Prof. Dr. Peter Ulrich
1. Womit befasst sich moderne Führungsethik?
Traditionelle Führungsethik hat fast nur tugendethische Charakter- und Verhaltensanforderungen an gute Führungspersönlichkeiten formuliert. Moderne Führungsethik fragt viel umfassender nach normativen Grundsätzen für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Ausgangspunkt ist die asymmetrische Rollen- und Machtverteilung in hierarchischen Organisationen. Komplex-arbeitsteilige Gebilde wie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen oder auch Non-Profit-Organisationen sind und bleiben – trotz aller Tendenzen zu flacheren Organisationshierarchien – Formen effizienter “Herrschaftsausübung” (Weber 1972, S. 128). Ohne hierarchische Weisungsbefugnisse von “Vorgesetzten” gegenüber “Untergebenen” wäre eine spezifische Führungsethik gegenstandslos. Sie setzt deren funktionale Notwendigkeit grundsätzlich als gegeben voraus, fragt jedoch nach den normativen Voraussetzungen und Grenzen zumutbarer Führungsformen und Anweisungen unter dem moralischen Gesichtspunkt des Respekts vor dem humanen Eigenwert der Mitarbeitenden als Personen.
Führungsethik kann demnach verstanden werden als kritisch-normative Reflexion darüber, wie die Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden menschenwürdig und fair gestaltet werden sollen. Sie befasst sich mit den ethischen Fragen der Legitimation (Berechtigung), der Limitation (Begrenzung) und der verantwortungsvollen Ausübung der Weisungsbefugnisse (Verfügungsmacht) von Führungskräften im Lichte der unantastbaren personalen Würde und der berechtigten Ansprüche der Geführten.
Angesichts der praktischen Bedeutung des Führungsphänomens wäre zu erwarten, dass Führungsethik einen Brennpunkt managementethischer und -theoretischer Erörterungen darstellt. Dem ist jedoch nicht so. Die systematisch ansetzende Fachliteratur bleibt auch international erstaunlich überschaubar (z. B. Ciulla 1995; Kanungo/Mendonça 1996; Ulrich 1998/1999; Kuhn/Weibler 2012). Wenig entwickelt ist die führungsethische Reflexion generell in der betriebswirtschaftlichen Literatur zur Mitarbeiterführung. Es dominiert nämlich noch immer die harmonistische Vorstellung, nur ein menschlich guter Umgang mit Mitarbeitenden sei erfolgbringend, woraus vermeintlich der pauschale Umkehrschluss gezogen werden kann, erfolgreiche Führung sei per se ethisch qualifiziert (vgl. dazu Kuhn/Weibler 2012, S. 11 ff.).
2. Eigenwert und “Nutzen” von Führungsethik
Führungsethik ist kein Führungsinstrument! Ihr praktischer “Wert” liegt vielmehr darin, Führungskräften tragfähige normative Orientierungen eines ethisch legitimen und verantwortungsbewussten Umgangs mit Mitarbeitenden aufzuzeigen: Führungsethik bietet kritisch-normatives Orientierungswissen, nicht instrumentelles Verfügungswissen (Mittelstraß 1982, S. 19 f.). Gerade damit sie diese praktische Funktion erfüllen kann, hat die Begründung ihrer normativen Leitideen unabhängig von ökonomischen Kalkülen zu erfolgen.
