Fundamental Attribution Error” bezeichnet. Der Fehler besteht darin, die Aktionen eines Gegners nicht seinen situativen Anreizen zuzurechnen, die man unter Umständen selbst (mit) zu verantworten hat, sondern stattdessen seinem Charakter. Man schreibt dann nicht auf äußere, sondern auf innere Einflussfaktoren zu, also nicht auf die Situation, sondern auf die Person.[18] Die im Westen populäre Parole “Dies ist Putins Krieg” folgt diesem Muster ebenso wie die zunehmend beliebten Spekulationen, Putin habe offensichtlich seinen Verstand verloren.
Um dies anschaulich(er) zu machen, analysiere ich ein konkretes Beispiel: Es betrifft den Diplomaten und Professor für Politikwissenschaften Michael McFaul. Er äußerte sich am 26. Januar 2022 in der Washington Post genau zu der hier interessierenden Frage, ob man auf innere oder auf äußere Faktoren zurechnen solle, wenn man Putins Verhalten verstehen will. Er beginnt mit einer Erläuterung, wie seiner Einschätzung nach im Westen gedacht wird, und dann gibt er zwei Punkte zu bedenken, die faktisch darauf hinauslaufen, jede Hoffnung fahren zu lassen, mit Putin vernünftig verhandeln zu können:
“In the United States, the dominant analytic framework for explaining international relations today is realism. This theory assumes that all countries are the same: unitary actors seeking to maximize their power or security through rational calculations in an anarchic world. The only thing that matters in the world is power – both the power of individual countries and the balance of power among them.
Those deploying this model to explain Russia’s behavior today (not Putin’s because individuals don’t matter to realists) also offer several prescriptions for how to defuse the current Russia-Ukraine crisis: Freeze NATO expansion and Russia will be content. Offer face-saving concessions that give Russia tangible gains and the threat of war will subside. Don’t arm Ukraine because that will fuel escalation and trigger a Russian invasion.
If Putin thought like us, maybe some of these proposals might work. But Putin does not think like us. He has his own analytic framework, his own ideas and his own ideology – only some of which comport with Western rational realism.
… First, Putin believes that the West unfairly dictated the terms of peace at the Cold War’s end. … Now that Russia is powerful again, Putin is prepared to risk a lot to revise this so-called American imperial order, especially in Europe. He sees this mission as his sacred destiny.
Preventing Ukraine from becoming a member of NATO is therefore only one dimension of Putin’s revisionist agenda. Even if Biden and his NATO allies wanted to offer that concession, Putin won’t be satiated. He will press on to undo the liberal international order for as long as he remains in power. Normalizing annexation, denying sovereignty to neighbors, undermining liberal ideas and democratic societies, and dissolving NATO are future goals.
Second, … Putin believes that U.S. support for democracy abroad threatens his autocratic rule. During Putin’s reign, most crises in relations with the United States have been triggered not by NATO expansion, but by democratic mobilizations – Putin calls them “color revolutions” – within countries, be it Georgia in 2003, Ukraine in 2004, the Arab Spring in 2011, Russia in 2011 and Ukraine in 2014.
On this contentious issue, there is no deal to be had between the United States and Russia as long as Putin is in power. U.S. leaders cannot command other societies to stop wanting democracy. Putin will always fear mass protests and feel threatened by democracies, especially successful ones on his border with a shared history and culture such as Ukraine.”[19]
Auch aus ordonomischer Sicht ist die “realistische” Denkschule innerhalb der Politikwissenschaften zu kritisieren.[20] Sie interpretiert internationale Beziehungen als einen reinen Machtkampf zwischen Staaten, hängt damit einem Nullsummendenken an und verkürzt so die Perspektive auf Win-Lose-Optionen. Demgegenüber geht der ordonomische Ansatz davon aus, dass es zahllose Lose-Lose-Optionen kollektiver Selbstschädigung gibt, die sich freilich durch kluge Institutionalisierung (= Governance) in Win-Win-Lösungen überführen lassen.[21]
Aus ordonomischer Sicht ist aber nicht nur die “realistische” Denkschule zu kritisieren, sondern auch die Kritik dieser Denkschule durch McFaul. Die “Realisten” haben eine falsche Auffassung von dem Spiel, als das sie die Internationalen Beziehungen auffassen, und McFaul hat eine falsche Auffassung von den Spielern, mit denen man es hier zu tun hat. Er hält Putin für irrational. Aus ordonomischer Sicht liest sich sein Befund, die US-Außenpolitik müsse alle Hoffnung auf erfolgreiche Verhandlungen mit Putins Russland fahren lassen, als eine aus elementaren Denkfehlern resultierende intellektuelle Bankrotterklärung westlicher Diplomatie.
