Nachhaltigkeitsstrategien vor Acht

Nachhaltigkeitsstrategien sind wie Börsen. Beide verhandeln Zukunft. Eigentlich gehörte die Nachhaltigkeit auf den gleichen Fernseh-Sendeplatz wie die “Börse vor Acht”. Dass schon alleine dieser Gedanke bizarr erscheint und öffentlich noch nicht einmal vorgetragen wird, ist Teil der Story um die Nachhaltigkeitsstrategien. Sie wird noch nicht ernst (genug) genommen. Zu dieser Story gehört aber auch, dass die Beiträge der Stakeholder nicht ausreichend gut sind (im Sinne vor: präzise formuliert, relevant genug, professionell unterlegt, innovativ und attraktiv, in den Konsequenzen durchdacht), um mit der Nachhaltigkeitsstrategie tatsächlich das zu tun, was nötig ist: Handeln für Zukunft auszulösen.

Ohne relevante Botschaft ist jede Rede nur ein akustisches Phänomen. Wenn dieses Diktum von Max Weber auch für die Nachhaltigkeit gilt, dann folgt daraus, dass Nachhaltigkeitsstrategien ohne tatsächliches Einlösen von Zielen nur soziologische Etüden in rhetorischen Hohlräumen sind. Die deutsche Bundesregierung bezeichnet via Beschluss der Vereinten Nationen die nächsten zehn Jahre der Agenda 2030 als eine Decade of Action and Delivery, meist verkürzt als Decade of Action. Für die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie muss es um action for delivery gehen. Das Entscheidende ist: Sie könnte es auch. Aber nur, wenn sie die Erfahrung aus den ersten zwanzig Jahren für Verbesserungen nutzt.

 

Strategien kommen und gehen, Nachhaltigkeit bleibt

Strategien jedweder Art sind allgegenwärtig. Das ist ein neues Phänomen der letzten 20-30 Jahre. Vorher hat es sie weder in der Zahl gegeben noch war das Anliegen vergleichsweise präsent, Verhalten mit mittel- bis langfristigen Zielen beeinflussen zu wollen. Das Modernität von Strategien reflektiert drei neuartige Entwicklungen: a) die verdichteten Informationslagen, b) die immer komplexer werdenden Sachfragen, denen sich politische Institutionen stellen, und c) die zeitliche Dynamik von politischen und unternehmerischen Entscheidungsprozessen, die sich den Betroffenen oft wie eine Zeitraffung darstellt. Die Zeitdynamik steigert die Sach-Komplexität und beide steigern die Informationsdichte, die ihrerseits wiederum die anderen beiden Teilphänomene antreibt. Wenn Politik jemals lineare Abläufe kannte, sind diese jetzt nicht mehr gegeben.

Im Idealfall helfen Strategien bei solchen nicht-linearen Politikmustern: Sie schaffen mittel- und langfristige Orientierung, indem sie Ziele und Handlungshorizonte benennen, ohne bereits die Details im Mikromanagement festzulegen. Sie ordnen das Wissen und die Daten und geben Auskunft, wo wir stehen und wie es weitergehen könnte und sollte. Sie benennen Prozesse und legitimieren Abläufe. Sie liefern Freiräume und zeigen Entscheidungsalternativen auf der Basis fester Werte und Haltungen. Im Idealfall operieren sie als zugleich agil und als Werte-Kompass. Sie wollen nicht gewollte und gegensätzliche Entwicklungen neutralisieren.

Aber der Idealfall ist selten. Wo Strategie draufsteht, ist meist dürre Planung drin. Wo Planung drin ist, folgt sie oft einem einfachen, linearen Verständnis von Ziel und Mitteln. Oft gilt das Aufsagen eines Zieles bereits als die Maßnahme. Da der Begriff Strategie ungeschützt breit auslegbar ist, mangelt es oft an Stringenz und Vergleichbarkeit. Deshalb wird Strategien selten eine positive Wirkungen nachgesagt. Die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie ist hier eine Ausnahme. Aber die Ausnahme hat ihren Preis.

 

Zunächst das Unangenehme

Der denkbar schlechte Ruf von Strategien hat verschiedene Gründe, die dummerweise oftmals gemeinsam auftreten und von denen auch die Nachhaltigkeitsstrategien nicht frei sind. Zum einen gelten als Spinnerei (“Na, du Stratege!”) und esoterisch entrücktes Wünsch-Dir-was; die andere Seite derselben Münze ist die überschwängliche Verklärung. Politiker, Unternehmer und Verbände erklären auch geringst-relevante Überlegungen gerne schon zu Strategien. Die sprachliche Aufwertung soll das Geringe veredeln. Das macht Strategien zu rhetorischen Hohlräumen und steigert die Vorhaltung des Esoterischen. Erkennbar sind sie an einem 90%igen Anteil von Analyse und Erwägung bei nur geringen ausgelösten unmittelbaren Handlungen.

Zum anderen ist da der Fluchtaspekt. Strategien sind zuweilen Ausweichmanöver, um wirkliche Entscheidungen im Hier und Jetzt elegant zu vertagen. Das verschafft Luft, bringt aber das Image von Strategien gefährlich nahe an jenes, was man dem Einsetzen von Arbeitsgruppen und Kommissionen nachsagt. Umgekehrt wird gerne gemutmaßt, dass hinter recht einfachen Strategien viel größere Absichten stehen. So wurde aus der Einsetzung des Nachhaltigkeitsrates und des (Bio-)Ethikrates schon mal eben der Vorwurf, man richte Nebenparlamente ein und sperre die demokratische Öffentlichkeit aus. Eine Variation der überspitzten Interpretation ist die Übererwartung. Zu beobachten ist sie vor allem bei den machtpolitisch strukturell Schwächeren. Ihre überschießende Erwartung setzt Strategien oft vorsätzlich mit Realpolitik gleich. Man erwartet, dass sich die Realpolitik quasi wie ferngesteuert genau entlang der Strategie ausrichtet.

Schließlich Nummer drei: die Leichtigkeit des Laisser-Faire. Es herrscht vor, wenn politische Entscheider*innen die Diskussion um Zukunfts-Ziele als ideologisch überspannt oder sonstig nervig finden und “fünf gerade sein lassen”. Sie setzen darauf, dass sich die ganze Aufregung über Nachhaltigkeit und ihre Strategien schon irgendwann auswachsen werde. Alle politischen Themen, so die Vermutung, folgen letztlich sich abwechselnden Moden. Warum soll das mit der Nachhaltigkeit nicht auch so sein? Kommunikationsberater bekräftigen zuweilen diese Einstellung, letztlich aus eigennützigen Gründen. So entstehen mitunter überraschend ambitionierte Ziele, die zwanzig Jahre später den (dann anderen) verantwortlichen Politikern als undurchdacht oder illusionär erscheinen. Im Jahre 2001 waren dies das Ziel, den Ökolandbau auf einen zwanzigprozentigen Flächenanteil zu bringen, die Inanspruchnahme von Bodenfläche für Siedlungen auf weniger als ein Viertel der damaligen Menge einzugrenzen, den Trend zur Fettleibigkeit umzudrehen, die Senkung der Emission von Kohlendioxid um 40 % bis 2020, und einige andere.