Gleichwohl brauchen ethisch begründete Führungskonzepte und -maßnahmen keineswegs auf Kosten der betriebswirtschaftlichen Effektivität und Effizienz zu gehen. Obschon der Respekt vor der Persönlichkeit jedes Mitarbeiters um seiner selbst willen geboten ist, erweisen sich entsprechende führungsethische Grundsätze zunehmend auch als betriebswirtschaftlich klug, gerade weil damit der Conditio humana in realistischer Weise “Rechnung” getragen wird. Nur dürfen diese funktionalen Nützlichkeitsgesichtspunkte nicht mit der normativen Begründung von Führungsethik vermischt oder verrechnet werden. Die Konzeption einer integrativen Führungsethik, die auf die systematische Vermittlung von Ethik und betriebswirtschaftlicher Erfolgslogik ohne Preisgabe vorrangiger ethischer Ansprüche zielt, setzt zweistufig an:
(1) Auf der ersten Stufe werden die unbedingt zu wahrenden normativen Voraussetzungen und Grenzen legitimer Führungsmethoden bestimmt; sie stellen gleichsam den normativen Unterbau jeder ethikbewussten Führungskonzeption dar. Es geht dabei um die Bestimmung der Grundsätze, deren Einhaltung stets und unter allen Umständen geboten ist. Hier sind funktionale Nutzenargumente nicht zulässig, denn die unbedingte Wahrung der personalen Würde aller Betriebsangehörigen soll ja gerade auch dort sichergestellt sein, wo dies betriebswirtschaftlich mit der Inkaufnahme von Kosten verbunden ist.
(2) Erst auf der zweiten Stufe geht es um kluges Human Resources Management, das den inneren Zusammenhang zwischen normativen und funktionalen Voraussetzungen erfolgreicher Führung nutzt. Solche Synthesen von Humanität und Effektivität sind grundsätzlich möglich, da Leistung an sich ja nichts “Unmenschliches” ist, sondern selbst einen wesentlichen Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung darstellt. Besonders bei qualifizierten Mitarbeitenden ist die Anerkennung ihrer Subjektqualität zugleich die Basis für die nachhaltige Entfaltung ihrer Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft (Motivation). Dennoch decken sich ethische und betriebswirtschaftliche Gesichtspunkte nicht in jeder Situation, weshalb es ihr Verhältnis stets im Auge zu behalten gilt.
Der fortschreitende Strukturwandel der Arbeit erleichtert teilweise die Integrationsaufgabe der zweiten Stufe: Personengebundene Fähigkeiten wie Kreativität und Problemlösungsfähigkeit, Selbständigkeit und Selbstverantwortung, Kooperations- und Kritikfähigkeit gewinnen in dem Maß an immer mehr Arbeitsplätzen an betriebswirtschaftlicher Bedeutung, wie unpersönlich zu erfüllende, das heißt vollständig objektivierbare Aufgaben automatisiert, also von Robotern oder Computern erledigt werden und damit letztlich das “Humankapital” einer Unternehmung über ihre Wettbewerbsfähigkeit entscheidet.
3. Moderne Ethik und das führungsethische Grundproblem
Moderne Ethik ist aus praktisch-philosophischer Perspektive als humanistische Vernunftethik zu verstehen. Sie begründet ihre normativen Orientierungen letztlich von den allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Würde her. Deren Grundlage ist der Subjektcharakter der Person, das heißt die spezifisch humane Veranlagung, autonomes Subjekt eines freien Willens, ein “Ich”, zu sein. Den “unantastbaren” Subjektstatus, den wir als mündige Personen für uns selbst in Anspruch nehmen, können wir allen anderen Wesen, in denen wir ein human being erkennen, ohne Selbstwiderspruch oder Zynismus nicht aberkennen. Damit ist eine vernünftigerweise nicht abweisbare Grundnorm humanistischer Ethik aufgedeckt: Es geht um die allgemeine und unbedingte wechselseitige Anerkennung der Personen als “Wesen gleicher Würde” (Höffe 1980, S. 113) und um die sich daraus ergebenden moralischen Rechte und Pflichten im wohlgeordneten Zusammenleben der Menschen. Der vernunftethische Standpunkt der Moral lässt sich reflexiv einsichtig machen aus der allgemeinen “normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit” (Ulrich 2016, S. 45 ff.).
Das führungsethische Grundproblem liegt folglich in der Klärung der besonderen Voraussetzungen zur Wahrung der reziproken (symmetrischen) zwischenmenschlichen Anerkennung von Vorgesetzten und Mitarbeitern als “Wesen gleicher Würde” unter den asymmetrischen Kooperationsbedingungen hierarchischer Organisation. Den Ansatzpunkt bildet das gedankliche Auseinanderhalten der Person und der Funktion, die Mitarbeitende als Rollenträger in der Organisation ausüben (Abb. 1).