(2) Wer den fundamentalen Attributionsfehler begeht, entlastet sich von der Frage, was man möglicherweise selbst getan hat, um den Gegner zu Handlungen zu veranlassen, die (völlig zu Recht) als feindlich und illegitim eingestuft werden müssen.
In dieser Hinsicht ist es vielleicht hilfreich, zwei allgemein zugängliche Quellen zu zitieren, die belegen, dass verantwortliche Politiker im Westen davor gewarnt haben, nach 1990 einen Weg zu beschreiten, der in absehbarer Weise dazu führen werde, Russland zu einer feindlichen Haltung zum Westen zu veranlassen.
Zur ersten Quelle: Der Historiker und Diplomat George F. Kennan war maßgeblich daran beteiligt, die Containment-Politik zu konzipieren, mit der die USA während des Kalten Krieges den globalen Einfluss der Sowjetunion zu begrenzen versuchte. Er äußerte am 5.2.1997 in der New York Times seine gravierenden Bedenken gegen die anstehende NATO-Osterweiterung:
“[S]omething of the highest importance is at stake here. And perhaps it is not too late to advance a view that, I believe, is not only mine alone but is shared by a number of others with extensive and in most instances more recent experience in Russian matters. The view, bluntly stated, is that expanding NATO would be the most fateful error of American policy in the entire post-cold-war era.
Such a decision may be expected to inflame the nationalistic, anti-Western and militaristic tendencies in Russian opinion; to have an adverse effect on the development of Russian democracy; to restore the atmosphere of the cold war to East-West relations, and to impel Russian foreign policy in directions decidedly not to our liking. And, last but not least, it might make it much more difficult, if not impossible, to secure the Russian Duma’s ratification of the Start II agreement and to achieve further reductions of nuclear weaponry.
It is, of course, unfortunate that Russia should be confronted with such a challenge at a time when its executive power is in a state of high uncertainty and near-paralysis. And it is doubly unfortunate considering the total lack of any necessity for this move. Why, with all the hopeful possibilities engendered by the end of the cold war, should East-West relations become centered on the question of who would be allied with whom and, by implication, against whom in some fanciful, totally unforeseeable and most improbable future military conflict? …
Russians are little impressed with American assurances that it reflects no hostile intentions. They would see their prestige (always uppermost in the Russian mind) and their security interests as adversely affected. They would, of course, have no choice but to accept expansion as a military fait accompli. But they would continue to regard it as a rebuff by the West and would likely look elsewhere for guarantees of a secure and hopeful future for themselves.”[22]
Zur zweiten Quelle: Gegenwärtig leitet William J. Burns als Direktor den US-Geheimdienst CIA. Im Jahr 2008 war er US-Botschafter in Russland. 2019 hat einer eine Autobiographie veröffentlicht. Darin gibt er über seine Zeit in Moskau Auskunft. Er berichtet, dass er im Februar 2008 eine Nachricht an Condoleeza Rice gerichtet hat, die damalige Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten George W. Bush. In dieser Nachricht warnte er davor, der Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. In seinem Buch sind die relevanten Passagen dieser Nachricht abgedruckt. Ich gebe hier einige Auszüge wieder. Die Abkürzung “MAP” steht für “Membership Action Plan”. Und “throwing down the gauntlet” heißt, jemandem den Fehdehandschuh hinwerfen:
“Ukrainian entry into NATO is the brightest of all redlines for the Russian elite (not just Putin). In more than two and a half years of conversations with key Russian players, from knuckle-draggers in the dark recesses of the Kremlin to Putin’s sharpest liberal critics, I have yet to find anyone who views Ukraine in NATO as anything other than a direct challenge to the Russian interests. At this stage, a MAP offer would be seen not as a technical step along a long road toward membership, but as throwing down the strategic gauntlet. Today’s Russia will respond. Russian-Ukrainian relations will go into a deep freeze. … It will create fertile soil for Russian meddling in Crimea and eastern Ukraine. On Georgia, the combination of Kosovo independence and a MAP offer would likely lead to recognition of Abkhazia, however counter-productive that might be to Russia’s own long-term interests in the Caucasus. The prospects of subsequent Russian-Georgian armed conflict would be high.”[23]
(3) Diese Zitate dienen nicht dazu, den russischen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen, sondern zu erklären. Sie mögen dazu beitragen, die langjährige Entwicklung verständlich zu machen, die – nicht nur die Person Putin, sondern – das System Putin zu dem aktuellen Angriffskrieg veranlasst hat. Aus meiner Sicht verbindet sich damit die Botschaft, dass wir uns im Westen – und zumal in Deutschland – darauf besinnen sollten, nicht aus moralischer Überheblichkeit jene Denkfehler zu prolongieren, die zur aktuellen Krisensituation kausal mit beigetragen haben.
Fussnoten
[1] Vgl. – in dieser Reihenfolge – Pies (2022a), (2022b), (2022c). Vgl. auch die Kurzbeiträge Pies (2022d) und (2022e).
[2] Vgl. als Überblick Pies (2022f) und (2022g).
[3] Vgl. hierzu grundlegend Schelling (1960, 1980). Ähnliche Überlegungen hat bereits Clausewitz (1832-1834, 2010) angestellt. Er macht darauf aufmerksam, dass der Krieg eine ganz bestimmte Art strategischer Reflexion erfordert. Hierzu liest man (S. 3): “[E]s ist hier mehr als irgendwo nötig, mit einem Blick auf das Wesen des Ganzen anzufangen, weil hier mehr als irgendwo mit dem Teile auch zugleich immer das Ganze gedacht werden muß.” – Für die sozialwissenschaftlichen Inspirationsquellen des ordonomischen Forschungsprogramms vgl. Pies (2016).
[4] Vgl. hierzu grundlegend Haidt (2012). – Für die moralische Wahrnehmung des Ukraine-Krieges besonders relevant ist die “dyadische Ethik”. Vgl. Schein und Gray (2018) sowie die populärwissenschaftliche Darstellung von Wegner und Gray (2016). – Die psychologische Literatur warnt vor der gefährlichen Mixtur von confirmation bias, overconfidence und motivated reasoning, die zur kollektiven moral panic führen kann. Vgl. hierzu den psychologisch hellsichtigen Aphorismus von Friedrich Nietzsche (1881; Viertes Buch, Aphorismus Nr. 557): “Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind los marschiert!”
[5] Um ein paar weitere Beispiele anzuführen, die mich intensiv beschäftigt haben: Die prohibitiv ausgerichtete Drogenpolitik der 1990er Jahre wollte die Zahl der Drogentoten reduzieren und erhöhte stattdessen unabsichtlich die Zahl der Prohibitionstoten. Vgl. Hartwig und Pies (1995). Mindestlöhne sind als Instrument Lohnsubventionen unterlegen, weil sie die Arbeitsnachfrage nicht steigen, sondern sinken lassen, was ganz gegen die zugrunde liegende Absicht für die Arbeiter mit gravierenden Nachteilen materieller und immaterieller Natur verbunden ist. Vgl. Pies (2000). Die wütenden Angriffe auf Indexfonds als vermeintliche Todesmacher und die daraus resultierenden Verbotsforderungen hätten die Terminmärkte für Agrarrohstoffe nicht besser, sondern schlechter funktionieren lassen. Vgl. Pies (2018).