 

Der positive Stempel

Die Bundeskanzlerin Angela Merkel erzielt mit dem Stichwort “Nachhaltigkeitsstrategie” 16.000 Ergebnisse bei einer Ecosia-Suche (Februar 2020), bei “Gerhard Schröder” meldet Ecosia immerhin noch 6.000 Einträge. Das ist mehr als für Biodiversitätsstrategien und andere themenverwandte Umweltstrategien. Erwartungsgemäß erzielt “Digitalstrategie” deutlich mehr Treffer. Natürlich ist die Gegenwart im Internet immer im Vorteil. Das Netz zeigt aber sehr klar die über zwei Jahrzehnte anhaltende hohe Resonanz der Nachhaltigkeitsstrategie. Das ist nicht selbstverständlich. Die Nachhaltigkeitsstrategie hat sich gegen die normalen Konjunkturen behauptet. An Versuchen interessierter Kreise, die Nachhaltigkeitsstrategie weg zu reden, hat es nicht gefehlt. Sie sollte durch eine Umsetzungs-Strategie für die Agenda 2030 ersetzt werden. Die Regierungs-Strategie zum “Gut Leben” und jene des Parlamentes zu “Wohlstand und Wachstum” wollten sie ablösen. Versagt haben diese Versuche alle. Warum das so ist, erklärt sich zum überwiegenden Anteil aus dem materiellen Hintergrund, also aus der Realität selbst. Der Klimawandel ist praktisch zu spüren, Pflanzen- und Tierarten gehen verloren, nicht nachhaltige Trends sind ungebrochen. Das Ganze hat nichts Abstraktes oder Belehrendes mehr. Ein weiteres Verschieben von Lösungen verschärft die Probleme noch zusätzlich. Zu einem weiteren Teil erklärt sich die erfolgreiche Resilienz der Nachhaltigkeitsstrategie aus dem Wirken des Nachhaltigkeitsrates. Für die Demokratie ist das gut, denn der Nachhaltigkeitsrat hat der Nachhaltigkeitspolitik zwei Stempel aufgedrückt: den des Föderalismus und den des offenen Dialoges in der sozialen Marktwirtschaft.

 

Start mit Tiefenwirkung

Das rot-grüne Kabinett entscheidet sich im Jahr 2000 dazu, eine Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Dass es Strategien nicht leicht haben, erfahren die Rot-Grünen sogleich, und alle anderen Farbkonstellationen seither auch. Das fängt schon beim rot-grünen Timing an. Die Nachhaltigkeit gehörte nicht zu den Prioritäten der ersten Hälfte der Legislaturperiode. Als dann das Kabinett endlich beschloss, einen Nachhaltigkeitsrat einzurichten und den eigenen Staatssekretärsausschuss (der jede Woche die Kabinettssitzung vorbereitet) regelmäßig zum Thema Nachhaltigkeit tagen zu lassen, vergehen noch einmal viele Monate mit Zuständigkeitsfragen und der Frage, wer wen in den Rat beruft.

Auf der grünen Seite war klar, dass jedenfalls kein SPD-Ministerium für die Federführung in Frage kam, schon gar nicht das von Heidemarie Wieczorek-Zeul geführte Entwicklungsministerium und noch viel weniger das Wirtschaftsministerium von Wolfgang Clement. Letzteres wiederum baute eine Front gegen eine (aus seiner Sicht zu dominante) maßgebliche Rolle des Umweltministeriums unter Jürgen Trittin auf. Eine beliebte Abwehrbehauptung war, dass Nachhaltigkeit zu sehr von den Ökos dominiert würde. Eine öko-dominierte Nachhaltigkeitsstrategie, wähnte man, lieferte dem Umweltgedanken eine Vetoposition im Kabinett. Dass die Wirtschafts-Seite dies zu verhindern suchte, liegt auf der Hand. Leicht gemacht wurde ihr das Argument durch die Umwelt-Seite selbst. Denn dort mobilisierte man gegen die Gleichrangigkeit der so genannten drei Säulen. Das Bild von drei gleichen Säulen, respektive das des gleichschenkeligen Dreiecks wurde quasi zur Ikone des Abzuwehrenden. Keinesfalls sollte “die Wirtschaft” beim Ökologischen mitreden dürfen, umgekehrt natürlich schon.

Diese Konstellation verhakte sich so gründlich, dass Bundeskanzler Gerd Schröder die Initiative ergriff und die Leitung der Nachhaltigkeitspolitik seinem eigenen Kanzleramt zuordnete. Zur Konstituierung des Rates kamen mit ihm gleich 17 Beamte aus verschiedenen Ressorts in die Sitzung des Rates. Alle wollten die neue, bisher unbekannte Kräfteverteilung ausloten. Das Interesse in der Bundesregierung entsprach allerdings keineswegs den Arbeitskapazitäten, die für Nachhaltigkeitsfragen einsetzbar waren. Jahre vergingen bis das Kanzleramt überhaupt ein eigenes Referat für die Nachhaltigkeitsstrategie einrichtete. Bis das Referat wenigstens einige Mitarbeiterinnen erhielt, vergingen weitere Jahre. Den Start der Nachhaltigkeitsstrategie legte eine Handvoll hochmotivierter Regierungsbeamte im Wege von Überstunden hin. Und sie konnten sich auf die Zu- und Vorarbeiten des Nachhaltigkeitsrates verlassen. Nach nur sechs Monaten legte der Rat eine erste Empfehlung zu sehr ambitionierten Zielen und Indikatoren für Landwirtschaft, Mobilität und Energie auf den Tisch. Dass dies im Konsens aller Ratsmitglieder geschah, beeindruckte nicht nur die Bundesregierung, sondern auch deren umweltpolitische Berater, die eine solche Entschiedenheit und Geradlinigkeit nicht erwartet hatten.

Der Rat einigte sich unter Zeitdruck. Darum hatte der Bundeskanzler gebeten, denn Deutschland sollte bei der unmittelbar ins Haus stehenden UN Konferenz in Johannesburg, “Rio plus 10”, nicht mit leeren Händen dastehen. Im Nachhaltigkeitsrat sah es zunächst nicht nach Konsens aus. Die Ratsmitglieder sortierten sich sofort nach den drei Säulen: Wirtschaft, Umwelt, Soziales. Sie trafen sich getrennt als “Bänke” im Vorfeld der Ratssitzungen. Sie betrieben Gegnererkundung und bestimmten die eigenen “Linien”. Nicht unverständlich.

 

Das Säulen-Mikado

Das “Drei-Säulen-Modell” (wahlweise drei sich teilüberlappende Kreise, drei Dimensionen oder ein Dreieck) prägte das Denken. Es gehört noch heute zu den Standard-Bildern vieler Vorträge, obwohl es schon damals reichlich unpraktisch war und heute komplett außer Dienst gestellt gehört. Aber wer sich auf neuem Terrain unsicher fühlte oder unter Beschuss geriet, der behalf sich wie auch die ersten Nachhaltigkeitsstrategien anderer Länder mit Dreieck-Bildern und der scheinbaren Rationalität der Kreisbilder, deren Überlappung dann stolz als Nachhaltigkeit definiert wurde. Niemand fragte, was eigentlich mit den ökologischen oder ökonomischen Kreisflächen ist, die sich nicht berühren. Ist dann Ökologie nicht nachhaltig? Oder, auch gerne als Debattenkern genommen, in welcher Reihenfolge sollen die “Dimensionen” eigentlich aufgezählt werden, und signalisiert nicht die Reihenfolge der Aufzählung von Stakeholder-Belange ihre Wertigkeit und damit ihre Wichtigkeit?

Das Säulen-Mikado hat die konzeptionelle Umsetzung der Rio-Agenda 21 von 1992 jahrelang behindert. Nur die positiven Beispiele von lokaler Umsetzung (Lokale Agenda) machten es anders, aber erzielten keine politische Durchschlagskraft. Zudem überdeckte die Mehrzahl von steckengebliebenen und unproduktiven Agenda-Prozessen diese wenigeren Erfolge.