Als Rollenträger sind Mitarbeitende (Human-)”Ressource” oder “Produktionsfaktor” und damit Mittel zum Zweck der Verwirklichung der Unternehmensziele, dessen ökonomischer “Wert” (Nutzen) von seinem Leistungsbeitrag abhängt und dementsprechend “entschädigt” wird. Als Personen sind sie hingegen stets in ihrem humanen Eigenwert zu respektieren. Auch in der Arbeitswelt soll das menschliche Subjekt nie zum Objekt totaler Fremdbestimmung entwürdigt werden. Genau diesen unbedingten Vorrang des humanen “Selbstzwecks” vor allen Mittel-Zweck-Kalkülen hat schon Immanuel Kant (1785, BA 66 f.) in der sogenannten Selbstzweckformel seines kategorischen Imperativs auf den Punkt gebracht:
“Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.”
Die Kant’sche Zweckformel ist für die Führungsethik deshalb besonders hilfreich, weil sie die Indienstnahme von Personen für unternehmerische Zwecke keineswegs ausschließt, soweit sie dabei nicht restlos zum “bloßen” Mittel instrumentalisiert und damit ihrer Subjektqualität entfremdet werden. Das bedeutet, dass Führungsethik sich nicht gegen jegliche Sozial- und Führungstechnik wendet, sondern nur gegen Tendenzen einer technokratischen Verabsolutierung von Funktionalität und Effizienz im Umgang mit dem arbeitenden Menschen. So gesehen hat Führungsethik die Rahmenbedingungen zu reflektieren und zu bestimmen, innerhalb derer führungstechnische Methoden zur zielorientierten Verhaltenssteuerung und Kontrolle der Mitarbeiter legitim sind.
4. Die Legitimation von Führung
Legitimationsfragen beziehen sich auf die normative Anerkennungswürdigkeit und Verbindlichkeit sozialer Ordnungen (Weber 1972, S. 16 ff.). In einer modernen, freiheitlich-demokratischen Gesellschaft lässt sich die Legitimität der hierarchischer Unterordnung bestimmter Personen unter die Weisungsbefugnisse anderer grundsätzlich nur aus der freien Willenserklärung und Zustimmung (Konsens) der Betroffenen selbst begründen, denn nur so kann dem ethischen Grundanspruch der wechselseitigen Anerkennung freier Personen entsprochen werden. Auch im Führungsverhältnis ist und bleibt das grundsätzliche Einverständnis der Mitarbeitenden mit den Führungsmaßnahmen das allgemeine Legitimitätskriterium (konsensuelle Legitimation). Daraus folgen ohne weiteres zwei spezielle Legitimitätsbedingungen von Führung:
- Vertragliche Konstitution von Weisungsbefugnissen: Verfügungsrechte von Vorgesetzten über Mitarbeiter sind nur im Rahmen einer freien Übereinkunft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Arbeitsvertrag) begründbar – und damit stets auch kündbar.
- Limitation von Weisungsbefugnissen: Verfügungsrechte von Vorgesetzten erstrecken sich niemals auf die ganze Person des Mitarbeiters, sondern sind auf das arbeitsvertraglich definierte Pflichtenheft im Rahmen einer bestimmten Funktion begrenzt.
