- Einleitung
Die Wirtschaftsethik verständigt sich seit geraumer Zeit mit anderen Bereichsethiken, etwa der Umweltethik, der Politikethik und der Rechtsethik. In der Informationsgesellschaft entsteht die Informationsethik (vgl. Kuhlen 2004). Diese befasst sich mit Verhaltensweisen wie Mobbing und Denunziation im Netz ebenso wie mit dem Verlust der informationellen Autonomie (vgl. Bendel 2012a). Im vorliegenden Beitrag werden Wirtschafts- und Informationsethik in einen Zusammenhang gestellt. Ausgehend von Einteilungen aus beiden Bereichsethiken werden gemeinsame Themen benannt. Am Beispiel der Industrie 4.0 zeigt der Verfasser in aller Kürze, wie sich die Bereichsethiken der moralischen Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven annehmen.
- Die Informationsethik im Zentrum
Die Informationsethik hat die Moral der Informationsgesellschaft zum Gegenstand. Sie untersucht, wie wir uns, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und neue Medien anbietend und nutzend, in moralischer Hinsicht verhalten bzw. verhalten sollen (vgl. Bendel 2012b). Das sogenannte Ethik-Ei (vgl. Bendel 2013, S. 530ff.) illustriert, wie die Bereichsethiken an die Informationsethik heranrücken, mit dieser als Zentrum und Referenz. Es werden Beispiele der Schnittmengen von Wirtschafts- und Informationsethik aufgeführt, etwa Manipulation durch Suchmaschinen, Hochfrequenzhandel (High-Frequency Trading) und virales Marketing. Hinzufügen könnte man Wirtschaftsspionage mit Hilfe elektronischer Mittel und Monopolisierung im Bereich der Informationstechnologie (IT).
Die Schnittmengen entstehen durch die Diffusion der Informations- und Kommunikationstechnologien in die entsprechenden Bereiche. Es ist also die Wirtschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, die eine neue Wirtschaftsethik ebenso notwendig macht wie deren Zuwendung zur Informationsethik. Dabei besitzen und behalten die Bereichsethiken unterschiedliche Perspektiven: Die Wirtschaftsethik interessiert sich für die Moral in der auf IKT und Informationssystemen (IS) basierenden und sich auf diese beziehenden Wirtschaft, die Informationsethik (und mit ihr die Technikethik) für die Moral der auf Wirtschaftlichkeitserwägungen und Ökonomieprinzipien basierenden Informationsgesellschaft.
- Themen der Wirtschafts- und Informationsethik
Wirtschafts- und Informationsethik können differenziert und systematisch nach Gemeinsamkeiten untersucht werden. Im Folgenden wird zunächst aus der Wirtschaftsethik, dann aus der Informationsethik heraus argumentiert, wobei jeweils die Sichtweise der korrespondierenden Bereichsethik mit aufgenommen wird.
3.1 Perspektive der Wirtschaftsethik
Als „Spezialthemen“ der Wirtschaftsethik können nach Pieper (2007, S. 99) u.a. „Theorien ökonomischer und ethischer Werte“, „Möglichkeiten einer Beschränkung ökonomischer Macht“, „ökonomische und ethische Güterlehre“, „ethische Verpflichtungen in der freien Marktwirtschaft“, „Legitimation zweckrationalen und technokratischen Handelns“, „ökonomische und moralische Kompetenz“ und „Modelle einer integrativen Wirtschaftsethik“ identifiziert werden. Göbel erkennt auf der Mikroebene der Wirtschaftsethik Konsumentenethik, Produzentenethik und Investorenethik und damit die entsprechenden Akteure (vgl. Göbel 2010, S. 88ff.). In die genannten Spezialthemen können informationsethische Fragestellungen hineininterpretiert werden, etwa im Zusammenhang mit der Beschränkung ökonomischer Macht und der Legitimation technokratischen Handelns. Manche der Themen werden im Bereich des Politischen und Sozialen angesiedelt sein, andere in der (Wirtschafts-)Informatik und der korrespondierenden Industrie (Bendel 2014a). Die Beschränkung ökonomischer Macht ist mit Konsumentenethik, Produzentenethik und Investorenethik gleichermaßen verknüpft (vgl. ebd.). Wenn soziale, partizipative Medien, die man zu den Neuen Medien und den IS rechnen darf, die Wünsche und Belange von Personen und Gruppen zu kanalisieren und ihren Einfluss zu verstärken vermögen, etwa durch einfach zu bedienende Elemente und Interaktions- und Transaktionsmöglichkeiten aller Art, wie Like-Buttons und Micropayment-Systeme, ist man bei der (Wirtschafts-)Informatik und mithin Themen der Informationsethik angelangt.