Wenn das Projekt Nachhaltigkeitsrat überhaupt Erfolg haben sollte, dann musste der Start die Szene überraschen und so ausfallen, dass von nun ab der Nachhaltigkeitsrat selbst zu einer Leitgröße der gesellschaftlichen Diskussion um die nachhaltige Entwicklung wird. Und das musste schnell geschehen.

Die unmittelbar im April 2001 gebildeten Arbeitsgruppen des Rates hielten sich mit dem Mikado nicht lange auf. Man hatte schließlich etwas zu erfinden, das es vorher nicht gab: Ziele, am bestem mittelfristige und das hieß damals: Ziele bis 2020. Die Tiefe der Sachauseinandersetzung ließ dem Mikado aus Säulen/Dimensionen/Dreiecken intern keinen weiteren Raum. Außen herrschte natürlich das Muster der positionellen Politik weiter. Es zieht den Fortbestand der eigenen institutionellen Position in der Regel weiterhin Lösun- gen vor, die neue Rollen und vor allem kooperative Verfahren bedeuten.

Der Nachhaltigkeitsrat gab seinen konkreten Empfehlungen drei Vorgaben.

Eine Nachhaltigkeitsstrategie müsse a) messbare Ziele beinhalten, also quantifiziert vorgehen. Das war nicht ohne Widerspruch. Es löste erhebliche Warnungen vor Vorformen der Planwirtschaft aus. Dabei war es “nur” moderne Governance. Management-by-objectives, das Führen großer Einheiten durch die Verpflichtung auf Ziele bei Offenheit für Technik und Mittel. Starke CEOs lenken große Unternehmen zuweilen mit “Big Hairy Audacious Goals”, also mit einer Mischung aus unmöglich und wagemutig. Das war schon für die Wirtschaft nicht das Normale, aber für die politische Führung Staaten war es vollständig neu. Fünfzehn Jahre später haben die Sustainable Development Goals zumindest das Verständnis (wenn auch noch nicht die Praxis) für diese Steuerung gelegt. Zehn Jahre zuvor, im Rio-Erdgipfel von 1992 und noch früher in der Brundtland-Kommission, war es noch völlig undenkbar, quantifizierte Ziele zu setzen und damit drei oder vier Legislaturperioden zu umspannen.

Vorgabe a) verstand sich als Teil einer neuen, und erst zu entwickelnden Governance des Managements der öffentlichen Dinge: scharf in den Zielen, offen in den Mitteln, mit guten Gründen zum Mitmachen.

Die Nachhaltigkeitsstrategie dürfe b) keine deutsche Nabelschau sein, sondern müsse solche Lösungen anbieten und bevorzugen, die auch in anderen Ländern angewandt werden können (globalisierungsfähige Technik). Diese Vorgabe widersprach niemand, weder in der Regierung, noch bei den Stakeholdern, aber es kümmerte sich auch niemand ausdrücklich darum. Erst dreizehn Jahre später, in Anbetracht der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, gelang es dem Rat, die Nachhaltigkeitsstrategie auf das “in, mit und durch” Deutschland zu verpflichten und die globalen Aspekte in die deutschen Ziele und Indikatoren bis hin z.B. zur Berechnung der Rohstoffproduktivität stärker als je zuvor einzubringen. Noch heute ist der damals formulierte Grundsatz nicht erfüllt. Das liegt an dem Fehlen einer wirtschaftspolitischen Kompetenz der Nachhaltigkeitsstrategie (s.w.u.).

Der dritte Grundsatz betraf die Rolle des Staates. Die Bundesregierung solle den Inhalt der Strategie nicht auf staatliches Handeln beschränken, sondern von Anfang an die Verantwortung der Gesellschaft, der organisierten Zivilgesellschaft, der Konsumenten, von Kultur und Medien etc. ansprechen; und nicht nur dies, sie müsse auch organisiert werden. So würde man dem Anspruch gerecht, Nachhaltigkeit als das Management der öffentlichen Dinge zu organisieren. Der Gedanke war damals neu. Wir nahmen Anleihen beim angelsächsischen new public management, allerdings unter Weglassen der neoliberalen Implikationen. Dem Nachhaltigkeitsrat ging es um eine institutionelle Reform. Dieser Gedanke stand und steht im Gegensatz zu den üblichen klima- und nachhaltigkeitspolitischen Mitmach-Apellen oder den Drohungen mit Untergang und Dystopien. Öffentliche Dinge, seien es zum Beispiel Energieleitungen und Infrastrukturen oder soziale Arbeits- und Hilfeformen, müssen so gemanagt werden, dass sie möglichst vielen Menschen positive Interaktionen ermöglichen. Der Abbruch positiver Interaktion, der häufig als ein “die kümmern sich nicht mehr um uns hier unten oder draußen im Land” empfunden wird, geht in soziale Konflikte über. Wenig hilfreich sind dann die üblichen Hürden der Expertensprache. Sie vermitteln die Idee der nachhaltigen Entwicklung und das Wissen um Inhalte, Probleme und Chancen nicht so, dass Nicht-Insider in der Lage sind, dieses Wissen anzuwenden. Schlimmer noch erleichtert dies rechtspopulistischen Argumenten das Denunzieren des Anliegens.

Dass der Ansatz bisher nicht aufgegriffen wurde, ist ein Fehler.

 

Komplementär zur Nachhaltigkeitsstrategie

Alle drei Punkte beschreiben Haltungen, die heute nicht aktueller sein könnten. Die Öffnung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für die globalen und multilateralen Aspekte der Agenda 2030 verstärkt dies noch weiter. Hatte das BMZ bis dahin nur zwei und zudem nur randliche Indikatoren quasi nachrichtlich in die Nachhaltigkeitsstrategie eingebracht, so musste dies nun in ersten Schritten korrigiert werden. Dieser Vorgang ist nicht abgeschlossen.

Nach 2001 sollte es noch ein Jahrzehnt dauern bis die Bundesregierung ihre eigenen Strukturen für Nachhaltigkeitsverantwortung organisiert. Dazu gehörte, auf Initiative des Nachhaltigkeitsrates, die Schaffung eines gesonderten Haushaltstitels für Nachhaltigkeit und seine Zuordnung zum Etat des Bundeskanzleramtes (das gab es in den ersten sechs Jahren nicht), die Benennung von Nachhaltigkeitsbeauftragten in allen Ressorts, ein ambitioniertes “Programm nachhaltige Bundesregierung”, die Schaffung von strukturierten Dia- logen in der Verantwortung der Bundesregierung (Dialoggruppe, Regionalkonferenzen, Forum Nachhaltigkeit).

Das “Management der öffentlichen Dinge” übernahm dagegen der Rat.