Was den Arbeitsvertrag von jedem anderen Vertrag unterscheidet, ist seine besondere Konsequenz für die Relation zwischen den zunächst gleichberechtigten Vertragspartnern: Inhalt des Vertrags ist gerade der partielle Verzicht des Arbeitnehmers auf seine Autonomie und Gleichrangigkeit, indem er sich dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterstellt. Aus der formalen Gleichberechtigung der Partner des Arbeitsvertrags wird also die – wenn auch begrenzte – Subordination des Arbeitnehmers unter die Weisungsbefugnisse des Arbeitgebers legitimiert. Aus der resultierenden partiellen Abhängigkeit des Mitarbeiters begründet sich ein besonderes Schutzbedürfnis seiner Persönlichkeit. Diesem kann grundsätzlich auf zwei Wegen entsprochen werden: zum einen mit der Gewährleistung unantastbarer Grundrechte der Mitarbeitenden im Betrieb, zum andern mit der Stärkung ihrer Subjektstellung durch die – hier nicht zu behandelnde – umfassende Humanisierung der Arbeitswelt (vgl. zu deren führungsethischer Relevanz Ulrich 1999).
5. Die Gewährleistung unantastbarer Mitarbeiterrechte
Die Gewährleistung allgemeiner Grundrechte (Menschen- und Bürgerrechte) ist für eine moderne, offene, freiheitlich-demokratische Gesellschaft konstitutiv; deshalb steht sie am historischen Anfang der liberalen und demokratischen Revolutionen. Während herkömmliche Konzepte inhaltlich bestimmter Grundwerte nur allzu leicht die Wertvorstellungen der gesellschaftlich “führenden” Kreise in den Status einer allgemeinverbindlichen Weltanschauung und Lebensform erheben, sind Grundrechte emanzipatorisch ausgerichtet (Kappler 1980; Werhane 1985). Sie gewähren über alle interkulturelle Diversität der Wertvorstellungen hinweg die gleiche Grundfreiheit und Chancengleichheit aller Personen und bilden so die Basis für den freien Meinungs- und Güteraustausch sowie für die faire Lösung von Konflikten, letztlich also für ihr friedliches und gerechtes Zusammenleben.
Die Relevanz der Grundrechtsidee für eine moderne Führungsethik ist offenkundig: Grundrechte bedürfen überall dort des besonderen Schutzes, wo Menschen sich in Abhängigkeit befinden. Die Festlegung unantastbarer Mitarbeiterrechte erfüllt die Funktion, die unverzichtbare Begrenzung der Weisungsbefugnisse von Vorgesetzten im ganzen Unternehmen einheitlich und eindeutig zu gewährleisten, selbst wenn dieses international tätig ist und damit der interkulturellen Diversität begegnet. Es geht dabei – analog zur Unterscheidung von elementaren Menschenrechten und darüber hinausgehenden Bürgerrechten – um den Schutz des Vorrangs zweier Kategorien von Mitarbeiterrechten vor betriebswirtschaftlichen Nutzenüberlegungen: a) elementare Persönlichkeitsrechte, b) organisations- und wirtschaftsbürgerliche Rechte.
a) Elementare Persönlichkeitsrechte
Hierzu sind alle Grundrechte zu zählen, die für den Schutz der Menschenwürde und der Persönlichkeit fundamental sind und deren Geltung deshalb rechtsstaatlich gewährleistet ist oder es sein sollte. Ihre Verankerung in organisatorischen Regelungen dient insofern der Bekräftigung und Präzisierung ihrer konkreten Bedeutung in der Arbeitswelt. Dazu gehören in erster Linie drei Grundrechte:
- Physische und psychische Unantastbarkeit der Person: Schutz vor willkürlicher oder diskriminierender Behandlung und autoritärer Missachtung der Persönlichkeit, vor sexueller Belästigung, vor inhumanen Arbeitsbedingungen und vor der Ausübung psychischen Drucks jeder Art, wie zum Beispiel der menschenverachtenden, oft krankmachenden Schikane (Mobbing) einzelner Personen durch Kollegen oder Vorgesetzte.