Göbel betritt nicht nur die Mikroebene der Wirtschaftsakteure, sondern auch die Makroebene der Rahmenordnung und die Mesoebene der Unternehmensethik (vgl. Göbel 2010, S. 94ff.). Auf der Makroebene interessiert sie sich, in moralischer Hinsicht, für die wirtschaftlichen Institutionen, die Marktwirtschaft, die staatliche und überstaatliche Rahmenordnung. Interessiert könnte man überdies sein an der Informationsgesellschaft und der darauf aufbauenden Wissensgesellschaft (vgl. Bendel 2014a), mitsamt der Wissensökonomie und der Wissensarbeit (vgl. Reinmann 2009, S. 7ff.). Schon wäre man wieder mitten im Schnittbereich von Wirtschafts- und Informationsethik. Auf der Mesoebene behandelt Göbel die Moralfähigkeit von Unternehmen (als Organisationen) und die Verantwortung der Mitarbeitenden. Spezifischer könnte man nach der Moralfähigkeit von IT-Unternehmen fragen und nach der Mitverantwortung der für diese arbeitenden Informatiker und Wirtschaftsinformatiker, auch im Verhältnis zu den für sie geltenden Kodizes (vgl. Bendel 2014a).
Burkatzki und Altholz (2011) bringen im „Problemaufriss“ eines Herausgeberbands den Begriff der Unternehmensethik mit den Phänomenen der Informationsgesellschaft und des Informationszeitalters zusammen. Auf deskriptiv-analytischer Ebene gelte es zu untersuchen, „welche Regeln im Umgang mit Informationsgütern in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen steuerungswirksam sind“ (Burkatzki/Altholz 2011, S. 22). „Aus unternehmensethischer Perspektive interessiert hier im Besonderen, an welcher Stelle der unternehmerische Umgang mit Informationsgütern primär an Gesichtspunkten der ökonomischen Realität orientiert ist.“ (ebd.) Weiter gehe es darum, „bestehende Regeln auf mögliche Legitimitätsdefizite hin zu prüfen“ (ebd.) „Unternehmensethisch relevant werden Regeln der Erfassung, Verarbeitung und Weitergabe personenbezogener Informationen dabei insbesondere dort, wo etablierte Strategien eines ökonomisch-rationalen Umgangs mit Informationsgütern unter den gegebenen Rahmenbedingungen problematische Externalitäten im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht von legitimen Stakeholdern … erzeugen.“ (ebd.) In der Ausdrucksweise der Informationsethik weisen die Autoren also u.a. auf die informationelle Autonomie hin.
3.2 Perspektive der Informationsethik
Bei Bendel (2012a) werden mehrere Dutzend informationsethische Themenbereiche vorgestellt, die zum Teil auch wirtschaftsethische sind, die Einschränkung der Informationsfreiheit, die Dominanz ingenieurwissenschaftlichen Denkens, die Gefahren durch Automatismen und Manipulationen, die unter anderem von Anbietern und Betreibern stammen, die Abhängigkeit von IT-Unternehmen und IT sowie die Macht der IT-Konzerne, um nur ein paar zu nennen (vgl. Bendel 2012a und 2014a). Die Themen weisen eine Nähe zur Wirtschaftsinformatik auf. Besonders deutlich wird dies bei der Beleuchtung der „scheinbaren Prozessoptimierung“, bei der sich informations- und wirtschaftsethische Aspekte ergeben und deren Urheber die Wirtschaftsinformatiker und Betriebswirtschaftler sind; etliche Prozesse werden nach Bendel (2012a, S. 21ff.) effizienter, aber nicht effektiver, worunter Einzelne und Gesellschaften leiden mögen.