  • Als die Bundesverbraucherministerin Renate Künast sich nicht in der Lage sah, den von Rat empfohlenen Reformimpuls einer nachhaltigen Konsumpolitik aufzugreifen, veröffentlichte der Rat kurzerhand selbst den “Nachhaltigen Warenkorb” und organisierte damit den öffentlichen Diskurs zu Grenzen und Möglichkeiten der Konsumentenhoheit. Der nachhaltige Warenkorb beschreibt seit 2004, welchen Faustregeln und Produkt-Siegeln zur Nachhaltigkeit Vertrauen geschenkt werden kann. Dieser Konsumratgeber wird nunmehr seit 15 Jahren stetig fortentwickelt, weil die Nachfrage unverändert auf hohem Niveau anhält. Seit Sommer 2019 rückt er noch näher an die Alltagssituation der Verbraucher*innen heran und wird von RENN.süd v.a. als Online-Magazin fortgesetzt (www.nachhaltiger-warenkorb.de).
  • Als die Bewegung zur Lokale Agenda 21zusammenbrach und der Bund die Förderung strich, ging der RNE mit dem Oberbürgermeister-Dialog in die Offensive. Lange bevor regelmäßige Bund-Länder-Sitzungen zur Nachhaltigkeit einsetzten, begann der Rat seine Reihe von Spitzengesprächen mit Landesregierungen, um auf den hohen Stellenwert des Föderalismus für die Deutsche Nachhaltigkeitspolitik hinzuweisen, bedächtig, dauerhaft und immer nach vorne gewandt, vielleicht etwas zu unauffällig, aber letztlich wirksam. Diese Politik des Nachhaltigkeitsrates bereitete über einige Zeit den Bo-den, um dann mit der Initiierung der Regionalen Netzstellen Nachhaltigkeitsstrategien (RENN) in die Offensive zu gehen. Die Möglichkeit dazu bot sich ursächlich nicht durch die Nachhaltigkeitsstrategie, sondern durch ein Brainstorming mit Bundestagsabgeordneten des Haushaltsausschusses, namentlich MdB Rüdiger Kruse.
  • Als die Wirtschaft im Orientierungsloch der Finanzkrisen aus Lehman-Pleite, Griechenland sowie dem Kampf um den Euro war und sich die Bundespolitik um Auto-Abwrackprämien und Kurzarbeitergeld (wichtig!) drehte, wand sich der Nachhaltigkeitsrat an die Stakeholder aus Wirtschaft und Finanzsystem und entwickelte mit ihnen den Nachhaltigkeitskodex. Der Nachhaltigkeitskodex managt die öffentliche Schnittstelle zwischen dem, was ein Unternehmen tut und dem, wofür die Öffentlichkeit den Unternehmen Vertrauen entgegenbringt. Diese Schnittstelle ist die transparente und verlässliche Berichterstattung zur Nachhaltigkeit. Mittlerweile für große Unternehmen eine Pflichtaufgabe, ging der Entstehung des Kodex eine offene Diskussion um Verbindlichkeit, Regelungswirklichkeit und Regelungsanspruch voraus. Erst mit dieser hat der Rat die zuvor eher randständige CSR-Debatte auf die Kernthemen der Unternehmenszweckes umgeschwenkt. Solcherlei öffentliche Wertebasis wird heute immer wichtiger, weil es um Risiken nicht nachhaltiger Unternehmenspraktiken, die Vermeidung “gestrandeter” (verlorener) Investitionen, um Klimaneutralität, “purpose” oder um nachhaltige Finanzstrategien geht. Der Deutsche Nachhaltigkeitskodex hat das Grundelement wirksamer Nachhaltigkeitsstrategien zum praxisnahen Instrument für gemacht.
  • Als der angeblich “harte” politische Streitwert der Ziele zu sehr dominierte, erweiterte der Nachhaltigkeitsrat das Aktionsfeld um “weiche” Themen des Kulturellen. Sie standen aber nicht allein als quasi kulinarisches Erlebnis, sondern stehen stets in Verbindung mit drängenden ökologischen und sozialen Herausforderungen. Ein erstes Signal gab schon die erste Jahreskonferenz. Über die Jahre wurde dieses Signal zu einem der wesentlichen Kennzeichen des Nachhaltigkeitsrates.

 

Die Governancefrage

Das Management der öffentlichen Dinge, so wie es der Nachhaltigkeitsrat langfristig betrieben hat, ist komplementär zur Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Über die einzelnen genannten Stationen wird dort berichtet. In den Rahmen einer Governance des gesellschaftlichen Engagements werden sie allerdings nicht gestellt. Das aber wäre entscheidend. Mitmachen und Partizipation alleine bleiben unbefriedigende technische Vorgänge, wenn die Mitmachenden nicht wissen, warum und in welchem Rahmen sie die Wirklichkeit verändern.

Auch in der organisierten Zivilgesellschaft ist nicht üblich, über die im Hinblick auf Regierung (richtigerweise) eingeforderte Governance zu Kohärenz und Koordination hinaus zu gehen, indem nach der Governance zivilgesellschaftlicher Nachhaltigkeit gefragt würde. Das jedoch wäre ein wesentlicher Schritt zu einer Transformations-Governance. Schon allein die praktischen Erfahrungen aus dem Nachhaltigkeitsrat bietet eine gute Basis, um wichtige Aspekte zu formulieren.

 

Wie Rio-Versprechen nur mühsam in deutsche Konzepte gelang

Bereits 1992 hatte Deutschland der Aufforderung des Erdgipfels von Rio de Janeiro zugestimmt, die nachhaltige Entwicklung auf nationaler Ebene durch eigene Nachhaltigkeitsstrategien umzusetzen. Die seinerzeitige deutsche Zustimmung war sogar mehr. Denn mit Umweltminister Klaus Töpfer leitete die deutsche Delegation einen zentralen Motor des gesamten Verhandlungsprozesses, sein Vertreter war Staatssekretär Hans-Peter Repnik vom Bundesentwicklungsministerium. “Rio” setzte den von der Brundtland-Kommission wenige Jahre zuvor postulierten, neuen Nachhaltigkeitsgedanken in Politik um.

Die so beschlossene Agenda 21 löste weltweit Euphorie aus. Von der durch das Ende des Kalten Krieges anscheinend möglichen Verteilung der Friedensdividende war die (vergebliche) Rede. Aber, immerhin, die Rio – Agenda 21 wird zum Signal für umweltpolitischen Aufbruch. Ihr folgen Klimaabkommen und Vereinbarungen zur Biodiversität. Das Ozonloch konnte gestoppt werden. Die Agenda 21 fordert die Staaten der Welt auch zu eigenen, nationale Nachhaltigkeitsstrategien auf. In Deutschland geschieht indessen jahrelang nichts.

Das Kabinett Kohl und die Umweltministerin Angela Merkel bringen trotz intensiven Bemühens keine Nachhaltigkeitsstrategie zustande. An ihren Versuchen hat es nicht gemangelt. Die höchsten und wichtigsten Meinungsführer zu Ökologie und Gesellschaft werden in ein “Nationalkommittee” berufen. Hochwertige Vorarbeiten gibt es en masse. Das Wuppertal Institut brachte im Auftrag des BUND und Misereor das “Zukunftsfähige Deutschland” zentral in die Diskussion ein. Das Umweltbundesamt reagierte mit einer umfangreichen Studie “Nachhaltiges Deutschland”. Der Bundestag ergriff die Initiative und drückte seine Unzufriedenheit durch das Motto “vom Leitbild zur Umsetzung” einer Enquête-Kommission aus[1]. Sie führte die zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen zusammen. Im Ergebnis wirbt der Bundestag 1998 für die Erarbeitung einer Nachhaltigkeitsstrategie und für neue Institutionen, denn mit einem business-as-usual sei keine Nachhaltigkeitsstrategie zu machen. Eine davon sollte ein neues, unabhängig arbeitendes Gremium aus Meinungsführer*innen aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sein, der spätere Nachhaltigkeitsrat. Damit aber taten sich viele schwer. So ganz traute man dem Begriff Nachhaltigkeit immer noch nicht. Man nannte das Gremium zunächst einmal “Rat für nachhaltig zukunftsverträgliche Entwicklung”, in Anknüpfung an den sprachpolitischen Vorbehalt, den die Umweltpolitiker geltend machten. Denen war Nachhaltigkeit nicht geheuer. Aus ihrer Sicht bestand die Gefahr, dass die Nachhaltigkeit am Ende die Umweltpolitik demobilisiert. Erst viel später und in Zusammenhang mit den Wahlstrategien der politischen Parteien sollte von “asymmetrischer Demobilisierung” (Union gegen Rot-Grün) die Rede sein. Aber in der Sache und ohne diese Kategorie zu nennen, ging es schon früher um (De)Mobilisierung. Die Debatte um den Begriff Nachhaltigkeit ist von der Furcht vor einer gefühlten Demobilisierung des Ökologischen geprägt – gestern wie heute. Das (angeblich) Reine und Klare des Ökologischen soll vor der Verunreinigung durch das Ökonomische bewahrt bleiben. Aus dieser Sicht war es schädlich, eine gleichrangig verhandelbare, ökonomische und soziale Dimension des Handelns anzuerkennen.