- Schutz der Privatsphäre: Die Autonomie und Privatsphäre des Mitarbeiters dürfen außerhalb seiner (arbeitsvertraglich begründeten) funktionalen Pflichten nicht tangiert werden. Über seine Weltanschauung und Lebensform, seine Freizeitaktivitäten und politischen Engagements ist er den Vorgesetzten keine Rechenschaft schuldig, soweit daraus nicht unmittelbare und erhebliche Nachteile für den Arbeitgeber entstehen. Besondere Bedeutung kommt dem Datenschutz im Betrieb zu. Die Aufzeichnung und Sammlung nicht betriebsnotwendiger Personaldaten ist ebenso zu unterlassen wie die Weitergabe firmenintern benötigter Personaldaten an Dritte. Jedem/r Mitarbeitenden ist das Einsichtsrecht in die über ihn/sie festgehaltenen Informationen zu gewährleisten. Als grundrechtswidriger Eingriff in die Privatsphäre ist auch die heimliche Überwachung, beispielsweise das Abhören von Telefongesprächen, zu werten, soweit nicht besondere, schwerwiegende Gründe vorliegen (wie z. B. Kriminalitätsverdacht).
- Schutz vor Diskriminierung und Willkür: Ethnische und soziale Herkunft, Nationalität, Geschlecht, Religion, Weltanschauung und persönliche Überzeugungen dürfen auch in der Arbeitswelt keine Kriterien systematischer oder willkürlicher Privilegierung beziehungsweise Benachteiligung sein. Vielmehr sollen für alle Mitarbeitenden die gleichen sachlichen Kriterien der Leistungsbeurteilung, -honorierung, Beförderung oder Entlassung gelten. Es geht hier also um das Recht auf sachliche Gleichbehandlung und Chancengleichheit aller Betriebsangehörigen, insbesondere von Minoritäten jeder Art.
b) Organisations- und wirtschaftsbürgerliche Rechte
Der Begriff des “Institution Citizen” (Nielsen 1984), “Organisationsbürgers” (Steinmann/Löhr 1994, S. 162 f.) oder allgemeiner “Wirtschaftsbürgers” (Ulrich 2016, S. 282 f.) überträgt den Anspruch staatsbürgerlicher Freiheits-, Informations- und Partizipationsrechte auf das Wirtschaftsleben. Die Zivilcourage der Mitarbeitenden und insbesondere mittlerer Führungskräfte, auch in der Arbeitswelt ihrem Verantwortungsbewusstsein als mündige Bürger nachzuleben statt sich opportunistisch zu verhalten, soll von der Geschäftsleitung ausdrücklich befürwortet und vor Sanktionen durch direkte Vorgesetzte geschützt werden. Zwar sind Mitarbeitende im Rahmen ihrer Aufgaben grundsätzlich zur Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber verpflichtet, doch diese findet ihre ethische Grenze dort, wo durch weisungsgemäße Handlungen höherrangige moralische Güter geschädigt oder Grundrechte anderer Menschen verletzt würden.
Von den Mitarbeitenden ist daher nicht “Kadavergehorsam”, sondern eine kritische Loyalität einzufordern (Steinmann/Löhr 1991, S. 17; Ulrich/Thielemann 1992, S. 167 f.; Leisinger 2003, S. 23 ff.). Diese schließt nicht nur das Recht, sondern unter Umständen sogar die moralische Pflicht ein, die obersten Verantwortlichen auf ethisch fragwürdiges Verhalten von Vorgesetzten oder Kollegen hinzuweisen (z. B. auf Fälle aktiver oder passiver Bestechung von Abnehmern bzw. Lieferanten). Dafür sind innerbetriebliche Kanäle zu schaffen, die es allen Mitarbeitenden ermöglichen, entsprechende Hinweise zu geben ohne gravierende persönliche Nachteile in Kauf nehmen zu müssen.
Erst wenn die organisationsinternen Kanäle erfolglos ausgeschöpft sind, kommt Mitarbeitenden als letzter Ausweg das moralische Recht zu, durch das öffentliche “Verpfeifen” des Unternehmens (Whistleblowing) Druck von außen auf die Unternehmensleitung in Gang zu bringen (De George 1993; Leisinger 2003). Gewährleistete organisationsbürgerliche Rechte und firmeninterne Kanäle für sanktionsfreie Kritik beseitigen jedoch die meisten legitimen Gründe für externes Whistleblowing und sind insofern auch im Interesse der Wahrung des guten Rufs der Firma klug.