[6] Vgl. Friedman (1962, 2002; S. 32 f.). Er vertritt dort die These, dass wirtschaftliche Freiheit (= Marktwirtschaft) für politische Freiheit (= Demokratie) eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist.
[7] Vgl. North et al. (2009).
[8] Ich muss freimütig bekennen, dass es bei mir akute Anfälle intensiven Fremdschämens auslöst, wenn lebenszeitverbeamtete Universitätsprofessoren demokratischen Politikern, deren Arbeitsplatz ja eher einem Schleudersitz gleicht, im Hinblick auf konkrete Spielzüge den Ratschlag erteilen, mutigere Entscheidungen zu treffen und sich über etwaigen Widerstand entschlossener hinwegzusetzen. Aus ordonomischer Sicht verfehlen Wissenschaftler, die besserwisserisch als Möchtegernpolitiker auftreten, ihren Beruf. Wissenschaftskonform hingegen ist es, über jene strukturellen Hindernisse nachzudenken, die vernünftigen Politikoptionen gegenwärtig im Weg stehen – und sie durch öffentliche Aufklärung über bessere Spielregeln abbauen zu helfen. So erklärt sich die ordonomische Ausrichtung gegen Politiker– und für eine allgemeine Politik-Beratung, die nicht an einzelne Führungspersönlichkeiten in Regierung oder Opposition adressiert ist, sondern an die demokratische Öffentlichkeit.
[9] So bereits Sun Zi (o.J., 2007), der antike Klassiker der chinesischen Kriegsliteratur. Für eine Übertragung solchen Denkens auf Überlegungen zum Wirtschaftskrieg vgl. die monumentale Studie von Blum (2020).
[10] Warum eine offene Gesellschaft offene Diskurse braucht, ist mit zeitloser Gültigkeit von John Stuart Mill (1859, 1977) dargelegt worden. Bei ihm liest man (S. 245): “He who knows only his own side of the case, knows little of that.” Übertragen auf das konkrete Problem heißt das, dass der Westen keine rationale Politikstrategie konzipieren und dann auch exekutieren kann, wenn wir die Gegenargumente des Ostens nicht wenigstens zur Kenntnis nehmen. Weiter liest man bei Mill (S. 229): “[T]he peculiar evil of silencing the expression of an opinion is that it is robbing the human race: posterity as well as the existing generation; those who dissent from the opinion, still more than those who hold it. If the opinion is right, they are deprived of the opportunity of exchanging error for truth; if wrong, they lose, what is almost as great a benefit, the clearer perception and livelier impression of truth, produced by its collision with error.” Auch das lässt sich unmittelbar übertragen: Hätten wir – speziell in Deutschland – in den letzten Jahrzehnten einen ernsthaften Diskurs über strategische Fragen der Außen- und Militärpolitik (sowie über Fragen der Klima- und Energiepolitik, der Innovations- und Wachstumspolitik) geführt, stünden wir heute nicht so orientierungslos und prekär da, dass sämtliche Bündnispartner über uns nur den Kopf schütteln. Für den Versuch, einen solchen Diskurs in Gang zu setzen, vgl. den interessanten Ansatz von Weimann (2022). Sein Buch ist unabhängig vom ordonomischen Ansatz entstanden, weist aber in der Sache viele Übereinstimmungen auf, was ich durchaus ermutigend finde. – Aus ordonomischer Sicht bleibt ferner darauf hinzuweisen, dass das aufsehenerregende Diktum von Bundeskanzler Scholz, Deutschland erlebe eine “Zeitenwende”, auf eine geradezu symptomatische Weise extrem irreführend ist. Die reale Welt hat sich durch die Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 wenig geändert. Änderungsbedarf besteht lediglich beim Weltbild derer, die diese Ereignisse als Realitätsschock empfinden.
[11] Vgl. hierzu Anhang I.