Die beschriebene Wahrnehmung der Ökologie passt indessen auch bereits für sich alleine genommen nicht zu einem tiefen Verständnis der Ökologie und anthropogenen Bedrohung von Klima und Naturressourcen. Als Gremium hat sich der Nachhaltigkeitsrat nie mit die- sen Grundsatzfragen beschäftigt. In Vorträgen und Diskussionsimpulsen wurden diese allerdings sehr wohl aufgegriffen, nicht zuletzt auch durch die Einladung von Prof. Dr. Wolfgang Haber zur ersten Carl-von-Carlowitz Vorlesung unter dem Titel “Die unbequemen Wahrheiten der Ökologie”.

In den jüngeren Auflagen rückt die Nachhaltigkeitsstrategie von dem alten Drei-Säulen-Bild ab. Die Bundesregierung postuliert nun die Existenz “absoluter Grenzen” der Inanspruchnahme der Umwelt durch den Menschen und bringt diese auch in ihre Dreieck-Grafik ein. Insoweit spiegelt die Bundesregierung also die Diskussion um den Stellenwert planetarer Grenzen des Klimawandels und des Ressourcenverbrauches.

 

Schlechte Presse, guter Start

Der Nachhaltigkeitsrat hatte im Jahr 2001, wie das Anliegen insgesamt und auch die Nachhaltigkeitsstrategie 2002, am Anfang schlechte Presse. Den Begriff Nachhaltigkeit schrieben die Meinungsblätter auf das Niveau eines Kaugummi-Wortes herunter: beliebig, unwichtig und am Ende will es jeder wieder loswerden. Die Konstituierung des ersten Nachhaltigkeitsrates wurde als Kommissionitis denunziert, die das Parlament entwertet. Die Nachhaltigkeitspolitik von Bundeskanzler Schröder kommentierte man als Versuch einer Nicht-Politik. Mir selbst wurde mitgeteilt, der Wechsel von der Umweltpolitik in die Nachhaltigkeit sei karriereschädigend. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen und der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen bewerteten den Nachhaltigkeitsrat zunächst recht unverblümt als unerwünschte Konkurrenz. Man brauche ihn doch gar nicht, denn es käme ohnehin nur auf “Umwelt” an, die bei den beiden Beiräten in guten Händen sei. Das bisschen zusätzlichen Dialog mit Sozialpartnern können man schon auch selbst leisten. Der Nachhaltigkeitsrat sei überflüssig, wenn nicht gar – weil der reine Umweltgedanke geschwächt würde – schädlich. Das war nur ein äußeres Anzeichen einer tiefen Verunsicherung gerade bei denen, die heute gemeinhin als erste “Verbündete” der nachhaltigen Entwicklung gelten. Sie hält bis heute an.

Die Umweltpolitik ist strukturell immer eher defensiv eingestellt. Das liegt nicht an ihr, sondern an dem Thema, mit dem sie sich beschäftigt. “Erhalten” und “Wiederherstellen” sind starke Impulse, aber sie sind immer nachgelagerte Folgeimpulse. Die Entstehung moderner Umweltpolitik ist geradezu geprägt durch die Re-Aktion. Und dass es Warner und Mahner brauchte, auf die freilich zunächst nicht gehört wurde. Deshalb überbetonen Umweltargumente zu Recht die Bedrohungen und das Risiko. Die letzte Legitimation umweltpolitischer Forderungen und Eingriffe wird so die Angst vor Katastrophen und die Konstruktion von Kollaps und Apokalypse. Oft genutzt und eingeübt wirkt sie zuweilen auch als ein identitärer Fluchtpunkt. Der Alarmismus produziert Einigkeit und ikonische Bilder. Mit der Abwehrhaltung verbunden ist verständlicherweise eine tendenziell struktur-konservative Einstellung. Das gilt im Grunde für Verbände ebenso wie für staatliche Einrichtungen und Individuen. Das Gegenteil ist eine proaktive Einstellung, die Zukunftstore nutzt und, zumal noch in kooperativer Form, aufbaut. Dieses Gegenteil ist bis heute nur wenig ausgeprägt.

Von ihrer Aufgabe und vom Status her ist die Nachhaltigkeitsstrategie anders aufgestellt. Sie gehört zur proaktiven Politik, wenngleich sie das oft nicht ausdrücklich so formuliert. Es ist auch fraglich, ob die Nachhaltigkeitsstrategie der geeignete Ort ist, um die aufgezeigten unterschiedlichen Grundansätze und ihre Implikationen im Einzelnen darzustellen. Allerdings gibt es auch keinen anderen Ort, der dieses täte.

Wenn “Nachhaltigkeit” zur Politik wird, treffen und trafen die unterschiedlichen Grundeinstellungen aufeinander. Gegenstand der Auseinandersetzung war und blieb der Begriff Nachhaltigkeit selbst, weniger die konkreten politischen Resultate.

Der Umweltseite ging anfangs darum, den Begriff Nachhaltigkeit zu vermeiden und zu ersetzen, mindestens ihn ökologisch unschädlich zu machen. Im Grunde sollte er nur ein Wechsel-Etikett für ansonsten gleiche ökologische Anliegen akzeptiert werden. So sind die Ende der 90er Jahre geprägten Adjektive “dauerhaft umweltgerecht, zukunftsverträglich” zu verstehen. Sie wollen das englische Sustainability mit einer umweltpolitischen Prämisse übersetzen. Umweltminister Jürgen Trittin betonte damals regelmäßig, dass er mit dem Begriff Nachhaltigkeit auf Kriegsfuß stehe. Er warb öffentlich für die Suche nach einem besseren Begriff. Viele taten es ihm damals gleich, indem beklagt wurde, dass das – wie es dann abschätzig heißt: ubiquitäre – N-Wort schwammig und zu wenig konkret ist, um es damit abtun zu können.

Den guten Start des Nachhaltigkeitsrates konnte dies alles nicht verhindern. Mit einem selbstbewussten Kommunikationskonzept, mit kreativen Veranstaltungen und mit ambitionierten Empfehlungen für Ziele und Indikatoren der Nachhaltigkeit überraschten wir die Community. Dass dies alles termingerecht in Hochgeschwindigkeit erfolgte, hatte niemand erwartet. Dass die Regierung uns folgen würde, auch nicht.

 

Es ging um Hegemonie. Das tut es heute noch, aber mit veränderten Vorzeichen.

Auch heute noch ist Nachhaltigkeit für all diejenigen eine Zumutung, die der Politik von Moral z.B. Verantwortungspflichten zum Klimaschutz, reden und jeden praktischen Versuch verdammen, widerstreitende Interessen auszugleichen. Zielkonflikte werden als Rahmenbedingung für Politik kleingeredet. Beantwortet werden sie mit der Forderung nach Kohärenz, nicht mit Überlegungen zu ihrem Ausgleich.