Wenn man die Informationsethik nach Capurro in Computer-, Netz- und Medienethik untergliedert oder nach Bendel (2014c) in „Computer-, Netz- und Neue-Medien-Ethik“, kann man die Internet- und IT-Firmen und ihre Kunden, die Netzbetreiber und -nutzer sowie die Medien und die Leser und Zuschauer ins Visier nehmen und insgesamt alle Marktteilnehmer auf diesen Gebieten, womit die Wirtschaftsethik gefragt ist (vgl. Bendel 2014a). Auch die im Kontext der Informationsethik von Kuhlen definierten Akteursgruppen sind teilweise marktnah und -bestimmend, wie Urheber und Künstler, Wissenschaft und Technik sowie – hier tauchen spätestens die Wirtschaftsakteure von Göbel auf (vgl. Göbel 2010, S. 88ff.) – Nutzer und Verbraucher (vgl. Kuhlen 2004, S. 60ff.).
- Wirtschafts- und Informationsethik in der Industrie 4.0
Als wesentliche Faktoren der Industrie 4.0 kann man Automatisierung, Autonomisierung, Flexibilisierung und Individualisierung sowie Vernetzung bestimmen (Bendel 2014c), zur Verbesserung von Effektivität und Effizienz. Automatisierung mit ihren Anfängen in der Antike ist ein weites Feld. Relevant im vorliegenden Kontext ist vor allem die Automatisierung in der Digitalisierung, die computer- und chipgesteuerte Herstellung von Bedienungsfreiheit. Autonomisierung meint die zunehmend selbstständige Funktion und Kooperation von (spezialisierten und generalistischen) Robotern und cyber-physischen Systemen. Flexibilisierung ist gegeben, wenn just in time auf Anforderungen reagiert werden kann, auch auf spezielle, die wiederum mit der Individualisierung entstehen. Die Vernetzung umfasst Systeme (Produktionsanlagen, Industrie- und Serviceroboter sowie cyber-physische Systeme), Menschen (Manager, Angestellte, Arbeiter, Kunden in Wertschöpfungsprozessen) und Dinge (Internet der Dinge).
Automatisierung ist ein alter Gegenstand der Wirtschaftsethik; diese fragt nach der Ersetzung, aber auch nach der Unterstützung von Arbeitskräften. Die Informationsethik ist ebenso relevant, wenn Ersetzung und Unterstützung mit Digitalisierung zusammenhängen. Die Autonomisierung (in der Digitalisierung) wird seit einiger Zeit von Informations- und Technikethik untersucht. Die Wirtschaftsethik kann sich ihr unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlich verträglicher Entscheidungen in der Wirtschaftswelt nähern. Beide sind mit der Verdrängung menschlicher Autonomie durch maschinelle in der modernen Ökonomie befasst, so wie es bei Algorithmic und High-Frequency Trading der Fall ist. Flexibilisierung und Individualisierung in der Digitalisierung können dazu beitragen, dringend benötigte Produkte schnell auf den Markt bzw. zum Kunden zu bringen, was sowohl Leiden mindern als auch Lust erzeugen kann. Zugleich belasten in großer Zahl hergestellte Gegenstände die Umwelt, was Thema der Umweltethik sein kann. Die Vernetzung schließlich fordert die Wirtschaftsethik wegen der wechselseitigen Abhängigkeiten in der Wertschöpfungskette und die Informationsethik wegen der omnipräsenten Möglichkeiten von Datenabflüssen und -missbräuchen heraus.
- Ausblick
In fortführenden Arbeiten müssen weitere Themen aufgespürt werden. Zudem gilt es die Zuständigkeiten zu klären und die Konsequenzen zu ziehen, nicht zuletzt aus wissenschaftstheoretischen und -ökonomischen Gründen. Sollen beide Bereichsethiken unabhängig voneinander ähnliche Fragen beantworten, unter Wahrung ihrer Perspektive? Sollen sie sich annähern, gemeinsame Positionen und Aktivitäten ein- bzw. aufnehmen? Als sicher kann gelten, dass die angewandte Ethik sich in Zukunft immer mehr solchen moralischen Fragen zu widmen hat, welche die Bereitstellung und die Nutzung von IKT, IS und Geräten respektive Maschinen aller Art – von Datenbrillen (Bendel 2014b) über private und wirtschaftliche Drohnen (Bendel 2015) bis hin zu selbstständig fahrenden Autos – betreffen. Viele Wirtschaftsethiker müssen sich neu orientieren, und manche haben es bereits getan.