[*] Zusatz vom 22.4.2022: Heute, drei Tage nach Veröffentlichung dieses Artikels, erreicht mich eine Nachricht von Prof. Dr. Karl-Heinz Pohl, einem China-Experten, der lange als Sinologe an der Universität Trier tätig war. Danach ist die im Text getätigte Aussage wahrscheinlich nicht korrekt. Richtig ist, dass in China gravierende Menschenrechtsverletzungen an Uiguren begangen werden. Richtig ist auch, dass einige westliche Parlamente (USA, Kanada, Niederlande, Frankreich) diese Menschenrechtsverletzungen als Völkermord kritisiert haben. Allerdings hat es sich in den letzten Jahren eingebürgert, zwei unterschiedliche Begriffe von Völkermord zu verwenden, je nachdem, ob die staatliche Zerstörungsabsicht gegenüber einer Gruppe (a) im weiteren Sinn auf deren kulturelle Identität oder (b) im engeren Sinn auf ihre physische Existenz zielt. Deutsche Gerichte präferieren die weite Begriffsfassung, internationale Gerichte die enge Begriffsfassung. Vor diesem Hintergrund kommen die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages (2021) zu folgender Einschätzung (S. 72, H.i.O.): “Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung deutscher Gerichte lässt sich … die Auffassung rechtlich gut vertreten, dass an den Uiguren in Xinjiang ein Genozid nach Artikel 2 (b), (c) und (e) der Völkermordkonvention begangen wird. Unter Heranziehung des von internationalen Gerichten vertretenen engeren physisch-biologischen Zerstörungsbegriffs wäre dagegen die Annahme eines Genozids mit Blick auf die Situation in Xinjiang wohl abzulehnen.”
[12] Vgl. insbesondere Pies (2022c; S. 3 f.).
[13] Vgl. hierzu Anhang II. – Mein Argument westlicher Selbstkritik läuft darauf hinaus, dass es – trotz guter Absichten – nicht klug ist, sich einem Paranoiker allzu sehr anzunähern, auch wenn man dies mit der Botschaft verbindet, dass er sich über diese Annäherung keine Sorgen machen müsse. Im Zweifelsfall wird sein ungutes Gefühl, verfolgt zu werden, hierdurch nicht abgeschwächt, sondern bestärkt und verstärkt. Im Umgang mit Paranoia empfiehlt sich daher eine ganz andere Vorgehensweise, nämlich die, mögliche Missverständnisse sorgsam zu vermeiden und zuallererst Vertrauen aufzubauen.
[14] Es sei mir hier als Professor der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gestattet, auf eine frühe Quelle hinzuweisen, mit der ein Hallenser Theologie-Professor das international verbreitete Sprichwort letztlich Martin Luther zuschreibt. Hierzu liest man bei Rambach (1730; S. 71): “Mancher Mensch denckt wunder, was er für ein Held sey, wenn er einen guten Vorsatz gefasset hat; allein weil er es auf seine Kräfte anfänget, und nicht mit einer demüthigen Erkenntniß seiner Schwachheit Gott um Verstand ersuchet, so liegt er, ehe er sichs versiehet. Daher wol Lutherus nicht unbillig gesagt: Der Weg zur Höllen sey mit lauter gutem Vorsatz gepflastert.“ – Inhaltlich buchstabiere ich hier nur aus, was Clausewitz (1832-1834, 2010) über das Verhältnis von Krieg und Politik gesagt hat, indem ich es auf das Verhältnis von Krieg und Wirtschaft übertrage. Clausewitz setzt sich mit folgender Position auseinander (S. 467): “Man weiß freilich, daß der Krieg nur durch den politischen Verkehr der Regierungen und der Völker hervorgerufen wird; aber gewöhnlich denkt man sich die Sache so, daß mit ihm jener Verkehr aufhöre und ein ganz anderer Zustand eintrete, welcher nur seinen eigenen Gesetzen unterworfen sei.” Und dann bezieht er mit der These, die ihn weltberühmt gemacht hat, wie folgt Gegenposition (S. 467): “Wir behaupten dagegen, der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel. Wir sagen mit Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas ganz anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch seine Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient … Und wie wäre es anders denkbar? Hören denn mit den diplomatischen Noten je die politischen Verhältnisse verschiedener Völker und Regierungen auf? Ist nicht der Krieg bloß eine andere Art von Schrift und Sprache ihres Denkens? Er hat freilich seine eigene Grammatik, aber nicht seine eigene Logik.” Und weiter heißt es dann (S. 467 f.): “Hiernach kann der Krieg niemals von dem politischen Verkehr getrennt werden, und wenn dies in der Betrachtung irgendwo geschieht, werden gewissermaßen die Fäden des Verhältnisses zerrissen, und es entsteht ein sinn- und zweckloses Ding.” Clausewitz erläutert seine These wie folgt (S. 468): “Diese Vorstellungsart wird doppelt unentbehrlich, wenn wir bedenken, daß der wirkliche Krieg kein so konsequentes, auf das Äußerste gerichtetes Bestreben ist, wie er seinem Begriff nach sein sollte, sondern ein Halbding, ein Widerspruch in sich; daß er als solcher nicht seinen eigenen Gesetzen folgen kann, sondern als Teil eines anderen Ganzen betrachtet werden muß, – und dieses Ganze ist die Politik.“
[15] Vgl. Pies (2020).