Längst ist jedoch manifestiert, dass Nachhaltigkeitsstrategien – die guten wenigstens – die Umweltpraxis nicht demobilisieren, sondern im Gegenteil aus Pfadabhängigkeiten herausholen und ihr neue politische Kraft verschaffen. Beispiele sind das 30-Hektar-Ziel zur Begrenzung des Landverbrauches, die Ausweitung des Ökolandbaus, die Initiativen gegen food-waste (Lebensmittelverschwendung) und das höhere politische Gewicht der Politik, die natürliche Ressourcen einspart und auf einen Schub an Ressourcenproduktivität setzt. Ohne die Nachhaltigkeitsziele der VN-Generalversammlung von 2015, die Sustainable Development Goals, hätte es einige Monate später kein Pariser Klimaabkommen gegeben. Von der befürchteten asymmetrischen Demobilisierung ist keine Spur. Das Gegenteil ist der Fall. Die Nachhaltigkeitsstrategie schafft 2020, trotz aller Einschränkungen, mehr politische Resonanz und Zustimmung als je zuvor vorhanden war. Das ist liegt auch daran, dass mit Hessen und Baden-Württemberg zwei starke Landes-Nachhaltigkeitsstrategien bestehen und andere Länder im Begriff sind, aufzuholen. Sichtbar wird es an der gestiegenen Anzahl von (lose) assoziierbaren Projekten und Initiativen sowie daran, dass Nachhaltigkeitsstrategien in der Wirtschaft kein Unwort mehr sind und auch Hauptstadtmedien ihre notorischen Verwendung von Anführungszeichen eingestellt haben.

 

Die strategische Schwachstelle ist zugleich die größte Chance

Dennoch ist dieser Erfolg auch ein Zeichen von Schwäche. Denn während sich die Politik – auch durch beständige Wiederholung – an das Vorhandensein einer Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie gewöhnte, haben sich die politischen Koordinaten verändert und laufen heute anders als vor zwanzig Jahren. Europa steht zwei Blöcken gegenüber, die die europäischen Werte zur Freiheitlichkeit und zur Verantwortung nicht teilen. Konservative und traditionelle Wählerschichten organisieren sich. Die Volksparteien haben (noch) keine Lösung für einen zentralen Widerspruch, der deutscher Politik (und nicht nur deutscher) zugrunde liegt. Politik im Interesse Deutschlands muss immer stärker kosmopolitisch und multilateral sein, und genau das honorieren große Teile der Wählerschaft nicht, weder in der Klimapolitik, noch bei der Migration und der Geopolitik. Die politischen Koordinaten sind auch aus einem anderen Grund verändert, wenn nicht beschädigt: Dreißig Jahre Klimaschutz-Politik und Nachhaltigkeit haben in den interessierten Kreisen Enttäuschung und Mutlosigkeit hervorgebracht. Das ist eine brisante Mischung. Sie verdrängt selbst jene Erfolge der letzten Dekaden, die tatsächlich etwas verändert haben. Vollends gefährlich wird sie, wenn Gesprächsfäden abreißen und gemeinsame Bezugspunkte zu Gunsten identitärer Selbstwahrnehmung aufgegeben werden. Der Nachhaltigkeitsstrategie käme hier die Brückenfunktion eines großen Narratives zu, die jedoch nicht ausgefüllt wird.

Das Problem hat viele unterschiedliche Facetten, die von Kultur, über Sprache bis hin zu Führungskompetenz reichen. Im Kern – so meine Erfahrung – lässt es sich auf einen Punkt zurückführen: die fehlende, respektive unbeholfen “alte” Wirtschaftspolitik. Die 90er und 00er Jahre haben die Wirtschaftspolitik der sozialen Marktwirtschaft entkernt. Überbürokratisierung trägt weiter dazu bei. Große Infrastrukturfragen von Bahn, Straße und Datenleitungen werden vorwiegend unter den Vorzeichen von Wettbewerb “gedacht”, zumindest überlagert dieser Gedanke regelmäßig die ordnungspolitische Debatte. Die Wirtschaftspolitik agiert vorwiegend innerhalb der konventionellen steuer- und verteilungspolitischen Reflexe und Anreiz-Programmen.

Die Nachhaltigkeitsstrategie selbst hat bei der Wirtschaftspolitik einen (fast) blinden Fleck, und vice versa. Der Nachhaltigkeitsrat jedoch nicht. Unsere wirtschaftspolitische Arbeitsstruktur ersetzt den Staat natürlich nicht. Als Multistakeholder Gremium befördert der Rat eine industriepolitische und unternehmerische Kompetenz zur nachhaltigen Entwicklung. Der Nachhaltigkeitskodex setzt bei der Eigenverantwortung von Unternehmen an und an dem Gedanken des strukturierten Dialoges mit Stakeholdern. Der Deutsche Nachhaltigkeitspreis setzt an einem anderen, nicht minder wichtigen strategischen Punkt an. Bei ihm zählen Werte und Haltungen, Innovation, Pioniergeist und die Lust an Lösungen mit neuen Techniken und neuen gesellschaftlichen Verfahren. Im Wettbewerb setzen sich die besten Nachhaltigkeitslösungen in Unternehmen, Kommunen, durch die Forschung, bei Architektur und Bauen, beim Design durch. Deutscher Nachhaltigkeitspreis und Deutscher Nachhaltigkeitskodex spiegeln ein in der Breite steigendes, und in der Spitze qualitativ zunehmendes Engagement zur Nachhaltigkeit. Dieses schwappt indessen noch zu wenig in Politik über.

Einer zukünftigen Nachhaltigkeitsstrategie muss es darum gehen, Innovation und Umweltvorsorge zu kombinieren und zu einer neuen substantiellen Stärke zu machen. Stichworte sind die Infrastruktur für Wasserstoff, Erneuerbare Wärme und Strom in einem reformierten Bezahlmodus eines EEG 2.0, nachhaltige Datenökonomien, Technologien mit Transformationseffekten, ein öffentlicher Datenraum für nachhaltiges Produzieren in zirkulärer Wirtschaft.

Warum sollte die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie keine proaktiv antreibende Rolle gerade auch in einer Europäischen Nachhaltigkeits- und Wirtschaftspolitik spielen können?

Warum sollte es nicht möglich sein, der ja sowieso irgendwann unvermeidlichen Vergemeinschaftung von nationalen Schulden der EURO-Gruppe proaktiv für die europäische Einigung zu nutzen, indem man sie mit einem Rahmen von europaweiten Nachhaltigkeitskriterien verbindet? Flexible Solidarität muss mit Haftung und Kontrolle verbunden sein und gehört zur DNA von Nachhaltigkeitsstrategien. Warum sollte nicht es nicht möglich sein, in Deutschland Batterien und das Hightech der Kommunikation zu bauen? Könnte es nicht eine Industriepolitik für Nachhaltigkeit geben? Warum sollte ein europäischer Hyperscaler unmöglich sein? Und wie sähe er aus, wenn Nachhaltigkeit sein Zweck und seine Randbedingung wäre? Warum sollte Europa nicht dem afrikanischen Binnenmarkt helfen durch eine die Skalierung des Vor-Ort-Recyclings von Autos und Plastik, bei der Werte nicht (abge)schöpft, sondern Werte geschaffen werden, um zu bleiben? Warum setzt die Nachhaltigkeitsstrategie nicht die übergreifenden Benchmarks für die Wertstellung von ökologischen und sozialen Wirkungen unternehmerischen Handelns?

Und warum werden diese Fragen nicht in der Nachhaltigkeitsstrategie gestellt und strategisch beantwortet? Und was wäre, wenn dies anders wäre? Zukunft ist das Wählbare. Für die Nachhaltigkeitsstrategie liegt hier die Zukunft.