Literatur
Bendel, O. (2015): Private Drohnen aus ethischer Sicht: Chancen und Risiken für Benutzer und Betroffene, in: Informatik-Spektrum, 14. Februar 2015 („OnlineFirst“-Artikel auf SpringerLink).
Bendel, O. (2014a): Die Moral der Informationsgesellschaft: Für eine Renaissance der Informationsethik und eine Stärkung der Technologiefolgenabschätzung, in: Bellucci, Sergio / Bröchler, Stephan / Decker, Michael et al. (Hg.). Vordenken – mitdenken – nachdenken: Technikfolgenabschätzung im Dienst einer pluralistischen Politik. Reihe Gesellschaft – Technik – Umwelt, Berlin.
Bendel, O. (2014b): Die Datenbrille aus Sicht der Informationsethik: Problemanalysen und Lösungsvorschläge, in: Informatik-Spektrum, 13. September 2014 („Online-First“-Artikel auf SpringerLink).
Bendel, O. (2014c): Industrie 4.0, in: Gabler Wirtschaftslexikon, Wiesbaden, über: http://tinyurl.com/q4j5jsl.
Bendel, O. (2014d): Informationsethik, in: Kurbel, K. / Becker, J. / Gronau, N. et al. (Hg.). Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik. 8. Aufl., München 2014, über www.enzyklopaedie-der-wirtschaftsinformatik.de.
Bendel, O. (2013): Die Medizinethik in der Informationsgesellschaft: Überlegungen zur Stellung der Informationsethik, in: Informatik-Spektrum, 6 (2013) 36, S. 530-535.
Bendel, O. (2012a): Die Rache der Nerds, Konstanz/München.
Bendel, O. (2012b): Informationsethik, in: Gabler Wirtschaftslexikon, Wiesbaden. http://tinyurl.com/m3hr5tf, Zugriff 17.02.2015.
Burkatzki, E. – Altholz, V. (2011): Unternehmensethik im digitalen Informationszeitalter: Ein Problemaufriss, in: Löhr, A. – Altholz, V. – Burkatzki, E. (Hg.) (2011): Unternehmensethik im digitalen Informationszeitalter, München/Mering, S. 11-28.
Göbel, E. (2010): Unternehmensethik: Grundlagen und praktische Umsetzung,
Stuttgart.
Höffe, O. (2008): Lexikon der Ethik. 7. neu bearbeitete und erweiterte Auflage.
Kuhlen, R. (2004): Informationsethik: Umgang mit Wissen und Informationen in elektronischen Räumen, Konstanz.
Pieper, A. (2007): Einführung in die Ethik. 6. Auflage, Tübingen/Basel.
Reinmann, G. (2009): Studientext Wissensmanagement, Augsburg: Universität Augsburg, über: http://tinyurl.com/yj9ee82, Zugriff 17.02.2015.
WKWI; GI FB WI – Wissenschaftliche Kommission Wirtschaftsinformatik; Gesellschaft für Informatik, Fachbereich Wirtschaftsinformatik (2013): Profil der Wirtschaftsinformatik, in: Kurbel, K. . – Becker, J. . – Gronau, N., et al.
(Hg.): Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik. 7. Auflage, München, über: www. enzyklopaedie-der-wirtschaftsinformatik.de, Zugriff 31.12.2013.
www.gi.de www.s-i.ch.
Der Autor
Prof. Dr. Oliver Bendel
lehrt und forscht als Professor für Wirtschaftsinformatik an der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, mit den Schwerpunkten E-Learning, Wissensmanagement, Social Media, Mobile Business, Wirtschaftsethik, Informationsethik und Maschinenethik. Mehr über www.oliverbendel.net.
oliver.bendel@fhnw.ch