[16] Buchanan (2022).
[17] Euronews (2022).
[18] Nisbett (2017): “Our susceptibility to the fundamental attribution error – overestimating the role of traits and underestimating the importance of situations – has implications for everything from how to select employees to how to teach moral behavior.”
[19] McFaul (2022).
[20] Vgl. hierzu ausführlich die ordonomische Dissertation von Frank (2010).
[21] Innerhalb der Ökonomik gibt es – paradigmatisch betrachtet – ein ähnliches Problem: In reaktions-analytischen Modellwelten hat ausnahmslos jede Handlung ihre Opportunitätskosten. Deshalb gilt hier das Motto von Milton Friedman (1975): “There’s no such thing as a free lunch.” In interaktions-analytischen Modellwelten jedoch verhält es sich grundlegend anders. Hier gilt das Motto von Thomas Schelling (1995, 2006; S. 151): “[T]here are free lunches all over just waiting to be discovered or created.” – Gestützt auf Schelling lautet die ordonomische Kritik: Die “realistische” Denkschule ist unrealistisch. Mit ihrem Win-Lose-Denken ist sie zu optimistisch im Hinblick auf das Ausgangsproblem (Lose-Lose) und zu pessimistisch im Hinblick auf das Lösungspotential (Win-Win). Hiermit verbunden ist ein weiteres Problem, auf das man sehr gut mit einem Sprichwort aufmerksam machen kann. Es lautet: “Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.” Die “realistische” Denkschule verleitet zu dem Irrglauben, dass man den Gegenspieler schwächen muss, um selbst stärker zu werden; dass es nützlich ist, ihm aktiv zu schaden. Solche Aktionen nötigen den Gegenspieler seinerseits zum Nullsummendenken – und zu entsprechenden Handlungen. Insofern läuft man hier Gefahr, unwillentlich genau jene Phänomene von Misstrauen und Missgunst allererst hervorzubringen, die dann nachträglich als bestätigende Instanz für die “realistische” Denkschule interpretiert werden. Die Ordonomik zieht hieraus folgende Lektion: Gerade weil das subjektive Weltbild die objektive Welt mit gestaltet, muss man auf die Funktionalität des eigenen Weltbildes besonders Acht geben und für die relevanten Alternativen entsprechende Folgeabschätzungen durchführen, deren Bewertung sich am moralischen focal point orientiert, menschliches Leid zu lindern und zivilisatorischen Fortschritt zu fördern.
[22] Kennan (1997).
[23] Burns (2019; S. 233).
Literatur
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Der Autor
Prof. Dr. Ingo Pies
Prof. Dr. Ingo Pies, Jg. 1964, ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dort arbeitet er an einem “ordonomischen” Forschungsprogramm. 2022 sind hierzu im Wissenschaftlichen Verlag Berlin (wvb) zwei Bücher von ihm erschienen: (a) Kapitalismus und das Moralparadoxon der Moderne; (b) 30 Jahre Wirtschafts- und Unternehmensethik: Ordonomik im Dialog.