 

Das gute Porzellan

Das fränkische Selb ist im Allgemeinen für sein Porzellan bekannt, für mich ist es mit einem wichtigen Schritt zur Nachhaltigkeitspolitik verbunden. Man könnte sprichwörtlich sagen, es steht für das Porzellan der guten Stube der Nachhaltigkeitsstrategie. Ich besuchte mit Teilnehmern einer Umwelttagung eine Porzellanfabrik in Selb als ich den Anruf erhielt, ich könne mit Björn Stimson sprechen. Er war damals ein viel gefragter und äußerst hochrangiger Industriemanager und Präsident des World Business Council for Sustainable Development. Auf dem Betriebsparkplatz habe ich Stigson davon überzeugt, eine Aufgabe zu übernehmen, für die es kein Vorbild gab und die die deutsche Nachhaltigkeitspolitk weit über sein Engagement hinaus prägen sollte. Es war der Start des ersten internationalen Peer Reviews.

Vorausgegangen war dem eine Diskussion zwischen Volker Hauff, Thomas de Maizière und mir. Im Rückblick ist es eines der Gespräche, die unser Thema zu etwas Besonderem macht, das Horizonte erweitert und Neues ermöglicht. Thomas de Maizière leitete in der ersten Großen Koalition (2005 – 2009) das Kanzleramt und in dieser Funktion sprachen wir mit ihm. Gemeinsam beobachteten wir eine gefährliche Tendenz, die zum Scheitern der Nachhaltigkeitspolitk führen müsste, wenn man nicht gegensteuerte. Der Schwung der ersten Jahre war weg. Sie drohte politisch ins Abseits zu geraten. Zu oft erschien sie nur noch für sich selbst relevant zu sein, was man wohl als Selbstbezüglichkeit oder Selbstreferenzialität bezeichnen musste. Dem wollten wir entgegenwirken und dafür lagen verschiedene Optionen auf dem Tisch. Sie umfassten z.B. unsere Idee, die Mitglieder des Rates über ein öffentliches Ausschreibungsverfahren zu gewinnen, um dem Rat so in der politischen Öffentlichkeit faktisch ein höheres Gewicht zu geben. De Maizière lehnte das ab und fragte stattdessen nach “härteren” Rollenvorbildern für den Nachhaltigkeitsrat und ob er nicht analog insbesondere der Monopolkommission der Bundesregierung fortzuentwickeln wäre. Das wiederum, nach Prüfung, erschien als ein ungeeigneter Modus. Ich schlug daraufhin vor, etwas Neues auszuprobieren und das Peer Review – Verfahren auf unser Thema hin zu adaptieren. Peer Reviews sind nicht nur im Bereich der Wissenschaft gang und gäbe, sondern werden auch von der OECD für Wirtschafts- oder Umweltpolitik angewendet, bleiben dort aber eine administrative Binnenübung, das heißt, dass sich Fachressorts untereinander austauschen. Die Herausforderung bestand darin, dieses Verfahren zu öffnen. Es müsste thematisch viel weiter greifen und Akteure aus dem gesamten öffentlichen wie privaten Sektor zu Wort kommen lassen. Wir würden Neuland beschreiten. Die Bundesregierung würde internationale Experten einladen, die der Bundeskanzlerin, den Bundesministern, dem Staatssekretärsausschuss und den Parlamentariern “auf Augenhöhe” begegnen und die quer durch alle Ebenen und nach eigenem Ermessen mit Ministerinnen und Referatsleitern, Unternehmenschefs und Campaignern reden würden. Deutschland würde sich international anerkannten und weit über enge Fachkreise hinaus bekannten Experten stellen. De Maizière stimmte zu. Blieb die Frage nach dem Wer und Wie.

Bisher gab es drei Peer Reviews: 2009, 2013 und 2018, die ersten beiden Male unter Leitung von Björn Stigson. Den dritten Review hat Helen Clark geleitet und ihre Erfahrungen aus Ministerpräsidentin Neuseelands (1999 – 2008) und als Leiterin der Entwicklungsbehörde der Vereinten Nationen (2008 – 2016) eingebracht. In allen drei Peer-Teams arbeiteten Graswurzel-Aktive, ehemalige Minister und Behördenleiter*innen, Wissenschaftler und Unternehmensführer*innen zusammen. Ihre Einschätzungen und Berichte haben Reaktionen und teils weitreichende Diskussionen in Parlament und Regierung, sowie bei vielen Stakeholdern hervorgerufen. Sie haben Politik ganz praktisch verändert, allein indem sie das Eine gelobt, das Andere angemahnt und das Dritte kritisch ignoriert haben.

Die Peer Reviews sind das gute Porzellan der Nachhaltigkeitspolitik.

 

Das professionelle Detail ist die politische Erzählung

Die Nachhaltigkeitsstrategie kommt als etwas daher, was sie nicht ist. Sie erscheint uns als politischer Beschluss von rund 300 Seiten. Sie ist Gegenstand von Plenardebatten im Bundestag. Sie ist ein Nachschlagewerk. Sie lädt die Kommunalen Spitzenverbände, die Ministerpräsidentenkonferenz und den Nachhaltigkeitsrat zu Programmbeiträgen ein (von denen im Übrigen keiner bisher irgendwo zitiert oder kommentiert worden ist). Die Nachhaltigkeitsstrategie ist ein hochsensibles Werk aus feingewirkten Regierungsankündigungen und aus Verhandlungsformeln einstweilen “geparkter” Ressort- und Zielkonflikte.

Das alles ist notwendig und der Sorgfalt wert, mit der es dokumentiert ist. Aber eigentlich ist die Nachhaltigkeitsstrategie viel mehr als das. Sie ist eine Erzählung über Höhen und Tiefen von Politik. Was die Sphäre des Politischen im engeren Sinn angeht, so handelt sie vom Wechselspiel aus politischem Gelingen, politischer Ambition und Sackgassen, Hindernissen und Unverständnis. Sie handelt von der Schwierigkeit, zukunftsoffen zu sein, und von jener, sich auf veränderte Politik einzulassen. Ein beredtes Beispiel ist der Kommentar der FAZ vom 18.8.2002 zur Präsentation der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie beim damals stattfindenden UN-Gipfel. Das FAZ-Deutschland lehnte die Idee der Nachhaltigkeit ab, ohne sich die Mühe des Verstehenwollens zu machen. Man verwendete die Worte Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsstrategie noch in den distanzierenden Anführungszeichen, wie einst die DDR, und hielt alles für eine spröde Kopfgeburt.

Gerade das erzählt die Nachhaltigkeitsstrategie nicht. Eine politische Erzählung, wenn es denn eine solche sein soll, muss sich jedoch selbst ernst nehmen und sich selbst einen Stellenwert geben. Das ist die Voraussetzung, um proaktiv Zukünfte zu gestalten. Die erste Funktion der Nachhaltigkeitsstrategie ist aktive Erinnerungsarbeit. Erinnerung daran, dass es Zukünfte (Plural) gibt und dass man sie beeinflusst, willentlich und unwillentlich.

Der Nachhaltigkeitsrat hat seit 2001 in rund 61 Stellungnahmen auf die eine oder andere Weise auf die Nachhaltigkeitsstrategie eingewirkt; davon gehen 11 Empfehlungen direkt und ausschließlich auf die Strategie ein. Gegenstand der Stellungnahmen waren unter anderem

  • Ziele und Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie, zuletzt als Teil der VN – Agenda 2030,
  • Indikatoren wie z.B. Binnenschifffahrt, Mobilität, Konsum, Klima,
  • fehlende oder unzureichende Indikatoren für die Ziele zur Innovation, zum Bodenschutz, zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung, zur nachhaltigen Bildung, zur nachhaltigen Mobilität,
  • die UN SDGs und ihre Anwendung auf Ziele der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie,
  • Empfehlungen zur Kommunikation (Signalbilder (Wolke, Sonne, Gewitter) zum Stand der Zielerreichung, aktivierende Platform Kommunikation).