6. Führungsverantwortung im Spannungsfeld von Ethik und Erfolg
Zu den praktisch besonders bedeutsamen Aufgaben der Führungsethik gehört die Klärung der Reichweite der persönlichen Führungsverantwortung des/der einzelnen Vorgesetzten im Spannungsfeld zwischen Ethik und unternehmerischem Erfolgsstreben. In diesem Zusammenhang ist als weitere Kategorie der Führungsethik der Begriff der Verantwortung näher zu bestimmen.
Verantwortungsethik thematisiert die Zumutbarkeit der Folgen einer Handlung gegenüber allen Betroffenen. Die verantwortungsethische Leitidee, sich pragmatisch an der situativen Abwägung konkreter Folgen alternativer Handlungsmöglichkeiten zu orientieren, macht die oben behandelten führungsethischen Kriterien nicht überflüssig, sondern setzt sie zur Folgenbewertung schon voraus. Die oberste ethische Verantwortung von Führungskräften gegenüber den Mitarbeitenden ist nämlich gerade in der Wahrung oder Verwirklichung ihrer unveräußerlichen Grundrechte zu erblicken.
Der Begriff der Führungsverantwortung stellt für sich allein also keine hinreichende Kategorie moderner Führungsethik dar. Hingegen eignet er sich, um Fragen der ethischen Prioritätsbestimmung oder Güterabwägung in Dilemmasituationen zu beleuchten, das heißt in Situationen, in denen verschiedene legitime Wertansprüche an das Handeln von Führungskräften konfligieren. Ein besonders häufiger Typus führungsethischer Dilemmata ist durch den Konflikt zwischen der organisatorischen Rollenverantwortung einer Führungskraft und ihrer ethischen Bürgerverantwortung charakterisiert. Während sich die Rollenverantwortung primär an den Ergebnissen, bezogen auf die zu erfüllenden Aufgaben und Periodenziele (Erfolgsziele), misst und in der Regel eine organisatorisch eingegrenzte Teilverantwortung darstellt, bezieht sich die Bürgerverantwortung primär nicht auf die Erfolgssicherung, sondern auf deren Nebenfolgen auf alle direkt oder indirekt betroffenen Personen, und ist daher prinzipiell unbegrenzt, soweit sich die problematischen Tatbestände dem Handlungsträger normativ zurechnen lassen (Abb. 2).
Ethisches Verantwortungsbewusstsein von Rollenträgern in arbeitsteiligen Organisationen setzt ein gewisses Maß an kritischer Rollendistanz voraus. Ohne sie kann die gebotene Güterabwägung zwischen den unternehmerischen Erfolgszielen und den externen Nebenwirkungen, die dafür “in Kauf” genommen werden dürfen, kaum ausgewogen erfolgen. Die weiter oben postulierte Leitidee der kritischen Loyalität gilt also auch für die Führungskräfte selbst.
In Situationen “organisierter Unverantwortlichkeit” (Beck 1988), in denen zwischen den Unternehmenszielen und dem ethisch Verantwortbaren eine individuell nicht mehr überbrückbare Verantwortungslücke klafft, geraten besonders mittlere Führungskräfte leicht in ein Opportunismusproblem zwischen eigenen Karrierechancen und ihrer moralischen Integrität. Verantwortungsbewusste leitende Angestellte erkennen daher ihr gemeinsames Berufsinteresse an einer verbindlichen, professionellen Standesethik, die im Sinne kollektiver Selbstbindung der Berufsgruppe gegenüber den Arbeitgebern hochgehalten wird (Staffelbach 1998). Mit der “Rückenstütze” eines Standeskodex könnten verantwortungsbewusste Führungskräfte vermehrt auf eine “organisierte Verantwortlichkeit” innerhalb der Unternehmen hinwirken, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf folgende Aspekte richten:
- Erstens sind Ambiguitäten oder Unklarheiten über die Rangordnung der Wertmaßstäbe des Handelns zu vermeiden, indem von der Geschäftsleitung niemals nur einseitig hohe Leistungs- und Erfolgsziele vorgegeben, sondern stets zugleich die ethischen Rahmenbedingungen definiert werden, innerhalb derer sie anzustreben sind. Denn Fehlverhalten von Führungskräften entsteht nicht selten aus falsch verstandener Loyalität gegenüber uneingeschränkten Zielvorgaben (vgl. Gellerman 1986; Waters 1991).