 

Punkt oder Plattform?

Die Nachhaltigkeitspolitik kommt aus der Tradition der sich punkthaft auf ein Ereignis hin fokussierenden Politik. Die Punkt kann ein Bericht sein oder ein politischer Beschluss zu Maßnahmen und Programmen. An ihn schließt sich ein Zeitraum an, der dann wiederum zu einem nächsten Zeitpunkt bilanziert wird. So entsteht ein Politikzyklus. Legislaturperioden des Bundestages legen den Vier-Jahres-Zeitraum nahe, in dem die Nachhaltigkeitsstrategie bisher fortgeschrieben wurde. Dieser zeitliche Rhythmus organisiert Politik und die Aufmerksamkeit der Akteure. Die Vereinten Nationen haben mit der freiwilligen nationalen Berichterstattung zum High Level Political Forum einen ähnlichen Politikzyklus geschaffen. Einige Entwicklungsländer, vor allem solche, die keine nationale Nachhaltigkeitsstrategie haben, haben diese Option der Berichterstattung schon mehrfach genutzt.

Für sie bedeutet weltweite Politikzyklus eine zusätzliche Quelle von Legitimation und Sichtbarkeit.

Die bewusste zeitliche Einteilung (Rhythmisierung) von politischen Abläufen sind wir gewohnt. Analyse, Diskussion, Konzept, Maßnahmen, Monitoring, Prüfung oder ähnliche scheinen nur nacheinander sinnvolle politische Handlungspunkte oder Ereignisse zu sein. In vielen Fällen machen das geordnete Nacheinander Sinn, weil es Chaos zu vermeiden erscheint. Gleichwohl ist es kein zwingendes Ordnungsprinzip mehr. Vielmehr gewinnt heutzutage ein Typ strategischen Handelns an Bedeutung, der zumindest ergänzend zu sehen ist, wenn er nicht die Punkt-Fokussierung gänzlich ersetzt: das Plattform-Modell für Nachhaltigkeitsstrategien. Es “organisiert” Strategien nach Reichweite und opportuner Resonanz, Rückkopplung und Gelegenheit, inhaltlicher Attraktivität und real wirksamen Impulsen. Das Plattform-Modell ist antizipativ und initiativ. Statt zu “planen, erlauben, koordinieren” oder durchzusetzen setzt es vielmehr auf Ermöglichen, Ermutigen, Einladen. Statt einem vorgezeichneten Plan zu folgen, reagiert es auf Veränderungen, die es womöglich selbst verursacht hat. Es ist Ausdruck moderner Komplexität aktiver Stakeholder-Beziehungen und nutzt die Schnittstelle von Wissen(schaft) und Politik. Eine agile Strategie mag von niemandem beschlossen sein. Sie nimmt hierfür eine gewissen Flexibilität in Kauf. Vielmehr etabliert sie sich faktisch in der Praxis.

Mit seinen Beiträgen bedient sich der Nachhaltigkeitsrat beider Formen. Die Projekte des Nachhaltigkeitsrates sind weitgehend agil und flexibel aufgestellt, während die politischen Vorschläge auf das lineare Modell der bisherigen Nachhaltigkeitsstrategie abzielen.

 

Die Ding – Unding Ambivalenz

Nachhaltigkeitsstrategien sind immer ambivalent. Sie mischen das, was unerledigt und offen ist, mit dem, was erreicht oder mindestens auf dem Weg gebracht erscheint. Kleine Schritte mischen sie mit großem Zielen. Die individuelle Verantwortung des Einzelnen steht in ihnen im Spannungsverhältnis zur institutionellen Verantwortung, das Handeln Einzelner zum Handeln der Gemeinschaft. Solcherart Ambivalenz gilt in der Politik oft und üblicherweise als schädlich. Der Vorwurf, ambivalent zu sein und sich nicht entscheiden zu können, besiegelt hier häufig das Schicksal von politischen Konzepten. Im herkömmlichen Sinn beansprucht Politik, eindeutig und gradlinig zu sein. Für sie ist Ambivalenz das Ende, nicht als ihr Anfang. Diese Ambivalenzen auszuhalten und sogar mehr noch: produktiv zu nutzen, macht den Kern von Nachhaltigkeitsstrategien aus. Wären sie nicht ambivalent, wären sie nicht ehrlich. Nur die Apokalypse und das Greenwashing sind eindeutig.

“Na, das ist ja mal ein Ding”, ist eine Reaktion auf die Habenseite der Nachhaltigkeitsstrategie. Unzweifelhaft verbucht die Nachhaltigkeitsstrategie Impulse und Wirkungen. Vorrangig zu nennen sind das Ziel-30-ha, die Zielstellung zu 20% Ökolandbau, das Ziel zur Ressourcenproduktivität. Ohne die Nachhaltigkeitsstrategie gäbe es nicht das so ausgeprägte und wichtige Forschungsprogramm FONA. Ohne sie wären Ansätze zur “Zukunftsstadt” undenkbar.

Dagegen gibt es Umstände, die die Umgangssprache als Unding bezeichnet. Von einem Unding ist zu sprechen, wenn selbst eingeübte und bewährte Praxis noch nicht ihren Widerhall als Indikator der nachhaltigen Entwicklung gefunden haben, oder wenn für völlig unbestritten wichtige Aktionsfelder kein Indikator vorliegt, dessen orientierende Wirkung angesichts vielfältig auseinander laufender Initiativen dringlich notwendig ist.

Ein Beispiel gerade für Letzteres ist die Lebensmittelverschwendung. Kein anderer Bereich verzeichnet seit 2015 einen vergleichbaren Aufbruch und Zuwachs von Initiativen und Handlungsansätzen quer durch alle gesellschaftlichen und unternehmerischen Bereiche. Jedoch fehlt hier die Orientierung und übergreifende Messbarkeit, die ein Indikator liefern würde.

Auch nach Jahrzehnten guter BNE-Projekte (BNE ist “Bildung für nachhaltige Entwicklung”) noch immer kein Indikator eingebracht wurde. Der oft hochkochende Dauerkonflikt zwischen Naturschutz und Landwirtschaft könnte durch einen Indikator zur Bodenqualität wenn nicht beigelegt, so doch auf entschärft werden. Auch das ist schon Jahre bekannt. Ein Unding ist auch, dass Forschung und Innovation nach wie vor nur durch monetären Input, statt (auch) mittels eines Wirkungs-Indikators gesteuert werden – ausgerechnet, wo jetzt Innovationen aus Klima- und Ressourcengründen schneller und größer gebraucht werden.

 

Fussnoten

[1] Abschlußbericht der Enquete-Kommission “Schutz des Menschen und der Umwelt – Ziele und Rahmenbedingungen einer nachhaltig zukunftsverträglichen Entwicklung” 26.06.98, http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/112/1311200.pdf

 

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Der Autor

Prof. Dr. Günther Bachmann

    • Generalsekretär des Rates für Nachhaltige Entwicklung, 2001 – 2020
    • Umweltbundesamt 1983-2001
    • Expertise in Nachhaltigkeit, Umwelt, Networking und Nicht-Regierungs-Governance zur nachhaltigen Entwicklung
    • Publizist, Moderator, Redner

Bild: Guenther Bachmann; © Noel Matoff

Weitere Texte auf www.guentherbachmann.de

 

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