- Zweitens ist die ethische Sensibilisierung der Mitarbeitenden auf allen Ebenen des Unternehmens als gleichrangiges Qualifikations- und Bildungsziel wie die Vermittlung von Sachwissen und Problemlösungskompetenz in die Konzepte der Management-, Personal- und Kulturentwicklung einzubeziehen (Steinmann/Löhr 1994, S. 144 ff.).
- Drittens sind alle Entscheidungsprozesse für ethische Reflexion und Argumentation zu öffnen und zugleich alle Abläufe gegenüber strukturellen Fehlanreizen bzw. personalem Fehlverhalten zu schließen (Ulrich/Lunau/Weber 1998). Die Förderung einer im Selbstverständnis aller Organisationsmitglieder tief verankerten Integritäts- und Verantwortungskultur (integrity approach) und der Aufbau einer regulierenden Normenstruktur (compliance approach) ergänzen sich notwendigerweise (Paine 1994; Thielemann 2005).
- Viertens ist die konsequente Internalisierung ethischer Gesichtspunkte in sämtliche Führungssysteme (z. B. Leistungsanreiz-, Leistungsbeurteilungs-, Honorierungs- und Beförderungs-, Kontrollsysteme) anzustreben, um Inkonsistenzen zwischen strukturellen Anreizen und definierten Geschäfts- und Führungsprinzipien zu minimieren.
- Fünftens sollten professionelle Standesorganisationen der Führungskräfte als eigenständige politische Kraft branchen- und ordnungspolitische Mitverantwortung übernehmen im Hinblick auf die Schaffung von human-, sozial- und umweltverträglichen Rahmenbedingungen des Wettbewerbs, unter denen sie sich die Wahrnehmung ihrer beruflichen Rollenverantwortung überhaupt zumuten lassen (Ulrich 2016, S. 469 ff.).
Mit dem letzten Punkt mündet Führungsethik in eine Selbstreflexion von Führungskräften, die ihr Selbst- und Rollenverständnis nicht mehr nur vom betriebswirtschaftlichen Erfolg im üblichen Sinn her definieren, sondern den persönlichen und gesellschaftlichen Sinn ihrer Arbeit in der umfassend verstandenen wirtschaftlichen “Wertschöpfung” suchen. Für wirklich führende Führungskräfte heißt Wirtschaften: gemeinsam mit anderen und für andere Werte schaffen.
Literatur
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Hinweis: Dieser Beitrag ist entstanden als stark gekürzte und aktualisierte Version des Artikels “Führungsethik” des Autors im Handbuch der Wirtschaftsethik, hg. v. Wilhelm Korff u. a., Bd. IV, Gütersloh 1999, S. 230-248.
Der Autor
Prof. Dr. Peter Ulrich
ist emeritierter Ordinarius für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen (HSG). Nach Stationen als Unternehmensberater in Zürich und Professor (C4) für BWL in Wuppertal hatte er in St. Gallen ab 1987 den ersten Lehrstuhl der jungen Interdisziplin an einer deutschsprachigen Wirtschaftsfakultät inne und entwickelte die in deutscher, englischer und spanischer Buchfassung vorliegende “Integrative Wirtschaftsethik”. Er baute an der HSG das Institut für Wirtschaftsethik auf und leitete während 22 Jahren dessen vielfältige Forschungs-, Lehr- und Beratungsaktivitäten.
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